Gesellschaft | Identifizierung

Ein soziales, ein freies Wesen

Soziales Handeln kann nicht ursächlich auf das Konzept von „Race“ zurückgeführt werden, belegt eine von der Universität Bozen ausgezeichnete Studie.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Apartheid South Africa
Foto: CC0

„There was no Apartheid in Springbok“, die südafrikanische Schülerin schlägt mit der Hand auf den Tisch, „in Springbok, there was no Apartheid.“ Julia Sonnleitner wundert sich, sie ist sich sicher, dass die Apartheid in ganz Südafrika galt. Mit einem Blick in die einschlägige Literatur vergewissert Sonnleitner sich, doch, die Apartheid herrschte auch in Springbok.

„Die Art und Weise, sich zu erinnern, hängt nicht mit einer bestimmten Kultur oder Race zusammen.“, hat sie inzwischen herausgefunden. Sonnleitner gewann mit ihrer Studie das diesjährige JungakademikerInnen-Forum „Kulturen im Dialog“ unter Leitung von Prof. Annemarie Profanter. Für Ihre Studie interviewte Sonnleitner die born frees in Südafrika, also die Generation, die die Apartheid nicht mehr selbst erlebt hat, deren Eltern aber während der strikten Rassentrennung und Klassifizierung als Coloured, Black oder White aufwuchsen.

 

Auch die Familie der Schülerin wurde während der Apartheid als Coloured klassifiziert, und das Mädchen selbst sieht sich so. Nur: Ihre Beschreibungen von der Apartheid, ihre Begriffe und ihr Vokabular geben keinen einzigen Hinweis auf ihre Herkunft und ihre Selbstwahrnehmung als Coloured. „Wie Menschen sich erinnern oder wie sie sozial handeln, ist immer auch eine Frage, wie sie sich in einer politischen Landschaft verorten wollen“, erklärt Sonnleitner.

In Südafrika bricht die Identifizierung über Race zunehmend auf. Die born free generation kennt die Apartheid als südafrikanische Geschichte, nimmt sie aber nicht zwangsläufig als Teil ihrer Familiengeschichten wahr. Die Jugendlichen schmieden neue Allianzen jenseits von Kategorien wie Race. Sie beziehen sich zum Beispiel auf Religion und Sprache oder definieren sich als soziale Klasse oder Generation. Die interviewte südafrikanische Schülerin identifiziert sich über ihre Sprache Afrikaans. Sie fühlt sich der Gemeinschaft aller afrikaanssprachigen zugehörig, egal ob diese aus als White, Black oder Coloured klassifizierten Familien stammen. So findet die Schülerin für sich einen ganz anderen Platz in der politischen Landschaft Südafrikas als noch ihre Eltern während der Apartheid. Indem das Mädchen behauptet, ihre Eltern hätten die Apartheid in Springbok nicht erlebt, gibt sie ihnen eine Handlungsfähigkeit zurück, mit der sie selbst aufgewachsen ist.

 

„Es ist eine Frage der Entscheidung, wie man sich zur Vergangenheit stellt. In Südafrika wollen die Jugendlichen weg von der Einstellung, dass alle Whites die Vergangenheit so, und alle Blacks die Vergangenheit so sehen“, betont Sonnleitner. Anders als den born frees oft vorgeworfen wird, interessieren sie sich für die Apartheid. Aber sie beziehen sich vor allem auf Quellen, die sie als objektiv empfinden, wie Bücher, Filme oder die Erzählungen von Personen außerhalb der Familie. So entstehen Interpretationen der Apartheid und des Übergangs zu einem demokratischen Südafrika, die von Herkunft oder Zugehörigkeit entkoppelt sind.

 

In Ländern, die einen politischen Wechsel vom Nationalsozialismus zu demokratischen Systemen erlebt haben, sind ähnliche Prozesse der Identifizierung zu finden. Die zweite und dritte Nachkriegsgeneration in Deutschland, Österreich oder Italien definiert sich ganz selbstverständlich eher über gemeinsame Sprachen, Religion oder Weltanschauungen jenseits von Herkunft und Zugehörigkeit. Diese jüngeren Generationen sind aber bereits mit den Konsequenzen ihrer neu gebildeten Allianzen konfrontiert. Jedes noch so integrative Identifizierungsmuster schließt andere Menschen aus. Wenn im österreichischen Kärnten diskutiert wird, nur christliche Flüchtlinge aufzunehmen, bleiben viele andere außen vor. Zäune an europäischen Grenzen umfassen zwar Millionen von Einwohnern, schließen aber vor allem unzählige Menschen aus.

 

„Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber auch ein freies. Menschen sind nicht in ihrer Kultur, in ihrer Religion oder in ihrer Herkunft gefangen.“

Vor diesem Hintergrund schadet der Blick nach Südafrika auf die born free Generation nicht, um einige Erinnerungen aufzufrischen. Julia Sonnleitner betont: „Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber auch ein freies. Menschen sind nicht in ihrer Kultur, in ihrer Religion oder in ihrer Herkunft gefangen.“ Muslime handeln nicht grundsätzlich frauenfeindlich, Deutsche denken nicht zwangsläufig tolerant. Vielmehr geht es darum, das Handeln von Menschen auch auf ihr Entscheidungsvermögen zu beziehen, wie Sonnleitners Studie belegt, nicht nur auf ihre soziale, kulturelle oder geographische Herkunft.

 

Julia Sonnleitners Dissertation wurde mit dem Preis des JungakademikerInnen-Forums „Kulturen im Dialog“ unter Leitung von Prof. Annemarie Profanter an der Universität Bozen am 03. März 2017 ausgezeichnet.

 

Die Begriffe „Race“, „Coloured“, „Black“, „White“ wurden aus der Studie „Erinnerung aus zweiter Hand. Die born-free Generation in Südafrika und ihre Interpretation der Apartheid und des demokratischen Übergangs“ von Julia Sonnleitner übernommen. Laut Studie stammen die Begriffe aus dem Forschungsfeld.