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Das andere Geschlecht

Die Ethikerin Esther Redolfi Widmann hat sich mit Simone de Beauvoir und mit dem französischen Existentialismus beschäftigt. Ein Gespräch zu ihrer aktuellen Vortragsreihe
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Foto: Salto.bz

Salto.bz: Sie haben Simone de Beauvoirs existentialistische Konzeption der Frau als Spannungsverhältnis von Freiheit und Situationsgebundenheit im Paradewerk "Das andere Geschlecht" untersucht. Was macht das Buch sieben Jahrzehnte nach Ersterscheinung noch aktuell?

Esther Redolfi Widmann: Ich denke, dass sich seit 1949, also dem Erscheinungsdatum von Das andere Geschlecht, die Situation von Frauen in zahlreichen Aspekten nicht maßgeblich verändert hat. Mir war wichtig aufzuzeigen, dass wir Frauen uns nach wie vor in einem Spannungsverhältnis zwischen den Möglichkeiten, die uns heute vermeintlich geboten werden, und sämtlichen gesellschaftlichen Hindernissen, die es uns nicht ermöglichen, bestimmte Ziele zu erreichen, befinden. Ein Beispiel hierfür ist ein Thema, welches Beauvoir theoretisch in ihrem Essay beleuchtet und später in ihrer Erzählung Die Welt der schönen Bilder Ausdruck verleiht. Darin schildert sie das Leben „moderner Frauen“, die sich in der Gespanntheit von Haushalt, Kindererziehung, Beziehungen und Beruf und das angebliche Glück, welches man sich von Karriere, Selbstverwirklichung und Wohlstand erwartet, befinden. Mein Lösungsvorschlag ist, „ohne das Rad neu erfinden zu müssen“, sich dieses Zustandes bewusst zu werden – und auch hierfür möchte ich mit meiner Forschungsarbeit beitragen  um, wie man so schön sagt, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen!

Simone de Beauvoir und zahlreichen anderen mutigen Frauen haben wir es zu verdanken, dass wir heute Grundrechte, die wir fast gedankenlos als selbstverständlich hinnehmen, geltend machen können. 

Wie oft haben sie das Buch gelesen? Warum sind Sie nicht mehr von ihm losgekommen?

Ich habe es bislang zweimal in die Hand genommen. Ein erstes Mal mit ungefähr 30 Jahren. Damals waren mir aber bestimmte Themen sehr fremd, dennoch hat es als eine Art „Reiseführer“ gedient. Ich konnte sozusagen von den Erfahrungen profitieren, da Beauvoir in Das andere Geschlecht die konkrete Situation der Frau von der Kindheit zum Alter untersucht.
Als ich das Buch ein zweites Mal in die Hand genommen habe da habe ich es nicht mehr losgelassen! Was mir letzthin auffällt ist, wie nützlich das enthaltene Wissen für eine Interpretation meiner Vergangenheit ist. Zudem erlaubt es mir Frauen, die sich für einen anderen Weg als den meinen entschieden haben, besser zu verstehen.          

 

Sie wurden für Ihre Philosophie-Dissertation mit dem Förderpreise für Forschungsarbeiten ausgezeichnet. Mit dem ersten Platz. Philosophie scheint wieder zu boomen. Wie steht es um Ihr Berufsbild?

Das hängt stark davon ab, was wir unter einem Philosophen bzw. einer Philosophin verstehen. Ich für meinen Teil habe mich für die praktische Philosophie, also für die Ethik entschieden. Und dies aus dem einfachen Grund, weil ich davon überzeugt bin, dass – wie es Goethe so treffend formuliert hat: Es ist nicht genug, zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muß auch tun. Auch deshalb fühle ich mich außerhalb des Elfenbeinturmes – indem ich zugegeben, nie gelebt habe – sehr wohl. Es ist mir immer wieder eine Freude, im Rahmen von Erwachsenenbildung, Workshops oder aber in Philosophischen Cafés, mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten. Ich bin davon überzeugt, dass die Möglichkeiten als Philosophin einen vernünftigen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten zahlreich sind. Ernüchternd ist leider der finanzielle Aspekt, denn ein Brotberuf ist – und da komme ich wieder auf Goethe bzw. auf Goethes Vater, der ihm zu einem Brotberuf riet, zurück – nicht wegzudenken.

Wer nicht fragt Wieso? Weshalb? Warum? Bleibt dumm.

Themen wie „Befreiung der Frau“ oder die „Neubewertung aller gesellschaftlicher Strukturen“ sind nach wie vor aktuell. Wie weitet sich der Blick in die Vergangenheit aus der Jetztzeit betrachtet?

Ich glaube Beauvoir war eine Frau im Konflikt zwischen patriarchaler Realität und beginnender weiblicher Freiheit und dass wir bzw. dass sich die Generation nach uns in einer ähnlichen Übergangsphase befinden. Simone de Beauvoir und zahlreichen anderen mutigen Frauen haben wir es zu verdanken, dass wir heute Grundrechte, die wir fast gedankenlos als selbstverständlich hinnehmen, geltend machen können. Dieser Blick in die Vergangenheit könnte dabei dienen, mit hart erkämpften Rechten nicht nachlässig umzugehen, denn wir laufen ernste Gefahr, diese Stück für Stück zu verlieren: auf dem Spiel steht nämlich die Freiheit über unseren Körper, unser Leben und unsere Zukunft.

 

Welche feministischen Bewegungen und Strömungen finden sich in Ihrer Arbeit wieder?

"Keine bestimmte und alle" in diesem Fall zitiere ich Alice Schwarzer, weil ich finde, dass es ihr gelungen ist, Beauvoirs Feminismus in wenigen und einfachen Worten wiederzugeben, und zwar sind es „die uneingeschränkt gleichen Chancen, Rechte und Pflichten für Frauen wie Männer; sowie die Infragestellung des herrschenden männlichen Prinzips – zugunsten einer menschlichen Utopie.“
Persönlich sieht meine Auffassung von Feminismus vor, dass sich alle als Menschen begreifen, als Menschen respektieren, und trotz Differenzen, diese nicht für Machtzwecke instrumentalisieren, sondern als ebenso notwendige wie bereichernde Nuancen unseres Menschseins akzeptieren.

Ich vertraue dem Hausverstand und bin davon überzeugt, dass er das Wertvollste ist, worüber wir verfügen.

Ein philosophische Frage – die Sie auch im Rahmen ihrer Vortragsreihe behandeln werden: Werden wir immer älter oder sind wir nur länger krank?

Ich denke, dass uns die Medizinforschung zahlreiche Errungenschaften beschert hat. In der Tat scheint es, als würden wir heute in der Lage sein, tödliche Krankheiten, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch als auswegloses Schicksal empfunden wurden, mit modernen Mittel bekämpfen oder gar besiegen zu können. Was mich zum Nachdenken anregt ist, dass die Medizintechnik Patienten, Ärzten aber auch Familienangehörigen eine noch nie da gewesene Verantwortung aufbürdet. Die Kunst besteht meiner Meinung nach darin, uns dieser Verantwortung bewusst zu werden um darauf zu hoffen, irgendwann und unter den gegebenen Umständen damit umgehen zu können. Die Frage die nach wie vor bleibt war, ist und wird immer dieselbe sein: Welcher Spielraum uns Menschen zwischen Determinismus – „Das Schicksal nahm seinen Lauf“  und Selbstbestimmung – „Sein Schicksal in die Hand nehmen“  bleibt?

Künstliche Intelligenz oder Hausverstand? In welche Richtung bewegt sich die Menschheit? Erwartet uns in der Zukunft künstliche Philosophie?

Ich vertraue dem Hausverstand und bin davon überzeugt, dass er das Wertvollste ist, worüber wir verfügen. Ob dieser ganz oder teilweise angeboren und/oder gesellschaftlich bedingt ist, ist eine andere Frage. Obschon sich die Menschheit nicht immer in eine Richtung bewegt, mit der ich als Denkerin einverstanden bin, plädiere ich immer dafür, das Denken sozusagen nicht „outzusourcen“ und uns immer wieder an das Lied aus der Serie Sesamstraße zu erinnern: Wer nicht fragt Wieso? Weshalb? Warum? Bleibt dumm.

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Peter Gasser Do., 16.05.2019 - 18:16

Man eckt in unserer Gesellschaft perfekt genormter Konservendosen halt ständig an mit diesen Fragen „Wieso? Weshalb? Warum?“
Bleibt dumm.

Do., 16.05.2019 - 18:16 Permalink