Politik | Affäre

Falschbeurkundung & Vorteilsannahme

Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Vincenzo Gullotta abgeschlossen. Die Vorwürfe gegen den Schulamtsleiter, einen Direktor und einen Lehrer wiegen schwer.
Vincenzo Gullotta
Foto: Facebook/Gullotta
Vincenzo Gullotta schien sich seiner Sache sicher.
Der höchste Schulbeamte des Landes schrieb in einer Presseaussendung am 19. Juni 2020:
 
„Ho dato disposizioni ai miei legali di denunciare alle autorità competenti coloro che mi hanno diffamato e anche la scuola sta procedendo con azioni legali. Non va dimenticato che in questa occasione è stato violato il segreto d’ufficio e sono stati divulgati dati sensibili relativi ad un minore.“
 
Vincenzo Gullotta hat diese Ankündigung auch wahrgemacht. Fast genau ein Jahr später reichen er und seine Partnerin am Bozner Landesgericht eine Zivilklage gegen die Journalistin des „Corriere dell’Alto Adige“ Chiara Currò Dossi und die römische Tageszeitung „Il fatto quotidiano“ ein. Vertreten von Rechtsanwalt Giancarlo Massari, der seit Jahrzehnten zufällig auch der Vertrauensanwalt eines direkten Medienkonkurrenten - der Tageszeitung „Alto Adige“ - ist, verlangt man darin einen Schadenersatz von 50.000 Euro. Die Erstverhandlung soll am 7. Juli 2022 am Bozner Landesgericht stattfinden.
Die Klage könnte aber zu einem Bumerang werden. Denn Vincenzo Gullottas Unschuldsbekundungen und sein Schlüpfen in die Opferrolle werden jetzt amtlich und von höchster Stelle widerlegt.
Seit fast 18 Monaten ermittelt die Bozner Staatsanwaltschaft rund um die Affäre Gullotta. Es geht dabei um die zentrale Frage, ob der italienische Schulamtsleiter über den Direktor einer Bozner Mittelschule zwei Lehrer rechtswidrig unter Druck gesetzt hat, damit diese nachträglich die Noten seines Sohnes nach oben korrigieren.
Der ermittelnde Staatsanwalt Andrea Sacchetti hat inzwischen den Betroffenen die Benachrichtigung über den Abschluss der Vorermittlungen zugestellt. Dem Südtiroler Hauptschulamtsleiter (sovrintendente) Vincenzo Gullotta, dem Direktor der Bozner Mittelschule „Ugo Foscolo“, Franco Lever und dem Lehrer Francesco Migliaccio werden Falschbeurkundung im Amt (Art 479 StGB - Falsità ideologica commessa dal pubblico ufficiale in atti pubblici) und Anstiftung zur Vorteilsannahme (Art 319 quater StGB - Induzione indebita a dare o promettere utilità) angelastet.
Nach Informationen von Salto.bz sind die Vorwürfe und die Beweise, die die Ermittler dabei zusammengetragen haben, für die Betroffenen sehr belastend.
 

Der Geistesblitz des Professors

 
Es ist eine unglaubliche Geschichte, die vom Corriere dell´ Alto Adige ausgegraben wurde und über die auch Salto.bz ausführlich berichtet hat.
Ein Sohn des Haupschulamtsleiters Vincenzo Gullotta besucht 2020 die zweite Klasse der Mittelschule „Ugo Foscolo“. Wie an allen übrigen Schulen finden auch dort in der zweiten Juniwoche  die Notenkonferenzen statt.
Doch am 12. Juni 2020 passiert etwas Unvorhergesehenes. Es ist der letzte Schultag, die Zeugnisse sind längst ausgestellt. Am Nachmittag dieses Tages treffen sich die Professoren der Klasse 2F aber zu einer außerordentlichen Notenkonferenz. Die bereits abgeschlossene Bewertungssitzung wird neu eröffnet und das Ergebnis korrigiert. In einer Diskussion, die keine Stunde dauert, werden die Noten eines einzigen Schülers in zwei Fächern angehoben.
Es handelt sich um den Sohn des Schulamtsleiters Vincenzo Gullotta. Korrigiert werden die Note im Fach Technik von 6 auf 8 und die Note im Fach Musik von 7 auf 8. Der Grund dafür: Es sei bei der Errechnung des Notendurchschnittes zu formalen Fehlern gekommen.
 
 
 
Nach der offiziellen Version war es der Architekt und Technikprofessor Francesco Migliaccio, dem zuhause beim Essen mit seiner Frau - so stellt es Migliaccio anfänglich auch bei den Anhörungen vor der Gerichtspolizei dar - plötzlich aufgefallen war, dass er bei der Errechnung der Note einen Fehler gemacht habe. Migliaccio schickt sofort per Mail eine schriftliche Stellungnahme an den Direktor Franco Lever. Einen ähnlichen Bewertungsfehler habe es dann auch im Fach Musik gegeben.
Direktor Lever beruft noch am selben Nachmittag eine neue Notenkonferenz ein, und die beiden Noten des Gullotta-Sohnes werden korrigiert. Das Problem dabei: Auch an den italienischen Mittelschulen gibt es das digitale Klassenregister. Damit aber ist es nicht der Professor, der am Ende den Notendurchschnitt errechnet, sondern der Computer. Und dieser macht keine Fehler. Im Fall des Gullotta-Sprösslings betrug der Notdurchschnitt im Fach Technik 6,17 und im Fach Musik 7.
Vor allem aber weigert sich Musikprofessor Michele Di Mauro auf der außerordentlichen Sitzung, seine Bewertung zu korrigieren. Trotz offenen Drucks der Schulverantwortlichen. Di Mauro wird schließlich von der Mehrheit im Klassenrat kurzerhand überstimmt. So wird auch die Musiknote des Gullotta-Sohnes angehoben.
 

Anfragen & Ausreden

 
Die Geschichte bleibt aber nicht im Klassenzimmer. Drei Tage nach dieser Sitzung reicht der PD-Abgeordnete Sandro Repetto im Landtag eine Anfrage zu diesem Vorfall ein. Dort wird die Geschichte durch ein pikantes Detail angereichert. Es habe am Vormittag des 12. Juni 2020 ein Telefongespräch zwischen Vincenzo Gullotta und Franco Lever gegeben. Der Schulamtsleiter, hierarchisch der höchste Verantwortliche für die Südtiroler Schule, habe sich dabei beim Direktor über die beiden Noten seines Sohnes beschwert.
 
 
 
Genau diese Darstellung veröffentlicht am 16. Juni 2020 der Corriere. Redakteurin Chiara Currò Dossi fragt dabei auch beim Direktor der Schule Franco Lever nach. „Ich bestreite einen solchen Anruf“, wird Lever im Corriere zitiert. Nach Erscheinen des Artikels gibt auch Vincenzo Gullotta eine kurze schriftliche Erklärung ab. Darin heißt es wörtlich: „Dass der Artikel völlig haltlos ist, nicht der Wahrheit entspricht und auf Fakten beruht, die es nie gegeben hat“.
Am nächsten Tag veröffentlicht Salto.bz dann aber einen Auszug aus dem offiziellen Protokoll der außerordentlichen Notenkonferenz. Laut Protokoll habe es einen Anruf der „Familie Gullotta“ beim Direktor gegeben. Erst danach habe einer der Professoren, dessen Note beanstandet wurde, eine schriftliche Stellungnahme bei Direktor Franco Lever abgeliefert.
Es folgen eine weitere Landtagsanfrage des grünen Landtagsabgeordneten Riccardo Dello Sbarba und in den Tagen danach offene Rücktrittsforderungen an Vincenzo Gullotta.
 
 
 
Eine Woche nach dem Vorfall meldet sich der Schulamtsleiter dann selbst mit einer schriflichen Stellungnahme zu Wort. Vincenzo Gullottas Version: Er habe am Morgen des 12. Juni mit Direktor Franco Lever ein Dienstgespräch geführt, bei dem es um andere Dinge gegangen sei. Während des Gesprächs habe er die gerade veröffentlichten Noten seines Sohnes gesehen und daraufhin angemerkt, dass da etwas nicht stimmen könne.
Die Schule sei dann ohne sein Zutun tätig geworden. Gullotta bestreitet vehement, den Direktor unter Druck gesetzt zu haben. Zudem kündigt er in der Stellungnahme die eingangs erwähnten Klagen an.
 

Eine Drohung?

 
Nach dem Erscheinen einer Reihe von Artikeln nimmt die Bozner Staatsanwaltschaft von Amts wegen Vorermittlungen zum Fall auf. Dabei hört man den Großteil der beteiligten Personen an, wertet die Noten neu aus und analysiert alle öffentlichen und nicht-öffentlichen Dokumente.
In der Strafakte 489/2021 sind die Ergebnisse dieser fast einjährigen Ermittlungsarbeit zusammenfasst. Die Schlussfolgerungen, zu denen Staatsanwalt Andrea Sacchetti kommt, sind für Vincenzo Gullotta, Franco Lever und Francesco Migliaccio verheerend.
Denn die Ermittlungen bestätigten nicht nur alle Details der veröffentlichten Artikel und Pressemeldungen, sie zeichnen auch nach, wie man bis zuletzt versucht hat, den Skandal zu vertuschen. Die Affäre ist auch ein Musterbeispiel dafür, welches Amtsverständnis höchste Funktionäre der öffentlichen Verwaltung haben und wie die verantwortliche Landespolitik in diesen Fällen versucht, die Probleme im Schnelldurchlauf aus der Welt zu schaffen.
 
 
Nach Informationen von Salto.bz sind Franco Lever und Francesco Migliaccio bei ihren Anhörungen vor der Gerichtspolizei anfänglich bei ihrer Version geblieben. So erklärte der Meraner Lehrer, dass er von sich aus tätig geworden sei und es vorab keinen Anruf bei ihm gegeben habe. Dieses Lügengebäude bricht aber zusammen, als die Ermittler die Telefondaten auswerten. Dabei stellt sich heraus, dass sich Direktor Franco Lever unmittelbar nach dem Telefongespräch bei Migliaccio gemeldet hat und dieser erst danach einen Geistesblitz hatte und dann die E-Mail schrieb, die angeblich die Notenkorrektur auslöste.
Die Ermittler können aber auch die angeblichen technischen Fehler widerlegen. Ausschlaggebend soll eine Aufgabe gewesen sein, die der Schüler nicht gemacht hatte, wofür er dann eine 5 kassierte. Francesco Migliaccio hat diese Bewertung im Nachhinein als Fehler ausgemacht und damit die Anhebung der Note gerechtfertigt.
Das Problem dabei: Fünf Mitschüler und Mitschülerinnen waren bzw. sind in genau derselben Situation. Stimmt diese Ausrede, so hätte auch für sie dieselbe Notenkorrektur gelten müssen. Doch angehoben wurde nur die Note des Sohnes des Schulamtsleiters. Über die anderen Fälle hat man nie gesprochen.
Die Staatsanwaltschaft geht sogar davon aus, dass Vincenzo Gullotta gegenüber dem Schuldirektor Franco Lever die Entsendung von Inspektoren in den Raum gestellt habe, um die Neubewertung zu erreichen.
Die Ermittlungen haben die Intervention des höchsten Südtiroler Schulbeamten in allen Facetten bestätigt. Die Staatsanwaltschaft geht sogar davon aus, dass Vincenzo Gullotta gegenüber dem Schuldirektor Franco Lever die Entsendung von Inspektoren in den Raum gestellt habe, um die Neubewertung zu erreichen.
Vor diesem Hintergrund wird die Staatsanwaltschaft gegen die drei Beschuldigten Schulfunktionäre die Anklageerhebung und die Einleitung eines Hauptverfahrens fordern.
 

Interner Freispruch

 
In einem möglichen Hauptverfahren wird dann auch ein Nebenschauplatz zur Sprache kommen, der vor allem für die Politik blamabel ist.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe hat der italienische Bildungslandesrat Giuliano Vettorato eine Untersuchung der Vorgänge angekündigt. Landeshauptmann Arno Kompatscher beauftragte den Generaldirektor der Landesverwaltung Alexander Steiner mit der verwaltungsinternen Aufarbeitung der Affäre.
 
 
 
Zwei Monate lang sammeln Steiners Ämter Dokumente und Stellungnahmen. Am 20. August 2020 liegt das Ergebnis der Untersuchung vor. Es ist ein voller Freispruch für Vincenzo Gullotta. Das Resümee der Generaldirektion: Der Schulamtsleiter habe nichts mit dem ihm vorgeworfenen Machenschaften zu tun, Gullotta habe sich nichts zu Schulden kommen lassen und die in den Medien dargestellten Vorgänge habe es nie gegeben. Deshalb werden auch keine disziplinarrechtlichen Maßnahmen gegen Gullotta und die anderen beteiligten Beamten eingeleitet.
Die Staatsanwaltschaft hat auch diesen Abschlussbericht und die Unterlagen dazu beschlagnahmen lassen. Die darin enthaltenen Falschaussagen dürften die Position der öffentlichen Beamten noch einmal erschweren.
Gleichzeitig muss man sich aber auch fragen, wohin die Spitze der Landesverwaltung und die zuständigen Politiker geschaut haben. War das Zudecken der Affäre wichtiger als deren Aufklärung?
Gleichzeitig muss man sich aber auch fragen, wohin die Spitze der Landesverwaltung und die zuständigen Politiker bei ihrer internen Untersuchung der Vorgänge geschaut haben. War das Zudecken der Affäre wichtiger als deren Aufklärung?
Schullandesart Giuliano Vettorato erklärte nach der Archivierung der landesinternenen Untersuchung:
 
“Confermo la mia piena fiducia nei confronti di Vincenzo Gullotta, persona competente e preparata, con il quale abbiamo instaurato un ottimo rapporto professionale e umano. Insieme a Gullotta, continueremo a lavorare, ogni giorno, per raggiungere il grande obiettivo che abbiamo davanti a noi.”
 
Man darf gespannt sein, was Vettorato sagen wird, sollte Anklage gegen Vincenzo Gullotta erhoben werden.
 
 
 
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Robert Hölzl Di., 17.05.2022 - 18:28

"Denn Vincenzo Gullottas Unschuldsbekundungen und sein Schlüpfen in die Opferrolle werden jetzt amtlich und von höchster Stelle widerlegt."
Eigenartige Interpretation. Die Entscheidung trifft das Gericht; bis dahin ist es eine Meinung des Staatsanwaltes (und des Autors). Aber der Grundsatz, dass jemand unschuldig ist, bis er nicht verurteilt ist, wurde ja schon vor langer Zeit aus dem Fenster geworfen. Eigentlich sollte nach Darlegung der Fakten dem Leser das Urteil überlassen werden, aber es ist sicher einfacher, wenn der Autor dies dem Leser abnimmt.

Di., 17.05.2022 - 18:28 Permalink