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Optionspropaganda und die Akte Dorfmann

Teil 2 der Artikelserie zur neuen Ausstellung "Großdeutschland ruft!". Sie kann bis 22. November auf Schloss Tirol besichtigt werden kann.
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Foto: Schloss Tirol

„Heim ins Reich!“

Der Entscheid für oder gegen eine Deutschland‑Option war in allerkürzester Zeit zu treffen. Die seit Ende Juni 1939 unter Vorsitz Himmlers in Berlin geführten deutsch‑italienischen Umsiedlungsvereinbarungen wurden als „Richtlinien für die Rückwanderung der Reichsdeutschen und Abwanderung der Volksdeutschen aus dem Alto Adige in das Deutsche Reich“ am 22. Oktober 1939 in der örtlichen Presse bekannt gemacht und das Ende der Abstimmungsfrist mit 31. Dezember 1939 festgelegt. Die so knapp angesetzten Termine verschärften nur noch die Dramatik einer ohnehin die gesamte Existenz berührenden „Wahl“, deren Zwangscharakter unverkennbar war. Der physische Transfer der Umsiedlungswilligen sollte während und nach der komplexen Abklärung aller vermögensrechtlichen Aspekte in den Jahren 1940/41 erfolgen und bis längstens Ende 1942 abgeschlossen sein. Die Exponenten des VKS hatten sich noch im April 1939, als erste Umsiedlungsgerüchte in Umlauf geraten waren, gegen solche Planungen gegenüber der „Volksdeutschen Mittelstelle“ schriftlich verwehrt und sich auf die „unzertrennliche Einheit von Blut und Boden“ und damit auf einen der Leitsätze nationalsozialistischer Weltanschauung berufen. Nach kurzer Schockstarre und angesichts der Entschlossenheit der deutschen Reichsführung hatten die völkischen Kreise noch im Juli einen raschen Schwenk vollzogen und sich vollständig in den Dienst der Optionslösung gestellt; es ging dem VKS nun darum, den Südtiroler „Volkskörper“ zu einem überwältigenden prodeutschen Entscheid zu veranlassen, Teil der vom NS‑Staat propagandistisch ausgerufenen „großzügigsten Umsiedlungsaktion der Weltgeschichte“ zu werden und die nationalsozialistische Führung mit ethnopolitischer Geschlossenheit zu beeindrucken. Der Zeitzeuge Friedl Volgger, einer der Begründer des widerständigen Andreas-Hofer-Bundes, der aufgrund seiner Haltung im März 1944 in das KZ Dachau deportiert wurde, hinterließ in seinen 1984 veröffentlichten Memoiren ein eindrückliches Stimmungsbild: „[…] wer nicht zum Führer ins Reich heimkehren wollte, der wurde bald als Verräter gebrandmarkt. Der VKS verfügte im Lande über eine festgefügte Organisation, von der man festen Gebrauch machte, als im Oktober die Propagandalawine für das ‚Heim ins Reich’ losbrach. […] Die Werbung für die Option wurde im besten Stil des Reichs‑Propagandaministers Dr. Joseph Goebbels geführt.“
Volgger hat damit im späten Rückblick eine relativ präzise Lagebeschreibung abgegeben. In den Schlussmonaten des Jahres 1939 brach sich eine nicht zu steigernde Dramatik Bahn, die zweifellos eine Südtiroler Epochenzäsur markiert. Auch die jahrzehntelang verzögerte erinnerungskulturelle Thematisierung des Optionsdramas in der Südtiroler Nachkriegsgesellschaft belegt dies nachdrücklich. Der deutsch- und ladinischsprachigen Diskursgemeinschaft fiel es ungemein schwer, die eigenen Verstrickungen in „Führer“‑Glauben und NS‑Sympathie anzuerkennen – sie bevorzugte kollektives Schweigen und insistierte auf der Opferthese, ehe in mühsamen Debatten, insbesondere dank der bahnbrechenden Bozener Ausstellung „Option – Heimat – Opzioni“ von 1989, die eigene Mitverantwortung zur Sprache gebracht wurde. Volggers konzise Momentaufnahme enthält aber auch den treffenden Hinweis auf die zentrale Institution der NS‑Propaganda, das von Goebbels geführte Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Nirgendwo waren die Sektoren Propaganda, Politik und Krieg enger verflochten und zusammengedacht als in dieser Reichsbehörde mit ihrem monumentalen Apparat und ihren vielfältigen Kompetenzen.

 

Die Südtiroler Bildentwürfe, die im Folgenden zu präsentieren sind, waren für das Propagandaministerium, vermutlich wohl zur Vorlage, bestimmt, wie die fast durchgängigen Rückvermerke der Zeichnungen mit den Siglen RMVP oder auch RMVuP belegen. Als Material der „geistigen Mobilmachung“ – so die dem Ministerium offiziell zugewiesene Kernaufgabe – waren die Bilder, hätten sie je in Umlauf oder doch in konkrete Verwendungszusammenhänge gebracht werden sollen, genehmigungspflichtig. Vor allem aber waren sie Teil eines gesamteuropäischen Gewaltzusammenhangs, der mit den im Kontext des Krieges anlaufenden „Umvolkungen“, als Bevölkerungstransfers unter Zwang, gegeben war.
Der Konnex der Südtiroler Option mit der radikal‑rassistischen Bevölkerungspolitik im Rahmen des „Generalplans Ost“ ist bisher noch zu wenig erkannt und herausgearbeitet worden. Eine Bewertung der regionalen Vorgänge kann nicht davon absehen, auch die Südtiroler Migrationen von 1940/41 als Teil der rassenpolitischen Neuordnungsplanungen der NS‑Eliten zu sehen. Dies hieße aber auch anzuerkennen, dass sich das Optionsgeschehen nicht auf ein, wenn auch bestimmendes, Ereignis der Geschichte Südtirols reduzieren lässt, sondern dass es vielmehr implizit mit dem Vertreibungs‑ und Vernichtungsgeschehen verknüpft war, als dessen Subjekte wie Profiteure auch die umzusiedelnden Südtiroler „Volksdeutschen“ vorgesehen waren. Die Südtiroler Umsiedlung war auf diese Weise bevölkerungspolitischen Ordnungsvorstellungen unterworfen, die unverkennbar im Aufbau des nationalsozialistischen Rassenstaates zu verorten sind und damit in einen gewalttätigen Kontext biopolitischer Homogenisierung eingeordnet waren.
Aber wie lassen sich solche Zusammenhänge konkretisieren? Auf diese Frage bietet eine beschreibende und erklärende Einordnung der Südtiroler Bildentwürfe zur Option einige Antworten. 

Material und Provenienz

Im Jahr 2019 konnte das Südtiroler Landesmuseum für Kultur‑ und Landesgeschichte auf Schloss Tirol in zwei Tranchen bislang völlig unbekanntes, originales Propagandamaterial aus dem Kontext der Südtiroler Option antiquarisch erwerben. Es handelt sich um insgesamt 12 einzelne Blätter, die allesamt in Mischtechnik, großteils mehrfarbig ausgeführte Bildentwürfe darstellen. Ihre Motive sind eindeutig: Die sehr konventionell gehaltenen, wiewohl pathetisch aufgeladenen Szenen zeigen vorwiegend Männer, Frauen und Kinder, zumeist in Südtiroler Tracht, die vor dem Hintergrund heimatlicher Bergkulissen (Schlern und Rosengarten‑ gruppe) eine skurrile Abschiedszeremonie vollführen und mit dem deutschen Gruß, der erhobenen rechten Hand, zugleich die „deutsche Treue“ beschwören. Immer wieder ist die wehende Hakenkreuzfahne vertreten, zweimal freilich in spiegelverkehrter Abbildung. Die ganz unzweideutig nationalsozialistischen Darstellungen illustrieren förmlich eine gewisse Lyrik ihrer Zeit, namentlich das apologetische Gedicht Aufbruch des Südtiroler Autors Karl Felderer (1895–1989), das die Metaphorik der blutroten Geranie („brennende Lieb“) mit der Abwanderungsbereitschaft assoziierte:
„So reißet vom sonnigen Erker / Die letzte brennende Lieb; / Die Treue zu Deutschland war stärker, / Das Heiligste, was uns blieb. / Wir nehmen sie mit im Herzen, / Für and‘re dereinst Symbol, / Sie stille des Heimweh’s Schmerzen: / Leb wohl, du mein Südtirol.“
Felderer, bekannt vor allem als Verfasser des populären Bozner Bergsteigerlieds („Wohl ist die Welt so groß und weit…“) von 1926, hatte bereits 1938 den „Anschluss“ Österreichs mit Inbrunst lyrisch verklärt. Sein Gedicht März 1938 kulminierte in den religiös eingefärbten Schlusszeilen:
„Bald läuten die Glocken das Osterfest ein, / Und Auferstehung wird wieder sein. / Dann schauen wir dankbar zum Herrgott auf, / Verzagen nicht und bauen darauf, / Die Frauen, die Kinder, die Männer, / Denn heute steht Deutschland am Brenner.“
Noch 1986 steuerte Felderer ein „Geleitwort“ zu den Memoiren des ehemaligen Südtiroler SS‑Mitglieds Willy Acherer bei. Dem Optionsgedicht Felderers lässt sich weitere Tendenzliteratur von Südtiroler Zeitgenossen wie Erich Kofler, Hubert Mumelter, Carl Zangerle und Franz Sylvester Weber an die Seite stellen. Diese hatten 1940 im Eigenverlag einen Gedichtband unter dem sinnfälligen Titel Opfergang und Bekenntnis herausgebracht, in dem neben einschlägiger „Blut‑und‑Boden“‑Lyrik auch eine Art Chronik der Ereignisse enthalten ist, die das dichte Geschehen vom 29. Juni 1939 („Tag des Schicksals“) bis zum 1. Januar 1940 („Das Volk ist gerettet“) aus der Sicht des VKS im Licht des plebiszitären Optionsentscheids verklärt. Der annalistische Durchlauf legt alle Motivlagen offen, die die VKS-Akteure als eine „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) sozialpsychologisch bestimmten. Da ist die Rede von der „Botschaft des Reiches im Angesicht des uralten Feindes“ (d. h. Italiens), von den „Waffen eines zwanzigjährigen Volkstumskampfes“, von „völkischer Verpflichtung“ zur Abwanderung in das Deutsche Reich, von der „Stimme des deutschen Blutes“, vom „schwersten Opfer eines ewigen Heimwehs“ und von einer „Rettung“ durch „Pflichterfüllung“ – die „Vorsehung“ habe dank des überwältigenden Optionsentscheids das „stolze und wunderbare Volk von Südtirol einer deutschen Zukunft erhalten“. Gerade die Berufung auf eine „Vorsehung“ war eine beliebte Vokabel des NS‑Jargons, der damit die durch und durch voluntaristische Grundhaltung nationalsozialistischer Politik mit dem Verweis auf Prädestination, auf eine vorab bestimmte Stoß‑ und Entwicklungsrichtung, zu legitimieren trachtete. Die messianische Kategorie der Vorherbestimmung diente im Optionskontext deutlich erkennbar dazu, die offenkundige Aporie und Irrationalität einer Bewahrung durch Abwanderung, eines Erhalts durch Aufgabe, zu überwinden. Sie gewährleistete den Akteuren die gestaffelte Teilhabe an einem sakralen Diskurs völkischer Totalität und entlastete sie psychisch vor dem paradoxen Hintergrund des kollektiven Heimatverzichts, den die Umsiedlung letztlich bedeutete.


Exakt dieselbe Motivik bricht sich im Propagandamaterial des VKS Bahn. Die Prädestinationslehre des Nationalsozialismus hätte besser nicht illustriert werden können als in den werbenden Entwürfen, die zur Südtiroler Option für Deutschland aufrufen. Die lineare Provenienz des in der bisherigen Optionsliteratur völlig unbekannten Materials gibt keinerlei Anlass, an dessen Authentizität zu zweifeln. Die Skizzen wurden 2019 aus dem spät gesichteten, aber ohne Unterbrechungen in Familienbesitz befindlichen Nachlass eines 1944 an seinen Kriegsverletzungen verstorbenen Südtiroler SS‑Mitglieds über den örtlichen Antiquariatshandel an das Landesmuseum Schloss Tirol veräußert. Aufgrund des Nachlasscharakters sind die Zeichnungen demnach als zeitgeschichtliches Archivgut zu betrachten. Bei dem Urheber des Nachlasses handelt es sich um Josef Dorfmann; fast alle Entwürfe sind rückseitig mit seinem Namen versehen, wobei man nur vermuten kann, dass die mit schwarzer Tinte ausgeführten Annotationen eigenhändig vorgenommen worden sind. 

Josef Dorfmann (1921–1944)

Wer war SS-Obersturmbannführer Josef Dorfmann? Zu seinen Lebensdaten liegen verwertbare Informationen im Optionsbestand des Staatsarchivs Bozen, in den Akten der Dienststelle Umsiedlung Südtirol (DUS) des Tiroler Landesarchivs in Innsbruck sowie in der Zentralen Personenkartei der Deutschen Dienststelle (WASt) des Bundesarchivs in Berlin vor – sowohl die italienischen wie die deutschen Dienststellen zeichneten sich durch einen aufgeblähten bürokratischen Verwaltungsapparat aus, dessen Schriftgut in breiter Streuung überliefert ist. Nach den vorliegenden Akten wurde Dorfmann am 7. April 1921 in Neustift bei Brixen (heutige Gemeinde Vahrn) geboren. Seine Eltern waren der gleichnamige Josef Dorfmann und Kreszenz geb. Huber; als Wohnadresse wird „Neustift Nr. 35“ angegeben, des Weiteren sind als „Beruf: Student“, als „Glaubensbekenntnis: katholisch“ und als „Volkszugehörigkeit: deutsch“ festgehalten. Über Dorfmanns Schulzeit sind keinerlei Angaben zu eruieren (wobei die Vermutung nahe liegt, dass er die nahegelegene Neustifter Stiftsschule besucht hat), sein Lebensweg gewinnt aber mit dem am 7. Dezember 1939 von ihm unterzeichneten Antrag auf „Genehmigung zur Abwanderung ins Deutsche Reich“ deutlichere Konturen. Mit diesem Ansuchen hatte er – im Sinne der deutsch‑italienischen Optionsvereinbarung vom 23. Juni 1939 – auch „die Entlassung aus dem Italienischen Staatsverband und Wehrpflichtsverhältnis sowie die Einbürgerung im Deutschen Reich“ beantragt. Ebenso erklärte er mit dem Formular, dass ihm „keinerlei Tatsachen bekannt sind, die einen Zweifel an meiner und meiner Familienangehörigen arischen Abstammung bestehen“. 


Dorfmann entsprach damit geradezu idealtypisch dem Profil jener „jungen Wilden“, deren deutschnational grundierte Kriegsbegeisterung sie – unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 – in hoher Zahl zu frühen Freiwilligen der Wehrmacht und SS machte. Es handelte sich um männliche Jugendliche, die im Herbst/Winter 1939 ihren italienischen Militärdienst entweder schon ableisteten oder ihre rasche Einberufung erwarten mussten und es vorzogen, in das deutsche Heer einzutreten, da der „politische Kompass ihres Handelns und Kampfes“ (Leopold Steurer) an den Großmachtvisionen NS‑Deutschlands ausgerichtet war. Der Elan und Vitalitätsüberschuss dieser Generation, die sich von ihrer noch unter dem habsburgischen Österreich sozialisierten Elterngeneration ostentativ absetzte, war durchdrungen von den Denkmustern des Volkstumskampfes und der Volksgemeinschaft – ihre Lebensziele waren von den völkischen Kategorien des Grenz‑ und Auslandsdeutschtums durchwirkt und vor dem Hintergrund der eigenen, in der italienisch gewordenen Heimat düsteren Zukunftsperspektiven darauf gepolt, alles auf die „deutsche Karte“ zu setzen und ihre Ressentiments in ideologische Radikalisierung zu verwandeln.
Das psychologisch‑mentale Naheverhältnis zum Nationalsozialismus war auch bei Dorfmann, so dürfen wir vermuten, gleichermaßen von den Push‑Faktoren der faschistischen Entnationalisierungspolitik in Südtirol wie von der weltanschaulichen Programmatik des VKS bestimmt, die besonders im Ende November 1939 popularisierten Lied der Kriegsfreiwilligen ihren Ausdruck fand. Dabei handelte es sich um die Adaption eines aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Kriegsliedes von Berthold Funke nach einer Melodie des NS‑Propagandisten Gerhard Pallmann, deren Text nun mit der Südtirol‑bezogenen Liedzeile „Wir sind der Südmark Jungmannschaft“ eingeleitet wurde. Typisch für solches Liedgut ist die strukturelle Nähe zur völkischen Jugend‑ und Burschenschaftsbewegung, deren Körperkonzepte und Tüchtigkeitsideale auch die Südtiroler Jungfreiwilligen teilten.
Dorfmann war, als er um die deutsche Staatsbürgerschaft ansuchte, gerade 18 Jahre alt, hatte also die Volljährigkeit noch nicht erreicht, die nach damaliger italienischer wie deutscher Rechtslage mit 21 Jahren angesetzt war. Am 3. Januar 1940 beantragte er bei der Präfektur Bozen, der zu dieser Zeit mit Giuseppe Mastromattei ein Faschist der ersten Stunde vorstand, die Ausstellung eines für zwei Monate gültigen Reisepasses, um in das Deutsche Reich zu verziehen. Als Minderjähriger musste er hierfür auch den schriftlichen Konsens seines Vaters (vom 2. Januar 1940) beibringen, der nach herrschender Rechtslage sein gesetzlicher Vormund war. Der Antrag wurde am 27. März 1940, laut Protokollstempel dem 18. Jahr der faschistischen Zeitrechnung, administrativ erledigt und die Abwanderung mit der undatierten Aufstempelung Trasferitosi in Germania („nach Deutschland verzogen“) dokumentiert. Die Majorennitätsregel galt allerdings nicht für die Wehrpflicht: Laut dem von der nationalsozialistischen Reichsregierung am 21. Mai 1935 verkündeten „Wehrgesetz“, mit dem die von den Friedensvertragsbestimmungen untersagten Wiederaufrüstungspläne demonstrativ verletzt wurden, war „jeder deutsche Mann […] arischer Abstammung“ mit vollendetem 18. Lebensjahr wehrpflichtig. Der Stammbogen von Dorfmanns Umsiedlungsakt gibt als erwünschten Zeitpunkt der Abwanderung die Monate März/April 1940 sowie als gewünschten Zielort Innsbruck an. Er habe weder Grundbesitz noch sonstigen beweglichen Besitz. Die gewünschte Tätigkeit am Zielort wird mit „Prüfungen ablegen und weiterstudieren“ angegeben. Der Antrag ging am 11. Januar 1940 beim Arbeitsamt Innsbruck ein, wie eine entsprechende Abstempelung dokumentiert. Zum 20. Februar 1940 liegt eine Inskription in den Gaustudentenbund vor, womit wohl die an der Innsbrucker „Deutschen Alpenuniversität“ ab 1938 eingerichtete NS‑Vereinigung der Studierenden gemeint ist. Die militante Organisation war hier wie an anderen Universitäten des Deutschen Reichs, im Wechselspiel mit dem Gaudozentenbund, für Gesinnungskontrolle und Gleichschaltung der Studierenden zuständig. Freilich wissen wir nicht, welchen Studienzweig Dorfmann gewählt haben mag, ebenso wenig ist klar, ob er ein etwaiges Studium je aufgenommen hat – bestenfalls hätte er noch im Sommersemester damit beginnen können. Vom 9. bzw. 11. März datiert die administrative Abarbeitung seiner Einbürgerungsurkunde durch die dem Landeshauptmann von Tirol und Vorarlberg zugeordnete Abteilung Umsiedlung Südtirol/Abteilung IV – das Formular enthält den stereotypen Druckvermerk, wonach der Antragssteller zu dieser Zeit „noch in Italien“ lebe. Mit 5. Juni 1940 ist Dorfmann im Lager Mühlau bei Innsbruck nachgewiesen, einer Notunterkunft für jene Umsiedler, denen noch kein Wohnraum zugewiesen werden konnte. An diesem Tag wird ihm die vom Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg (auftragshalber gezeichnet Dr. Kneringer) namens des Deutschen Reichs beglaubigte Einbürgerungsurkunde („Reichsangehörigkeit“) ausgehändigt. Am Vortag hatte die Zweigstelle Brixen der ADERSt eine „Abschlussmeldung“ ausgestellt, verbunden mit der Freigabe der Abreise Dorfmanns am 1. Juni und der Bereitstellung eines offenbar provisorischen, für den Grenzübertritt benötigten „Italienischen Sonderpasses“ durch den Quästor von Bozen. Dieselbe Meldung hält unter „Bemerkungen“ fest: „Freiwilliger: Innsbruck Heeressammelstelle“.
Mit dieser Notiz ist der zentrale Übergang Dorfmanns von seiner zivilen in die militärische Existenz benannt. Noch am 4. Juni, am Vortag der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft, beantragte er in Innsbruck den Wehrpass und absolvierte am 7. Juni im dortigen Wehrbezirkskommando die militärische Musterung. Die militärische Suchkarte ist auf ihrer Vorderseite mit dem auffälligen roten Stempel Rückgewanderter Südtiroler versehen, wobei „Rückwanderung“ der NS‑Sprachregelung für die „Heimholung der Volksdeutschen“ entsprach – zugleich belegen die weiteren Wehrmeldeangaben, dass Dorfmann sofort der Waffen-SS zugeteilt wurde bzw. den Eintritt in den militärischen Kampfverband vermutlich auch selbst angestrebt hatte.
Er war damit Teil der ersten Rekrutierungswelle von SS‑Freiwilligen aus Südtirol, die in den Jahren 1939/41 und damit in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs in vergleichsweise hoher Zahl die Aufnahme in die sich selbst als Elite und Speerspitze des deutschen Heeres verstehende Militäreinheit anstrebte. Das soziale Profil dieser Freiwilligenkontingente wurde von Thomas Casagrande im Detail untersucht und ausführlich dargestellt. Insbesondere ist ihm der statistische Nachweis gelungen, dass Südtiroler Jungmänner, gemessen an der überschaubaren Gesamtbevölkerungszahl der Region, überproportional in der Waffen-SS vertreten waren. Ebenso hat Casagrande das sozialpsychologische Profil der Rekruten herausgearbeitet, die zumindest in ihrer ersten Welle von einer männerbündischen Desperado‑Mentalität erfüllt waren, die sich selbstredend auch mit einem gesteigerten Aggressionspotential und einer hohen Tötungsbereitschaft verband. Südtiroler SS‑Mitglieder waren an Kriegsverbrechen beteiligt und in den Wachmannschaften von Vernichtungslagern wie Mauthausen und Auschwitz‑Birkenau vertreten.
Natürlich teilten sie diesen Verstrickungs‑ und Verblendungszusammenhang mit anderen „Volksdeutschen“ (wie den Sudetendeutschen, den Banater Schwaben, den Elsässern, den Siebenbürger Sachsen oder den Memeldeutschen). Ihnen allen galt im Übrigen das besondere Augenmerk des sogenannten Ergänzungsamtes im SS‑Hauptamt unter dessen Chef, SS‑Brigadeführer Gottlob Berger, der unter diesen Bevölkerungsgruppen besonders aktiv um Zugänge warb und um die Jahreswende 1939/40 mit SS‑Obersturmbannführer Walter Rehder einen eigenen Beauftragten hierfür nach Bozen entsandte. Die Maßnahmen waren äußerst erfolgreich: Über den gesamten Kriegsverlauf gerechnet, konnte Casagrande über 2.000 Südtiroler SS‑Rekruten nachweisen, beginnend mit jenen frühen Aufgenommenen, zu denen Dorfmann zählt. Zu diesen Freiwilligen gehörten viele Aktivisten der früheren Jugendbewegung des VKS, wie etwa Willy Acherer, Walter Pernter und Otto Casagrande; ebenso meldete sich die erste Führungsriege des VKS mit Karl Nicolussi‑Leck, Otto Robert Waldthaler, Michael Tutzer und Robert Helm geschlossen zur Waffen-SS.
Selbstzeugnisse dieser Personengruppen, vor allem die dank der faschistischen Postzensur überlieferten Korrespondenzen, geben deutlich zu erkennen, dass viele der Südtiroler SS‑Freiwilligen von einem rassisch‑politischen Überlegenheitsgefühl und Elitebewusstsein der eigenen Volksgruppe getragen waren. Als deutlicher Attraktionsfaktor auf die jungen Soldaten wirkte vor allem das Kriegsgeschehen in Osteuropa, wo Hitler am radikalsten und aus nationalsozialistischer Sicht zunächst überaus erfolgreich seine europäischen Neuordnungspläne in die Tat umzusetzen versuchte. Die Südtiroler Mitglieder der Waffen-SS waren von Beginn an aktiv an der Eroberung „neuen Lebensraumes“ beteiligt, eines Raumes, der in den biopolitischen Planungen der SS auch für die in Aussicht gestellte „geschlossene Ansiedlung“ der eigenen Volksgruppe vorgesehen war. Ein bisher unbeachtetes Zeugnis für den damit verbundenen mentalen Habitus verdankt sich den Tagebuchaufzeichnungen von Fritz Nagele, eines 1917 in Bozen geborenen SS‑Untersturmführers der SS‑Division „Totenkopf“. Er nahm ab Juni 1941 am deutschen Überfall auf die Sowjetunion teil und verstarb an den Folgen einer schweren Kampfverwundung Anfang Juli 1942 im Raum Demjansk. Sein Bruder, der VKS‑Funktionär Hans Nagele, hat die ihm überantworteten Feldnotate als Privatdruck im August 1943 in Bozen in geringer Stückzahl herausgebracht. Die Aufzeichnungen sind durchzogen von Formulierungen der Landsersprache, dem heroisierenden Beschreiben des Angriffskriegs, in das sich neben Berufungen auf die eigene „Teufelswut“ und den „furor teutonicus“ entgrenzende Wendungen wie „Über den Haufen schießen“ oder „Uns kann nichts erschüttern“ mischen. Es ist die Sprache jenes faschistoiden Männertypus’, den Klaus Theweleit historisch‑psychoanalytisch als hochgradig systemfunktionalen und zugleich emotional befriedigten Tätertypus eingeordnet hat. Das Vorwort des Nagele‑Tagebuchs beschwört das „gewaltige Kriegsgeschehen“, das den Optanten Nagele dazu motiviert habe, „bereits im Frühjahr 1940 von seinen geliebten Bergen Abschied“ zu nehmen und sich in München als Kriegsfreiwilliger zur Waffen-SS zu melden.
Ganz ähnliche Motivlagen dürften bei Dorfmann entscheidend gewesen sein. Bei ihm verfügen wir allerdings nur über die nüchternen Verwendungsdaten. Er rückte mit 10. Juni 1940 zunächst zu der in Graz stationierten SS‑Division „Der Führer“ im Anfangsrang eines Panzergrenadiers ein. Das SS‑Panzergrenadier‑Regiment 4 unter SS‑Ober‑ bzw. Brigadeführer Georg Keppler wurde ab Mai 1940 im Westfeldzug in den Niederlanden, Belgien und Frankreich eingesetzt, wo es gemeinsam mit Einheiten der „Leibstandarte Adolf Hitler“ und SS‑Totenkopfverbänden operierte. Es kam sodann am Balkan und – wie schon Fritz Nageles Division – im Kontext des „Unternehmens Barbarossa“ in Russland zum Einsatz. Dorfmann dürfte an den jeweiligen Kampfhandlungen beteiligt gewesen sein, nur unterbrochen von Phasen der Hospitalisierung bzw. des Fronturlaubs. So erteilte am 6. Februar 1941 der Leiter der Hauptabteilung VI der ADERSt‑Hauptstelle Bozen (gezeichnet Vollmer) in einem Schreiben an den Gauleiter und Reichsstatthalter/Umsiedlung Südtirol ein positives Gutachten zum Urlaubsgesuch, das „Wehrmachtsurlauber“ Josef Dorfmann zwecks Einreise nach Südtirol eingereicht hatte, und ersuchte zugleich die Innsbrucker Stelle „um Beschaffung der Sichtvermerke zur Einreise“. Dorfmann wird sich vermutlich im Spätwinter 1941 in Südtirol, aller Wahrscheinlichkeit nach an seinem Heimatort Neustift, aufgehalten haben.
Die nächste Nachricht ist mit 17. Oktober 1941 datiert: An diesem Tag wird Dorfmann als vom „SS Alpenland KH“ zurückgekehrt gemeldet. Der Wehrkreis SS‑Oberabschnitt Alpenland war in Salzburg disloziert; KH dürfte „Krankenhaus“ bedeuten, was auf einen Genesungsaufenthalt nach einer im Kriegseinsatz zugezogenen Verwundung hindeutet. Dies dürfte wohl während des Balkanfeldzugs geschehen sein, als Wehrmachts‑ und SS‑Einheiten, gemeinsam mit italienischen, ungarischen und bulgarischen Regimentern, ab April 1941 die beiden Königreiche Jugoslawien und Griechenland angegriffen und überrollt hatten, oder bereits im ab Ende Juni tobenden deutsch‑sowjetischen Krieg, dessen Vernichtungscharakter alle bis dahin gekannten Dimensionen sprengte. Eine weitere Beurlaubung datiert vom 2. Dezember 1942. Nach einer neuerlichen Verwundung („Durchschuss“), die Dorfmann im „Reserve‑Lazarett Ostrow“ (bei Cottbus?) im Februar 1943 ausheilte, wurde er am 15. März 1943 zum 1. Panzergrenadier‑Regiment der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ versetzt. Angehörige dieses Truppenverbandes waren in besonderer Weise an Kriegsverbrechen und Judenverfolgungen beteiligt, sowohl an der West‑ wie an der Ostfront. Dorfmann kämpfte mit seiner Einheit im Südabschnitt der antisowjetischen Operationen, wo die deutschen Militäreinheiten nach der Niederlage von Stalingrad im Frühjahr 1943 eine breit angelegte Gegenoffensive starteten und in der Schlacht bei Charkow einen letzten, propagandistisch breit ausgeschlachteten Teilerfolg gegen die Rote Armee errangen. Dorfmanns Einheit unterstand dabei SS‑Oberst‑Gruppenführer Josef Dietrich, einem nach Kriegsende mehrfach verurteilten Kriegsverbrecher. Auch bei diesen Kampfhandlungen wurde Dorfmann verwundet, wie eine weitere Hospitalisierung im Reservelazarett Dresden von Ende März 1943 bezeugt. Inzwischen zum Unterscharführer befördert, rückte er im Mai 1943 zum Oberscharführer der Waffen-SS innerhalb der „SS-Panzerdivision Hitlerjugend, Begleitkompanie 12“ auf. Im SS‑Ranggefüge entsprach dieser Dienstgrad dem Rang eines Feldwebels bzw. eines Unteroffiziers, der mit nachgeordneter Befehlsgewalt ausgestattet war. Bei der 12. SS‑Division „Hitlerjugend“ hingegen, in der mindestens 15 Südtiroler dienten, handelte es sich nach Einschätzungen des Militärhistorikers Peter Lieb um einen der am meisten brutalisierten und nationalsozialistisch indoktrinierten deutschen Militärverbände; er führt dies auf die besonders radikalisierte Mischung aus älteren, erfahrenen Soldaten und jungen, fanatisierten Mitgliedern der HJ als perfekte Grundlage für einen rücksichtslos geführten NS‑Weltanschauungskrieg zurück.
Gemäß einem weiteren Eintrag vom 5. Mai wurde Dorfmann nach einem „Oberschenkel‑Durchschuss“ zunächst im „SS‑ Feldlazarett in Charkow“ notversorgt und dann wiederum nach Dresden verlegt, wo er ein Aneurysma erlitt. Laut einer Stabsleitermeldung (gezeichnet Mayerbrucker) vom 29. Juli 1943 an den Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Innsbruck befand sich Dorfmann im Reserve‑Lazarett I in der Dresdner Marienallee, wohin ihm seine „Lohnsteuerkarte […] für den Bezug seiner Kriegsbesoldung“ nachgeschickt werden möge. Wenig später ist er im Reserve‑Lazarett Bärenfels nachgewiesen, wohl dem ehemaligen Kurort Bärenfels im Osterzgebirge, einem heutigen Ortsteil der ca. 30 km südlich Dresden gelegenen Stadt Altenberg in Sachsen. Dorfmanns Gesundheitszustand muss sich merklich verschlechtert haben, was – zu einem nicht bekannten Zeitpunkt – seine logistisch aufwändige Verlegung in das Reserve‑Lazarett Bensberg bedingt haben wird. Hier, im Militärlazarett von Bensberg, einem heutigen Stadtteil von Bergisch Gladbach im Bergischen Land, verstarb Josef Dorfmann am 9. September 1944 an einer infolge seiner schweren Verletzungen aufgetretenen bakteriellen Infektion („Gasbrand“); der medizinische Totenbericht der Wehrmeldekarte hält hierzu folgenden Befund fest: „Zertrümmerung der rechten Hand, ausgedehnte Weichteilverletzung [am] linken Oberschenkel, des Scrotum und des Penis, Gasbrand.“ Der Verstorbene sei in „Bensberg, Ehrenfriedhof, Grab 22“ bestattet worden. Die Todes‑ und Bestattungsmeldung wurde in den Folgejahren mehrfach bestätigt, ehe man sie 1955 in eine beiliegende Gräberkartei übertrug und zusätzlich vermerkte, dass die Beisetzung am 12. September 1944 erfolgt, diese am 22. Oktober 1948 vom Bürgermeister von Bensberg amtlich eingesehen worden sei und die Kriegsgräberfürsorge Wehrkreiskommando VI die Obhut übernommen habe. Die Akte wurde am 5. Oktober 1960 geschlossen.