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Gesellschaft | Lockdown-Tagebuch

Tag 6: Der Bussard

Ich mag den Mäusebussard. Er ist so gelassen, ruhig. Und ziemlich sicher hat er keinen Facebook-Account, wo er hineinschreibt, wer derzeit alles ein „O****loch“ ist.

Liebes Tagebuch,

Jeden Tag gehe ich ein Stückchen spazieren. Immer dieselbe Runde. Und fast immer begegne ich dabei einem Mäusebussard. Gut, ich glaube zumindest, dass es einer ist. Adler ist es definitiv keiner, und recht viel mehr Greifvögel kenn ich nicht. Der Mäusebussard, beziehungsweise der Vogel, den ich für einen solchen halte, sitzt meist auf einer Betonsäule in der Apfelwiese, schwingt sich dann irgendwann empor und zieht seine Runden. Ich mag den Mäusebussard. Er ist so gelassen, entschlossen, ruhig. Bestimmt macht er auch ziemlich unschöne Sachen mit seinen Beutetieren, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er keinen Facebook-Account hat und dort hineinschreibt, wer derzeit alles ein „O****loch“ ist. Wem er gerne „uane aulegen“ würde. Wer „sofort entsorgt“ gehört. Nicht nur in der Politik, sondern auch unter seinen Mitmenschen. Das macht den Mäusebussard schon mal sehr sympathisch. Leider sind die wenigsten von uns wie er. Und fluchen, schimpfen, toben kann sehr befreiend sein. Ich empfehle es sogar. Auch an mir ist kein Zen-Buddhist verloren gegangen, und in Zeiten wie diesen immer freundlich, nett und positiv zu sein, das schaffe ich nicht. Es ist allerdings ratsam, den Frust und die Wut im stillen Kämmerlein rauszulassen, oder bei Freunden, die damit umgehen können (nein, können auch nicht alle). Auf Facebook ist das so eine Sache. Erstens, kommt man nicht wirklich sympathisch rüber, was ja noch verschmerzbar wäre und das Dampfablassen wert. Zweitens, unterschätzt man, wer das alles liest. Womöglich noch der oder die Geschmähte selbst. Vielleicht klingelt Kompatscher morgen schon an der Tür, um persönlich nachzufragen, wieso genau du ihm jetzt die **** abschneiden willst. Eher unangenehme Vorstellung (beides). Und drittens ist die Wut ja meistens gleich nach dem Posten schon wieder verflogen. Der Post bleibt aber da. Wie viele „Sierteifl“ aus Facebook sind die meiste Zeit wahrscheinlich ganz okaye Zeitgenossen, und doch werde ich vorsichtshalber die Straßenseite wechseln, sollte ich ihnen zufällig mal begegnen (post Lockdown, versteht sich). Die Liste wird täglich länger. Mehr Bussard, weniger Sierteifl also. Alles wird gelassen gut.