Politik | salto Gespräch

“Nicht einmal einen halben Tag”

Warum Oktavia Brugger momentan nicht in die Türkei zurückkehren würde. Was sie sich vom Referendum im April erwartet. Und wie sie sich den “Erdogan-Wahn” erklärt.
Oktavia Brugger
Foto: oktaviabrugger.wordpress.com

Wenn Oktavia Brugger über die Türkei spricht, fällt ein Name ganz häufig: Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Staatspräsident gibt nicht nur seinen europäischen Amtskollegen Rätsel auf, auch die ehemalige RAI-Journalistin Oktavia Brugger zerbricht sich über ihn den Kopf. Schon als die heute 65-Jährige ihren Ehemann, selbst Journalist, für längere Zeit nach Istanbul begleitete, wurde sie Zeugin eines sich immer autoritärer gebarenden Staatspräsidenten, der immer härter durchgriff. Seit 1. Jänner dieses Jahres hat Oktavia Brugger der Türkei endgültig den Rücken gekehrt. Doch das Land lässt sie nicht los.

salto.bz: Frau Brugger, haben Sie nach Ihrer Rückkehr noch Kontakt zu Menschen, die in der Türkei leben?
Oktavia Brugger: Oh ja, sehr wohl. Ich bin in Kontakt mit Bekannten dort. Aber das sind fast ausschließlich Menschen aus europäischen Ländern und nur wenige “echte” Türken, die dazu sehr liberale, “weiße Türken” sind, die sich sehr stark an der europäischen Kultur orientieren, Istanbuler aus der Oberschicht, die nach wie vor pro-europäisch sind.

Was berichten Ihnen diese Bekannten? Wie ist die Stimmung im Land?
Unter meinen Freunden ist ein sehr bekanntes türkisches Unternehmerpaar, das seinen Betrieb mittlerweile in die Schweiz und nach Dänemark ausgelagert hat. Nur das Allernotwendigste wird noch in der Türkei abgewickelt.

Aus welchem Grund?
Weil es in der Türkei keine Rechtssicherheit mehr gibt. Es kann dir passieren, dass du von heute auf morgen von jemandem denunziert werden kannst, der behauptet, du seist ein Freund von Fetullah Gülen…

… dem Staatsfeind Nummer Eins seit dem Putschversuch im Juli 2016. Was droht im Falle einer Denunziation?
Der Staat kann das Eigentum eines Unternehmers aus heiterem Himmel beschlagnahmen. Einfach so.

Sie sagen “der Staat” – und meinen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan?
Zwischen türkischem Staat und Erdogan kann kaum mehr unterschieden werden, seit er den begonnen hat, sich immer mehr Macht anzueignen. Mit seinem Verhalten sagt Erdogan: Ich bin der Staat. Wie Ludwig der XIV, der Sonnenkönig – “L’état c’est moi.” Er fühlt sich als absolutistischer Herrscher, auch weil ihm innerhalb der Türkei offensichtlich niemand dagegen spricht. Und wer es wagt, ist am nächsten Tag im Gefängnis. Die halben Staatsbetriebe funktionieren nicht mehr, weil er so viele Leute hat einsperren lassen.

Das Geschrei und Getobe von Erdogan und seinen Ministern ist für mich ein Beweis, dass sie am Ende sind.

Sie haben die Türkei Anfang des Jahres selbst verlassen. Geht es anderen Ausländern wie Ihnen?
Viele nicht-türkische Unternehmer haben in der Tat das Land verlassen, weil sie gemerkt haben, dass sie keine Aufträge mehr bekommen. Die Politik wurde so ausgerichtet, dass nun türkische Unternehmer bevorzugt werden. Denken Sie an die große italienische Hoch- und Tiefbaufirma Astaldi. Die hat zwar beim Bau der dritten großen Bosporus-Brücke in Istanbul mitgewirkt – weil sie das nötige Know-How hatte, das den Türken fehlte –, aber bevor die Brücke fertig war, ist Astaldi mit Sack und Pack abgezogen und zurück nach Rom. Wie ich in Erfahrung gebracht habe, weil sie keine Aufträge mehr erhalten haben und weil es eben keine Rechtssicherheit gibt. Es herrschen absolut unmögliche Bedingungen für Unternehmer.

Ist das nicht paradox? Dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen gerade unter einem Staatspräsident Erdogan derart verschlechtert haben? Er wird ja als jener Politiker gefeiert, der die Türkei zu wirtschaftlichem Aufschwung und Wohlstand geführt hat?
Das ist ja der Wahnsinn. Gerade darum versteht man nicht, wohin er das Land führen will. Als Bürgermeister von Istanbul hat Erdogan Großartiges geleistet: die Infrastruktur ausgebaut, die Stadt modernisiert. Später hat er die gesamte Wirtschaft der Türkei total umgekrempelt und revolutioniert. Man hat ihn als Vorbild genommen, wie man die Wirtschaft auf Vordermann bringen kann. Erdogan hat Hervorragendes geleistet. Darum folgen ihm auch immer noch so viele Menschen.

Obwohl er inzwischen ein ganz anderes Gesicht zeigt?
Anders kann ich mir das nicht erklären. Er ruiniert die Wirtschaft, hat dafür gesorgt, dass es praktisch keinen Fremdenverkehr mehr gibt, legt sich mit allen an, ausländisches Kapital zieht ab, die Banken befinden sich in einer Krise, die Währung ist abgestürzt… Normalerweise würde ein Volk sagen: Obacht, da ist einer, der alles ruiniert. Aber in der Türkei glaubt man Erdogan noch, weil sich die Menschen daran erinnern, wie er in den 90er Jahren Hervorragendes geleistet hat. Anders wäre es wohl nicht zu verstehen, dass er immer noch derartige Unterstützung erfährt.

Dennoch gibt es einen Teil der Bevölkerung, der sich nicht zuletzt im Hinblick auf das Referendum am 16. April große Sorgen macht – und der Wahlempfehlung von Erdogan für ein Ja nicht Folge leisten will. Wie tief sind die Gräben in der türkischen Bevölkerung inzwischen geworden?
Die Türkei ist sicher ein tief gespaltenes Land. Die Mehrheit, die jetzt am Drücker ist, das sind die so genannten “schwarzen Türken”, die in den 60er Jahren aus Anatolien in die Städte eingewandert sind: einfaches, konservatives Arbeitervolk, das von den elitären, so genannten “weißen Türken” mehr oder minder ausgenutzt wurde. Erdogan hat von Anfang an die “schwarzen Türken”, also die Mehrheit vertreten. Unter ihm gab es endlich Arbeit, Schulen, Elektrogeräte… Und der Großteil dieser breiten Mehrheit ist immer noch Erdogan-Fan.

Viele religiöse Türken im Ausland haben das Gefühl, dass ihnen hier jemand symbolisch zu Stärke verhilft.

Ganze 18 Änderungen sollen mit dem Referendum an der türkischen Verfassung vorgenommen werden. Die Richtung ist klar: mehr Macht für den Staatspräsidenten, während die Befugnisse von Parlament und Regierung zum Teil stark beschnitten werden. Ist es für Sie nachvollziehbar, dass Bürger in einem demokratischen Land dieser Machtkonzentration zustimmen?
Die, die dafür sind, sind absolute Fans vom Sultan, also Erdogan. Durch ihn sind sie in den Genuss von großen Vorteilen gekommen und glauben immer noch, je mehr sie ihn stärken, desto besser geht es der Türkei. Mit diesem Sager wird ja Propaganda betrieben: “Je stärker der Präsident, desto stärker das Land.”

Wahlkampf betreibt nun vor allem die Partei, die Erdogan mit gegründet hat, die AKP. Wofür steht diese Partei?
Für viele gilt der Slogan: Eine Nation, eine Religion, ein Herrscher. Sehr viele Anhänger sind streng religiös. Die haben Erdogan auch deshalb so bejubelt, weil er ihnen endlich erlaubt hat, wieder richtig islamisch zu sein.

Dabei verehren die Türken doch ihren Staatsgründer, den überzeugten Laizisten Kemal Atatürk?
In den 30er Jahren hat Atatürk gesagt, wir sind ein laizistischer Staat und streng zwischen Staat und Religion getrennt. Unter anderem hat er den Frauen verboten, das Kopftuch zu tragen – und das zu jener Zeit, das muss man sich einmal vorstellen! Vor allem am Land haben viele Leute die laizistische Ausrichtung des neuen Staates nicht verstanden und sie stets als Unterdrückung empfunden. Und jetzt kommt ein Erdogan daher, selbst ein “schwarzer Türke”, und sagt Nein, wir führen die Religion wieder in allen Lebensbereichen ein. Auch dadurch hat er viele Menschen an sich gebunden.

Spielt neben dem neuen Staatsverständnis auch die Abgrenzung gegenüber anderen eine Rolle?
Sicher hängt dieser ganze Erdogan-Wahn damit zusammen, ja. Von den westlichen Demokratien halten die Anhänger Erdogans nicht viel, verachten sie geradezu. Für sie sind diese Länder schwach, während man selbst einen starken Herrscher will, der für Recht und Ordnung sorgt. Das ist auch ein Grund für viele zu sagen, wir nehmen diese Verfassungsreform an und, in Richtung Westen gewandt, ihr versteht das nicht.
Um die Verehrung dieses Diktators zu verstehen, muss man sich das Zusammenspiel mehrerer Faktoren vor Augen führen.

2014 wurde Erdogan, damals noch Ministerpräsident, mit 52 Prozent bei der ersten Direktwahl eines türkischen Staatsoberhauptes zum neuen Staatspräsidenten gewählt worden. Ist es legitim, ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt als Diktator zu bezeichnen?
Sein ganzer Wahn, der ihn jetzt verfolgt, hat damit zu tun, dass er dabei ist, Macht zu verlieren. Begonnen hat das im Juni 2015 als die AKP bei den Parlamentswahlen zum ersten Mal die absolute Mehrheit verloren und es die kurdenfreundliche Partei HDP auf 10 Prozent gebracht hat. Erst dann hat Erdogan begonnen wieder Kurdengebiete anzugreifen und mehr und mehr aus den Fugen zu geraten. Und das ist der eigentlich zentrale Punkt: Immer wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, beginnt er mit Attentaten, Kurdenangriffen – zeigt seine grausame Seite. Das sieht man jetzt auch wieder. Was Erdogan aktuell macht, kann man als verzweifeltes Aufbäumen eines Mannes bezeichnen, der verstanden hat, dass er sein Land praktisch an den Rand des Abgrundes geführt hat.

Seine Machtansprüche beschränken sich nicht allein auf die Türkei. In Deutschland etwa sehen viele türkischstämmige Menschen, darunter auch viele, die nicht in der Türkei geboren sind, Erdogan als ihren Präsidenten, nicht Angela Merkel. Wie erklären Sie sich das?
Auch das hat noch mit der Erinnerung an alte Zeiten zu tun, es ist immer derselbe Diskurs: Er hat unserem Land und unseren Verwandten dort früher einmal Wohlstand und Arbeitsplätze beschafft, und endlich haben wir wieder die Erlaubnis, unsere Religion nicht nur zu Hause ausleben zu können. Denn auch in Deutschland sind es viele religiöse Menschen und Frauen, die Kopftuch tragen, die ihn verteidigen. Dazu kommt, dass sich viele dieser Erdogan-Verehrer im Ausland nie richtig in die Gesellschaft integriert haben. Denken Sie an die berühmte Parallelgesellschaft in Deutschland, in der die Türken der dritten Generation noch genauso leben wie die der ersten.

Aber auch in Deutschland, in dem die größte türkische Community außerhalb der Türkei lebt, gibt es nicht nur Erdogan-Fans?
Es gibt natürlich ganz großen Ausnahmen. Man darf nie vergessen, dass sehr viele Türken mit deutschem Pass absolut demokratisch eingestellt und Erdogan-kritisch sind. Aber wenn man sich die Bilder von den Pro-Erdogan-Demonstrationen anschaut, dann fällt zum Beispiel auf, dass die Frauen dort immer Kopftuch tragen.

Angela Merkel will keinen Konflikt mit der Türkei.

Hier ein Mann, der Stärke demonstrieren will – dort immer mehr Frauen, die ihn unterstützen. Wie passt das zusammen?
Ein wichtiger Erfolgsfaktor für Erdogan und die AKP ist, dass sie es geschafft haben, viele Frauen, viele “Mütterchen”, sehr gut anzusprechen. Die Kopftuchfrauen fühlen sich von diesem starken Mann endlich mehr eingebunden, auch wenn sie im Endeffekt nichts entscheiden können. Aber es wird ihnen gesagt, sie seien wichtig, für die Familie zum Beispiel. Diese Frauen spielen im Falle Erdogans und der Bewunderung, Verteidigung und Anhimmelung, die ihm zuteil wird, eine ganz große Rolle. Viele von ihnen sind zum ersten Mal richtig militante Parteimitglieder geworden. Das hat es früher nicht gegeben, da waren es nur Männer.

Zahlreiche europäische Länder hindern türkische Minister im Vorfeld des Verfassungsreferendums daran, auf ihrem Boden Wahlkampf zu betreiben. Ist es richtig, Wahlkampfauftritte türkischer Politiker hier zu unterbinden?
Absolut. Auch wenn die Situation von Land zu Land  verschieden ist. Ich verstehe, dass die deutsche Bundeskanzlerin Merkel vorsichtig ist, immerhin leben in ihrem Land 4 Millionen Türken. Dazu kommt, dass Deutschland unheimlich große wirtschaftliche Interessen in der Türkei hat. Zum Beispiel in der Autoindustrie, aber auch in ganz anderen Bereichen: Die Waffenexporte von Deutschland in die Türkei haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt.
Österreich und die Niederlande haben hingegen vollkommen recht, zu sagen: Bis hierhin und nicht weiter. Die beiden Länder haben weniger wirtschaftliche Interessen und können es sich leisten, Klartext zu sprechen.

Das beste Mittel, um sich Gehör zu verschaffen?
Ich bin überzeugt, dass diese militanten Türken einen nur ernst nehmen, wenn man ihnen Paroli bietet. Das habe ich in der Türkei selbst schon gemerkt. Wenn ich klipp und klar sage, dass ich Christin bin und das Kreuz auf meiner Brust trage, dann werde ich respektiert. Atheisten hingegen empfinden die Türken als schwach. Wir Europäer sagen oft gern, jetzt warten wir mal, das wird sich schon legen, üben uns in Toleranz. Genau diese Haltung verachten die meisten Türken, sie reagieren nur auf ganz klare Signale. Das ist meine Interpretation und daher ist es für mich besser, Stopp zu sagen. Dazu finde ich es absolut legitim, wenn diese kleinen Länder verlangen, dass auch die HDP parallel auf Wahlveranstaltungen auftreten dürfen soll. Aber Erdogan verbietet der Opposition – von der er einen Großteil ja sowieso schon hat einsperren lassen – ins Ausland zu fahren und Wahlwerbung zu betreiben. Er bangt, dass er keine Mehrheit beim Verfassungsreferendum bekommt.

Die Folge der abgesagten Wahlkampfauftritte: Nazi-Vergleiche, Faschismus-Vorwürfe, Drohungen und Sprüche wie “Die haben einen Kampf zwischen dem Kreuz und dem Halbmond angefangen”, sind von Erdogan und den Mitgliedern der türkischen Regierung in Richtung Europa zu hören. “Antidemokratisch” seien Länder wie Niederlande, Deutschland und Schweden, heißt es aus der Türkei.
Ausgerechnet! Du, Türkei, ein Land, das Journalisten und Oppositionelle einsperrt, Privateigentum beschlagnahmt und so weiter sagt mir, ich sei faschistisch? Du, lieber Erdogan bist der Faschist. Er braucht sich nicht einzubilden, dass er ein demokratisches Land führt. Er selbst ist der Diktator, der mit Nazi-Methoden Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit aushöhlt. Aber wissen Sie, wo unser Problem liegt?

Sie werden es mir sagen.
Wir sind, glaube ich, immer noch diesem Mythos verfallen, dass die Türkei wie vor 20 Jahren ein liberales Land ist, so wie wir es aus den Schulbüchern kennen. Dem ist nicht mehr so, sie hat sich verändert und ist zu einer islamischen Halbdiktatur geworden. Für mich ist das ganz eindeutig so.

Eine Rolle spielt dabei auch, dass nach dem Putschversuch im Juli 2016 unzählige Militärs eingesperrt wurden. Das Militär galt seit jeher als großer Verfechter des laizistischen Staates…
Genau.

…hat der Putsch Erdogan also in die Hände gespielt?
Er hatte die Gelegenheit, viele, die ihm nicht genehm sind, aus dem Weg zu räumen. Dazu genügte der Vorwurf, sich an dem Putsch beteiligt zu haben. Was für einen Teil der Beschuldigten sicher stimmen mag, aber bei ganz vielen war es einfach ein Vorwand, um unliebsame und kritische Militärs einzusperren. Was nun unter anderem zur Folge hat, dass momentan die türkische Luftwaffe auf dem NATO-Stützpunkt Incirlik total unterbesetzt ist. Es gibt nur einen halben Piloten pro Flugzeug. Pensionisten, die sich noch fern daran erinnern, wie ein Jagdflugzeug funktioniert, werden wieder ins Heer einberufen. Was ich sagen will: Die Situation in der Türkei ist viel schlimmer als wir sie wahrnehmen.

Der türkische Staat macht mit seinen Staatsbürgern was er will.

Wie wird das Referendum am 16. April Ihrer Einschätzung nach ausgehen? Und mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen?
Ich denke, dass es knapp ausgehen wird. Wenn es für Erdogan gut ausgeht, das Ja also gewinnt, könnte er seinen furchtbaren Kurs möglicherweise etwas zurückfahren. Denn dann wird er sich sicher fühlen und könnte alles daran setzen, dass sich die Lage wieder beruhigt und wieder Investitionen in die Türkei fließen. Er hat sicherlich verstanden, dass es so nicht weitergehen kann. Die Türkei lebt von ausländischen Investoren, sie braucht das Ausland. Also: Wenn Erdogan gewinnt, wird er etwas ruhiger werden.

Und wenn das Referendum mit einer Niederlage für ihn endet?
Sollte er verlieren, erwarte ich mir, dass er wie wild um sich schlagen wird – und möglicherweise einen Krieg anzetteln.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Ein Bekannter in der Türkei hat mir erzählt, dass er beobachtet, wie derzeit die türkische Kriegsflotte ausgebaut wird. Die Befürchtung liegt nahe, dass Griechenland angegriffen werden könnte. Schon seit Monaten verletzt die türkische Luftwaffe immer wieder griechischen Luftraum, täglich dringt die türkische Flotte mehrmals in griechische Hoheitsgewässer ein. Die Griechen protestieren, aber liest man davon jemals in den Zeitungen? Nein. Wenn Erdogan also das Referendum verliert, könnte eine Kriegserklärung an Griechenland eine Möglichkeit sein, um den Zusammenhalt im türkischen Volk wieder herzustellen. Und dann hätte er Europa wirklich am Gängelband. Die Europäer würden Griechenland sicher nicht verteidigen. Die NATO würde einfach zuschauen und Europa würde auseinander fallen. Die EU würde meiner Meinung daran zerbrechen. Oder zumindest eine richtig schlechte Figur abgeben.

Demnach bleibt beinahe zu hoffen, dass das Ja beim Verfassungsreferendum gewinnt?
In diesem Sinn ja. Wenn man sieht, was Erdogan so macht, wenn er nicht gewinnt – wie nach den Parlamentswahlen von 2015: Massaker an Kurden, Angriffe auf die eigene Bevölkerung, Städte, die wie im Fall von Cizre eingekesselt und ausgehungert werden – darüber haben übrigens auch nur ganz wenige britische und französische Medien berichtet. Da hat man gesehen, welche Wut Erdogan entfesselt, wenn er verliert. Daher: Wenn die Mehrheit der türkischen Bevölkerung mit der Verfassungsänderung und damit einverstanden ist, dass ihr Staatspräsident stärker wird, dann müssen die Türken eben selbst damit leben. Wir Europäer müssen aufhören, uns einzumischen oder zu sagen, ihr müsst so oder anders entscheiden. Nein, die Türken müssen das selbst für sich ausmachen. Sie sind mündige Staatsbürger und es ist ihr Land.

Ein Land, das Ihnen ganz offensichtlich immer noch einiges an Kopfzerbrechen bereitet – und an dem Sie auch ein Stück weit mit Ihrem Herzen hängen?
Sowieso. Ich bin an sehr an der Türkei und den Vorgängen dort interessiert. Meine große Hoffnung ist, dass Erdogan früher oder später stürzt und wieder eine normale demokratische Regierung kommt. Denn ich würde ja auch sehr gerne irgendwann einmal wieder zurück in die Türkei fahren können.

Momentan würden Sie das nicht?
Nicht einmal für einen halben Tag würde ich dorthin fahren.

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Sigmund Kripp So., 19.03.2017 - 11:06

Ein sehr interessantes und aufklärendes Interview! Aber das mit dem Nicht-Eingreifen der Europäer im Falle Griechenlands halte ich für eine grobe Fehleinschätzung.

So., 19.03.2017 - 11:06 Permalink
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Benno Kusstatscher So., 19.03.2017 - 12:20

Ein Angriff auf ein Mitgliedsland ist doch im Nordatlantikpakt der NATO und in den Lissaboner Verträgen der EU genau geregelt. Beide Verträge vor die Säue zu werfen, würde die Sicherheitsarchitektur des ganzen Westens zunichte machen. Sollten USA und die alten EU-Länder tatsächlich zögern, müssten trotzdem die Osteuropäer zur ureigenen Überlebenssicherung Griechenland zur Hilfe eilen. Ein Angriff auf Griechenland wäre eine Weltkriegserklärung und die kann nicht Erdogan sondern nur Putin entscheiden.

Bleibt zu hoffen, dass die Logik dieses Interviews keine türkischen Pazifisten in die Hände des Ja treibt. Die europäische Aufrüstung legitimiert sie allemal.

So., 19.03.2017 - 12:20 Permalink
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Harry Dierstein So., 19.03.2017 - 12:32

Einen bewaffneten, kriegerischen Angriff der Türkei auf Griechenland halte ich persönlich für genauso wenig realistisch, wie eine reguläre Auszählung bzw. Verkündung des tatsächlichen Referendumsergebnisses. Kann sich hier ernsthaft jemand vorstellen, dass Erdoğan am 17. April 2017 vor die Presse tritt und verkündet, dass das "Nein" gewonnen hat? Da werden sich sicher Mittel und Wege finden, das entsprechend zu manupulieren. Meines Erachtens ist die Türkei auf absehbare Zeit verloren.

So., 19.03.2017 - 12:32 Permalink
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Karl Gudauner So., 19.03.2017 - 13:16

Die Arroganz, mit der einige europäische Politiker/-innen der Türkei vorschreiben wollen, wie ihr politischer Weg auszusehen hat, ist vielsagend für die Einstellung zu diesem Land. Diplomatische Zurückhaltung ist während Wahlkämpfen und vor so wichtigen Abstimmungen gerade dann sinnvoll, wenn die Stellungnahmen aus anderen Ländern genutzt werden können, um populistische Solidarisierungseffekte und Patriotismusschübe zu erzeugen. Der Auffassung, dass die bevorstehende Abstimmung eine souveräne Entscheidung der türkischen Bevölkerung darstellt, ist aus Sicht der europäischen Länder beizupflichten, so schwer es fällt, auf die aktuellen Entwicklungen und insbesondere das Gehabe und die Rechtsbrüche und Übergriffe von Präsident Erdogan nicht klar Position zu beziehen, solange sie nur das türkische Staatsgebiet betreffen. Ein Angriff auf Griechenland wäre das Novum einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Nato-Mitgliedern. Sehr unwahrscheinlich. Der Zankapfel Zypern könnte eher Gelegenheiten zu Sticheleien bieten.

So., 19.03.2017 - 13:16 Permalink
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gorgias So., 19.03.2017 - 18:39

Antwort auf von Sigmund Kripp

Die Türkei war nie eine stabile Demokratie. Der Geburtsfehler liegt in der Staatsgründung, wo von oben herab eine Elite die Modernisierung und Zwangsverwestlichung in einer Tour de Force durchführen wollte. Das hat leider aber niemals geklappt und jedesmal wo das Volk durch Wahlen in eine andere Richtung ging als es von der kemalistischen Elite gewünscht war, wurde vom Militär "nachkorregiert". Doch diese Zeiten sind vorbei. Durch die stetige Entmachtung des Mlitärs und Erdogan bis zur quasi Vollendung mit dem letzten Streich kann man sich von diesem nicht mehr viel erwarten.
Die weißen Türken mit Westorientierung werden durch eine neue konservativ-islamische Elite aus schwarzen Türken ersetzt.
Keiner weiss wie lange noch Erdogan an der Macht sein wird, was aber gewiss ist dass nach Erdogan die Türkei nicht mehr die sein wird die es vorher einmal war. Wer sich noch so ein staatliches Gebilde in die EU wünscht der will doch das europäische Projekt in den Selbstmord treiben.

So., 19.03.2017 - 18:39 Permalink
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gorgias So., 19.03.2017 - 19:59

Antwort auf von Sigmund Kripp

So negtiv sich Italien mit Berlusconi entwickelt hat, so war Italien vor, während und nach Berlusconi eine Demokratie. Genau das Gegenteil kann man für die Türkei sagen. Das letzte Wort hatte bis jetzt immer eine autoritäre Instanz: Kemal Attatürk, das Militär, Erdogan. Ich sehe dieses Referendum sogar als einen Lakmustest. Wenn es nicht genug Widerstände gibt den für Erdogan gewünschten Ausgang zu verhindernn ist für mich die Türkei sowieso verloren. Wenn es gut ausgeht, so bleibt die Türkei höchst problematisch.
Was nach Erdogan genau passieren wird, kann niemand sagen, aber bei ihre Vorstellungen sit der Wunsch der Vater des Gedankens.

Was bleiben wird ist auch dass der Islam eine höchst problematische Religion bleiben wird. Sie braucht keine Reformation (diese hatte sie schon Wahabismus, Salafismus und IS) sondern eine Aufklärung, eine kritische Hinterfragung und eine Historisierung des heilgen Textes der Muslime (Siehe Hamed Abdel Samad, Hirsi Ali)

So., 19.03.2017 - 19:59 Permalink
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Martin Daniel Mo., 20.03.2017 - 10:03

Antwort auf von Karl Gudauner

Wenn sich ein Beitrittskandidat, als welcher die Türkei immer noch angesehen werden will, in eine entgegengesetzte Richtung bewegt, als in jene, die zur Erfüllung der Aufnahmekriterien erforderlich ist (https://de.wikipedia.org/wiki/Kopenhagener_Kriterien), dann muss es der EU erlaubt sein, sich in dessen Innenpolitik einzumischen. Vor allem, wenn für das Land insgesamt 4 Mrd. Euro reserviert worden sind - die nun blockiert werden sollen -, um im Hinblick auf einen Beitritt dessen rechtsstaatliche und demokratische Standards zu verbessern: https://www.tagesschau.de/inland/tuerkei-eu-gelder-beitritt-101.html
Andernfalls müsste die EU auch zum Abbau von Medienfreiheit und Gewaltenteilung in Polen oder Ungarn schweigen.

Mo., 20.03.2017 - 10:03 Permalink
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gorgias So., 19.03.2017 - 14:13

Wir Europäer sagen oft gern, jetzt warten wir mal, das wird sich schon legen, üben uns in Toleranz. Genau diese Haltung verachten die meisten Türken, sie reagieren nur auf ganz klare Signale.

Oktavia Brugger ist ein Mensch mit Herz und Verstand und alle grünen Gutmenschen sollten sich mit dieser Aussage auseinandersetzen. Das ist nicht nur die Mentalität vieler Türken sondern auch von vielen Eingewanderten.

So., 19.03.2017 - 14:13 Permalink
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Christian Mair So., 19.03.2017 - 19:44

Die Türkei ist bereits im Krieg. Die USA und Russland stehen zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg Seite an Seite und verteidigen gemeinsam die kurdischen Milizen der YPG, YPJ, SDF, YPG-I, YPJ-I in Nordsyrien. Die kurdischen Milizen Syriens sind die erfolgreichsten Gegener des Daesh. Die Kurden des Nordirak (Peshmerga) werden hingegen von manchen als Stellvertreter Erdogans bezeichnet.
Kurzum nicht die Griechen werden angegriffen werden, sondern es sind die Kurden in Nordsyrien. Und das passiert bereits.

So., 19.03.2017 - 19:44 Permalink
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Martin Daniel Mo., 20.03.2017 - 09:34

Wie Gorgias finde auch ich die Aussage Oktavia Bruggers, dass manche - wie die Türken - diplomatische und konziliante Reaktionen als Schwäche empfinden und sich davon keine Grenzen aufzeigen lassen, bemerkens- und teilenswert. Wir machen hier den Fehler von uns (europäisch liberal eingestellten Menschen) auf Menschen aus anderen Kulturkreisen zu schließen und zu glauben, Toleranz gegenüber Aggressivität würde sie beeindrucken, umdenken und selbst toleranter werden lassen. Es scheint hier gewisse Ähnlichkeiten mit dem rechtsstaatlichen Umgang von straffällig gewordenen Einwanderern zu geben. Anscheinend lässt sich jemand, der aus einem Land kommt, in dem Kleinkriminelle von der Polizei mit körperlicher Gewalt gemaßregelt werden, wenig vor Rückfällen abschrecken, wenn er, nachdem in flagranti erwischt, nach 24 Std. Festhaltung auf der Polizeiwache auf freien Fuß gesetzt und nach 1 Jahr zu ein paar Monaten auf Bewährung verurteilt wird und mangels Besitz die Schadensersatzzahlung sowieso nicht leisten kann. Damit will ich keineswegs eine inhumane Bestrafung fordern, sondern nur kulturell bedingte unterschiedliche Verhaltensmuster zu verstehen versuchen.
Das Interview gibt ausgezeichnete und z.T. neue Einblicke ins Innere dessen, was in der Türkei passiert und wie die Türken es sehen. Vielleicht ist die Hypothese vom Krieg mit Hellas nicht völlig abwegig - die Griechen rüsten in den letzten Jahren jedenfalls ebenfalls kräftig auf (auf Pump und mit Importen aus Deutschland). Wenn ein Nato-Land ein anderes angriffe, wäre das ein unglaublicher Präzedenzfall - ob das ein Wunschtraum Putins sein könnte? Damit sich die Nato heraushielte, müssten die Türken wohl Griechenland solange z.B. mit territorialen Verletzungen provozieren bis die Griechen ein Kampfflugzeug abschießen, um selbst als Aggressor dazustehen. Grundsätzlich denkbar. Hoffentlich unwahrscheinlich.

Mo., 20.03.2017 - 09:34 Permalink