Kultur | Essay

Der Schwarm

Die langjährige Rektorin der Freien Universität Bozen Rita Franceschini hat mit dieser Parabel über Zugvögel das Literaturfestival WeinLesen in Neustift eröffnet.
Vögel
Foto: upi
Auf steigt der Schwarm, zieht Wellen durch die Luft und überschlägt sich in einem Fort, unvorhersagbar, schimmernd am Himmel wie andauernd wechselnde Vexierfiguren. 
 
Die Zugvögel. Wo mögen sie im Winter gewesen sein? Was haben sie alles gesehen und gehört? In Gedanken habe ich sie im Herbst bis nach Afrika begleitet, bis sie entschwunden waren. Weggeflogen waren sie, auf eigenen Routen, die – Flugzeugstrassen gleich – sie nach Süden geführt haben. Was haben sie von da oben alles gesehen, gehört? Welche Gesänge, Sprechweisen und Laute haben sie von uns Menschen wahrnehmen können? Denn Sprachen haben mit Vögeln einiges gemein, etwa, dass sie sich nicht an Grenzen halten.
 
Der Schwarm hebt ab, fliegt kurvenreich über den Balkan nach Zypern: Langsam verlässt er hier den Raum, in dem überwiegend Deutsch gesprochen wird; da und dort noch Ecken und Flecken von Sprachinseln: das Fernsental, das für Südtiroler Dialektsprecher verständlich ist, und die ganz eigene Luserner Art der altbairischen Sprache. Diese und andere Sprachinseln sind lebende Monumente, die bezeugen, wie Bevölkerungsgruppen – Baiuwaren – im frühen Mittelalter aus dem Norden über die Alpen hierher gezogen sind, wie so manche damals, und im Süden ansässig zu wurden. Heute, drängt es die Leute eher von Süden nach Norden.
Sprachen haben mit Vögeln einiges gemein, etwa, dass sie sich nicht an Grenzen halten.
Der Schwarm zieht weiter. Nach und nach sind die überflogenen Gebiete von romanischen Dialekten und der italienischen Umgangssprache geprägt; das weite, flache Gebiet der venezianischen Sprechweisen. Die Lagune von Venedig überflogen geht es ab im Bogen nach Osten den südlichsten Ausläufern des Friaulischen entlang: Eine Sprache, die mit dem Ladinischen einen gemeinsamen Sprachtyp bildet; sprachliche Cousins, sozusagen, von hier.
Der Schwarm erreicht Triest, wo auch viel und stolz Dialekt gesprochen wird, erreicht die weißen Kalkküsten der istrischen Halbinsel: an einem gleißend sonnigen Tag am Meer, über das eine kühle Brise weht. Slovenisch, Kroatisch, Reste von Venezianisch, den Inseln an der dalmatischen Küste entlang – und auf nach Zypern!
 
Sie sind beneidenswert, die Vögel, weil für sie Grenzen – Ländergrenzen – nicht zählen. Es ist für sie nicht von Belang, welches Abkommen unterschrieben, welches Dekret was bestimmt, wie hoch die Steuern sind, welcher Flughafen mit einer Landebahn erweitert wird. Sie landen wo sie wollen oder wo sie ihr Instinkt hintreibt. Für sie gelten andere Gesetze.
 
Auf-steigen in die Lüfte: Auch letzten Herbst ist ein Vogelschwarm den Stiefel entlang nach Nordafrika gezogen: Von hier zum Gardasee, dann über die Poebene, den Apennin hinunter. Weit gefehlt, wenn man annimmt, dass hier nur Italienisch parliert wird; hört man den Leuten in den Bars zu, horcht man in die Familien hinein, sieht es vielfältiger aus. Wären Sprachen Blumen, dann läge ein bunt geschecktes Gebiet vor uns.
Es gibt mehr als ein Dutzend verschiedene Sprachminderheiten, die man überfliegen kann: An der Adriaküste haben sich seit dem hohen Mittelalter Albanischsprachige Gemeinschaften niedergelassen, d.h. in der Regionen Molise, Basilicata, in den Abbruzzen, in Kampanien, Apulien, Kalabrien und Sizilien. Dies Albanisch – Arberësh genannt – wird nun auch in der Schule gelehrt; es ist vom Aussterben bedroht, wie viele weitere Minderheitensprachen auch. So ergeht es auch Kleinstgruppen von Kroatisch-Sprechenden im Molise und griechisch geprägten Dialekten in Apulien und Kalabrien: heute nur noch wenige tausend Sprecher, schätzt man.
Sie sind beneidenswert, die Vögel, weil für sie Grenzen – Ländergrenzen – nicht zählen. Es ist für sie nicht von Belang, welches Abkommen unterschrieben, welches Dekret was bestimmt, wie hoch die Steuern sind, welcher Flughafen mit einer Landebahn erweitert wird.
Zur Buntheit der Sprachlandschaft Süditaliens tragen ferner eine Vielzahl von Dialekten bei, die einen Ursprung in Norditalien haben: franko-provenzalische Sprachinseln aus dem Piemont gibt es nämlich in Sizilien, aber auch in der Basilicata und wieder in Kampanien: Auch dies weist auf frühe Migrationen hin, von Nord nach Süd; und diese ihre Herkunft aus dem Norden ist auch nach Jahrhunderten noch beim alltäglichen Reden fassbar. Eigentlich: unfassbar.
Unser Vogelschwarm überfliegt Apulien: die bunte Sprachwiese zeigt, nebst Italienisch und dem apulischen Dialekt, Arberësh in fast zwei Dutzend Gemeinden, Provenzalisch in Guardia Piemontese, sowie Griechisch und eine handvoll Gemeinden, in denen der Dialekt eben norditalienischer Herkunft ist.
 
Sprachen werden weitergeben, in der Familie, in der Umgebung, in der Schule, ... oder auch nicht. Sprachen können aussterben, aufgegeben werden, wenn eine neue Art der Kommunikation sich verbreitet, wenn eine andere Sprache moderner erscheint, mehr verspricht, die damit verbundene Kultur attraktiver erscheint. Somit hat es eine Gemeinschaft in der Hand, ob sie die Sprache weitergibt oder nicht – sofern sie sich als Gemeinschaft sieht. Auch dabei kann man von Vögeln lernen: Die Kraft des Schwarms macht es aus, ob man das Ziel erreicht. Es ist der Zusammenhalt, der zählt.
Den Vögeln ist es aber gleich, ob eine Sprache schon Jahrhunderte in einem Gebiet gesprochen wird, oder ob deren Sprecher erst seit kurzem hier ansässig sind. Immigrantensprachen nennen wir sie, vergessend, dass in langen Zeiträumen gedacht alle Sprachen eingewandert sind; und dass uns ein Gebiet nicht einfach ‚gehört‘. Wir teilen es, als SprecherInnen, mit anderen, im Austausch. Wir voltigieren mit Sprachen, flexibel, wirbeld, quirlig, oder ernst und grimmig. Eine reicht uns dafür meist nicht – wir brauchen eine ganze Palette, über verschiedene Sprachen und Dialekte hinweg. Zum Brummen bis hin zum Solfeggio.
 
 
Im Winter fehlen sie mir, die Vögel. Im Frühling, wenn ich dann einen Gesang nach dem anderen wieder erkenne, wenn abends die Amseln von den Dachgiebeln aus mit ihrem Gesang wetteifern oder das Hausrotschwanzpaar wieder im Rolladenkasten nistet: Ich bilde mir ein, es seien dieselben Vögel wie im letzten Jahr, doch eigentlich weiß ich es nicht mit Bestimmtheit. Erkenne ich ihren Gesang?
Vögel haben eigene Akzente, innerhalb einer Art. Ein Buchfink in Donaueschingen im Schwarzwald hört sich nicht gleich an wie ein in Sterzing oder Tolmezzo. Der eine schwäbelt, der andere zwitschert bairisch, der dritte singt auf Friaulisch. Ja, Vögel haben eigentliche Dialekte. Der Vogelgesang kann sich anpassen: Papageien; oder Vögel, die Händytöne nachahmen können.
Bei den Vogeldialekten geht es aber meist nicht darum, dass ein einzelner Vogel etwas nachahmen kann, sondern dass ganze Gruppen von Vögeln einen gemeinsamen Dialekt haben. Buchfinken ganz besonders. Sie haben einen Singsang, der nur in einer Region vorkommt und sich in kleinen Einzelheiten vom Gesang der Artgenossen in der Nachbarregion unterscheidet.
Mittels ihres besonderen Gesangs erkennen sich Buchfinken untereinander und verteidigen ihr Territorium gegenüber anderen Artgenossen. Die Dialektgrenze ist dabei auch Brutgrenze. Ihre Dialekte dienen also dem Zusammenhalt und der Territoriumsmarkierung gegenüber fremden Buchfinken.
Man stelle sich nun vor, wenn ein Buchfink aus Versehen in die falsche Gruppe gerät: Sein Zwitschern verrät ihn gleich! Kaum zu denken, was mit ihm passiert: Man wird wohl nicht viel Federlesens mit ihm machen. Wir Menschen sind natürlich nicht so!
Sie haben, wenn sie hoch in den Lüften fliegen, uns einiges voraus: den Weitblick bspw., den Weitblick über Grenzen hinweg.
Auch unter Vögeln ist also nicht alles Eitel Freude. Sie haben Feinde: in der Luft und am Boden. Menschen machen Jagd auf sie. Auch Vögel werden unter Kriegen zu leiden haben, die wir Menschen führen. Man kann sich vorstellen, dass sie schnell versuchen, sich aus dem Staub zu machen, wenn Bomben einschlagen. Sie werden sich wohl sagen: Ab in ruhigere Gefilde! Weg von diesen lauten Menschen. 
 
Können wir einen Teil der Freiheit zurückerobern, die wir mit dem Fliegen verbinden, ohne dass wir dafür gleich in ein Flugzeug steigen? Was machen uns denn die Vögel vor? Ja, sie haben, wenn sie hoch in den Lüften fliegen, uns einiges voraus: den Weitblick bspw., den Weitblick über Grenzen hinweg.
Beneidenswert!
Möchten wir es ihnen nicht manchmal nachmachen? Auf und ab in die Lüfte! Überblicken, Weit-blicken. Es bleibt das Träumen über die dichte Vorstellung.
 
 
Auf und los, in kurvenreichem Flug, Wellen in die Luft schlagend.
Dichte Vorstellung: Ein Vogelschwarm hebt ab im Herbst, mit einem Schwenk über die Alpen nach Westen, mit Ziel Südspanien, Marokko. Ab in Richtung Vinschgau, hinauf und weiter ins Bündnerland, wo auch Rätoromanisch gesprochen ist: ein weiterer Cousin – sozusagen – des hiesigen Ladin. Dieselben Personen reden daselbst auch Schweizerdeutsch; grüssen also mit einem Allegra hier und einem Grüezi dort; und zwischendurch mit Fremden wird auch mal Hochdeutsch bemüht, mit unüberhörbarem alemannischem Zungenschlag. Dann geht’s weiter über einige deutsche Walsersiedlungen – wie Davos – und über die atemberaubend schöne Hochebene, das Engadin – das wieder Rätoromanisch geprägt ist –, dann wieder hinunter, diesmal italienischsprachigen Tälern nach – dem Bergell, dem Puschlav, dem Calancatal und dem Misox –; und noch weiter hinunter, bis der Vogelschwarm über dem Tessin schwebt, voltigiert.
Im Tessin, über den lombardischen Dialekten, dann auf ins Maggiatal, bis zum hintersten Dorf, wo wieder eine deutschsprachige Walsersiedlung – Bosco Gurin – die Landschaft prägt, und damit eine weitere Siedlung, die sich am südlichen Alpenkamm, seit dem Mittelalter, gebildet hat: aus den deutschsprachigen Gebieten des Wallis – daher der Name Walser –, in der Schweiz, sind vor Jahrhunderten Gruppen mit ihrem Vieh über die Hochebenen nach Osten ins Bünderland und nach Süden über die Alpen gezogen; heute zählt man Walser in einem guten halben Dutzend Gemeinden an der Grenze zwischen dem Aostatal und dem Piemont. Sie haben eigene Dörfer gebildet, sprechen noch ihre alten alemannischen Mundarten; noch.
Hüben wie drüben m Alpensüdkamm: hier bairische Dialekte, dort alemannische Sprachinseln.
Es sind Sprachen von Bevölkerungsgruppen, die sich im Mittelalter bewegt haben, ausgezogen sind, um besseres Land zu finden, um zu überleben, oder aus anderen Gründen. Zugvögel auch sie?
Oh ja, Menschen sind Zugvögel, es zieht uns weg, getrieben aus Not oder aus Zuversicht auf ein besseres Leben oder aus Neugier – so früher und so auch heute.
 
Sich abschwingen, niederlassen, ruhen – einen Sommer lang.
Nieder geht der Schwarm, überschlägt sich in seinen Vexierbildern ein letztes Mal.