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„Irgendwie schaffen wir es ja doch“

Beim transnationalen Onlinemagazin „Europe&Me“ schreiben junge Freiwillige aus 50 Ländern über Europa und die EU – ein vielfältiges wie persönliches Stimmen-Mosaik.
Europeandme
Foto: Europe&me

Sarah Gerwens promoviert in London in European Studies und ist Teil des Redaktionsteams von Europe&Me. Im Interview schildert sie, wie das Magazin Europa näher an die Menschen bringen will, welche Rolle die Idee von Europa im Kolonialismus gespielt hat und warum ein transnationaler Journalismus wichtig ist.

Auf „Europe&Me“ begegnet die Leserschaft einem ungewohnt bunten Mix an Artikeln: Eine politische Analyse über Moldau, ein Städteportrait von Stockholm, ein Interview mit einem jungen Litauer Comedian, und ein Kommentar über das Rauchen. Was steckt hinter diesem Projekt?

Sarah Gerwens: Wir sind ein Onlinemagazin, mit der Motivation junge Menschen aus Europa aber auch außerhalb der Grenzen Europas zum Schreiben zu bringen. Alles ehrenamtlich. Wir wollen Konversationen über Europa anstoßen, nationale und internationale Medien-Ereignisse von einer europäischen Perspektive aus kommunizieren. Das Ereignis muss nicht in Europa passiert sein, und es muss auch nicht von einer Europäerin geschrieben sein. Wir sind uns bewusst, dass ein gewisser eurozentristischer Bias in unserem Magazin herrscht, dagegen wollen wir arbeiten. Wir wollen auch gegen den starken Brüssel-London- Berlin-Bias arbeiten und freuen uns immer, wenn Leute zum Beispiel über Osteuropa schreiben, oder über Südeuropa.

Wie cool wäre es, wenn wir die Medienlandschaft europäischer gestalten könnten

Was an eurem Magazin auch ins Auge fällt: die Texte sind nicht in klassische Rubriken wie Politik oder Wirtschaft unterteilt, sondern nach Körperteilen geordnet. Warum?

Der Sinn war, ein Magazin zu konzipieren, das den ganzen Menschen in Betracht zieht, das ganze Leben von EuropäerInnen. Deswegen also Brain – das ist Politik, das ist Analyse. Heart – da geht es um Gefühle und Geschichten, die emotional etwas aufgeladener sind. Diaphram – das ist Satire, und alles, was erheiternd ist. Sex – da geht es um die Rechte von Frauen oder um reproduktive Gesundheit. Schließlich haben wir Legs – da geht es um alles, was mit Bewegung zu tun hat, wie Reisen oder Arbeit. Unsere SchreiberInnen kommentieren authentisch darüber, wie sie Europa von ihrer persönlichen Sicht aus erleben.

Daher ist euer Motto „Make Europe personal“. Warum wollt ihr Europa näher an die Leute bringen?

Ein Verständnis für die verschiedenen Lebensweisen und Ideen von Europa ist wichtig, um konstruktiv weiter miteinander leben zu können und Vorurteile abzubauen. Doch für viele Menschen kommt das in ihrem täglichen Leben gar nicht vor. Wir sind die transnationale Jugend, die, die Erasmus gemacht haben. Für uns ist Europa fassbar. Aber wir wollen auch hinterfragen, was Europa in den nationalen Ländern bedeutet für Menschen, die nicht schon in anderen EU-Ländern gelebt haben und mehrere Sprachen sprechen. Was bedeutet Europa für eine Künstlerin in Lettland? Was bedeutet Europa für einen jungen Studierenden in Spanien?

 

 

Sind in eurem Team auch verschiedene Nationen vertreten?

Das Redakteurinnen-Team ist relativ klein, wir sind sieben Leute, und die meisten sind deutsch. Aber seit der Gründung von Europe&Me haben schon Schreibende aus über fünfzig Ländern für uns geschrieben. In Europa haben wir fast alle Länder abgedeckt, von Malta bis nach Schweden, außerhalb Europas schreiben AmerikanerInnen, Mexikanerinnen und andere für uns, auch viele östliche Länder sind vertreten.

Wann und wie ist das Magazin entstanden?

2008 in Berlin hat es angefangen. Eine Stiftung wollte Projekte zu Europa finanzieren und eine Gruppe Studierender hat sich überlegt, wie cool wäre es, wenn wir die Medienlandschaft europäischer gestalten könnten. Sie hatten das Gefühl, dass Medien in Europa sehr national konsumiert und produziert werden. Sie hatten diesen Traum von einem transnationalen Journalismus, um eine europäische Identität zu konstruieren.

Gibt es denn diese gemeinsame Identität? Die EU wird ja oft als rein wirtschaftliches Projekt kritisiert, ohne gemeinsame politische oder gesellschaftliche Identität.

Eine gewisse europäische Sphäre gibt es schon, also jungen Menschen on the move, die privilegiert genug sind. Aber ob es eine größere europäische Sphäre gibt... als Idee glaube ich schon. Links und rechts des politischen Spektrums und der Gesellschaft wird immer wieder eine Idee von Europa oder von EuropäerInnen berufen. Aber die wird natürlich von jedem anders befüllt. Das ist auch das spannende, mit dem wir bei Europe&Me umgehen.

Wie befüllt Europe&Me die Idee von Europa?

Was uns wichtig ist: Unser Europaverständnis hört nicht bei der EU auf. Wir inkludieren absichtlich Länder und Perspektiven, die nicht zur EU gehören aber trotzdem was zu Europa zu sagen haben, weil sie in Europa sind oder zu Europa dazugehören wollen.

Europa ist eine geografische Entität, aber auch eine geschichtlich aufgeladene Idee. Europa ist das, weswegen europäische Länder kolonisiert haben. Europa ist das, was Parteien hochhalten, wenn sie sagen, wir wollen die anderen nicht, weil die sind nicht europäisch. Was auch immer das heißen soll.

Ihr macht transnationalen Journalismus. Gibt es eine transnationale Leserschaft?

In Europe&Me gibt es eine europäische Leserschaft, aber natürlich ist die begrenzt. Auch weil wir nur in English publizieren, sind wir natürlich nur einer bestimmten Gruppe von Menschen zugänglich. Das sind meistens junge Menschen, die online lesen und Englisch lesen. Es hängt auch stark davon ab, wer gerade schreibt. Im letzten Issue wurde zum Beispiel ein Künstler aus Litauen interviewt, und da hatten wir dann plötzlich auf Instagram achtzig Likes, alle von litauischen Accounts.

 

 

Unter anderem versucht ihr diesen transnationalen Blickwinkel mit dem Format „Young Europeans“ zu geben.

Genau, da geht es immer um ein bestimmtes Thema, zum Beispiel um die Frage: „Wie war dein erstes Mal?“ Teilweise stellen wir sie online, und fragen unsere Follower, ob sie Lust haben, diese anonym zu beantworten oder wir mobilisieren persönliche Netzwerke. Immer mit dem Ziel, verschiedene Altersgruppen und verschiedene geografische Flecken von Europa abzubilden, um zu gucken: wie denken denn die Leute zum Beispiel über ihr erstes Mal? Wie sieht es denn aus bei Menschen, die vielleicht in der DDR aufgewachsen sind? Wie ist es in Italien? Wie ist es in der Ukraine? Von solchen Artikeln lerne ich immer ganz viel, und das gibt den Spirit von Europe&Me besonders gut wieder.

Was bedeutet Europa für eine Künstlerin in Lettland? Was bedeutet Europa für einen jungen Studierenden in Spanien?

Du promovierst in London in European Studies und beschäftigst dich in deiner Forschung mit Rasissmus und dem Beriff Race in deutschen Schulen. Was ist Europa für dich?

Für mich ist Europa zuerst eine geografische Entität, die sich auf einem Kontinent befindet. Aber Europa ist auch eine geschichtlich aufgeladene Idee. Europa ist das, weswegen europäische Länder kolonisiert haben. Die haben das im Namen einer europäischen Zivilisation gemacht. Europa ist das, was von rechts bis links Parteien hochhalten, wenn sie sagen wir wollen die anderen nicht, weil die sind nicht europäisch. Was auch immer das heißen soll. Das gehört auch zum kritischen Verhältnis mit Europa, zu schauen: Wofür wird es mobilisiert, um andere auszuschließen oder einzuschließen?

Neben pro-europäischen, finden bei euch also auch kritische Stimmen Platz?

Wir sind grundsätzlich unparteiisch und apolitisch. Aber natürlich sind wir pro-europäisch ausgerichtet, das ist ja auch irgendwie der Sinn des Magazins. Das beschränkt natürlich auch Stimmen, denn man wird bei uns nie einen Artikel finden, wo jemand schreibt, wir sollen nur mehr protektionistisch leben, alle Grenzen schließen und alle anderen EU-Länder sind doof, nur meins ist das tollste. Dafür gibt es andere Medien. Aber EU-kritische Artikel haben wir schon gepostet. Kritik an Europa gehört dazu, um ein gutes Verhältnis zu allen Identitäten zu haben. Eine kritiklose Akzeptanz von allem ist sehr gefährlich, ob politisch oder persönlich.

Und die positive Seite Europas?

Europa ist natürlich auch eine positive Identität. Es ist ein Friedensprojekt, wo Leute sich zusammengefunden haben und gesagt haben: OK, wir sind so viele Nationen auf einem sehr kleinen Fleck – wie schaffen wir es gemeinsam positiv zusammenzuleben? Das gehört ja auch zu Europa. Und das ist motivierend zu sehen: Irgendwie schaffen wir es ja doch.