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Telefónica

Vor 85 Jahren, am 17. Juli 1936, brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Seitdem erschienen jede Menge Bücher zum Thema. Der vielleicht beste Roman ist der einer Wienerin.
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Foto: Edition Atelier

Die Telefónica ist Madrids Fernmeldezentrale. Von Beginn des Bürgerkriegs an wird das charakteristische Gebäude immer wieder Ziel von Angriffen. Die Aufständischen unter dem General Francisco Franco haben einen Belagerungsring um die Hauptstadt gezogen. Bei den Bombardements sterben täglich Dutzende. Madrid wird fallen, prophezeien die zahlreichen in Madrid akkreditierten und trotz der großen Gefahr in der Telefónica stationierten  Journalisten. Doch Madrid fällt nicht.

Trotz all der didaktischen Ansätze ist der Roman keinesfalls schematisch oder gar langweilig.

Viele der Kriegsberichterstatter stammen aus dem Ausland. Unter ihnen ist die Wienerin Ilsa Barea-Kulcsar. Auch sie geht in der Telefónica ein und aus. Der dreizehnstöckige Kasten, gerade mal einen Kilometer von der Front entfernt, steht symbolisch für den Verteidigungskampf des demokratischen Spaniens gegen die von Mussolini und Hitler unterstützten faschistischen Aggressoren. Die Flugabwehrgeschütze auf dem Dach sind veraltet und die Jagdflieger, die Francos Bomber attackieren sollen, zu spärlich. Die Übermacht ist auch deshalb so groß, weil Italien und Deutschland Teile ihrer Luftwaffe samt Piloten nach Spanien entsandt haben. Die gewählte Regierung in Madrid, von Europas Staaten im Stich gelassen, erhält nur Unterstützung durch die Sowjetunion – und muss diese teuer mit ihren Goldreserven bezahlen. Allein von ihrem Idealismus getrieben verteidigen zudem Freiwillige aus vielerlei Nationen die spanische Demokratie.


Hauptperson im Roman Telefónica ist die Journalistin Anita Adam. Die Figur ist autobiografisch angelegt. Ilsa Barea-Kulcsar arbeitete auch im wirklichen Leben in der Zensurbehörde, die in der Telefónica untergebracht war. Anitas Aufgabe ist es zu verhindern, dass über Zeitungsberichte militärisch verwertbare Informationen an den Feind gelangen. Offenbar arbeitet ihre Abteilung sehr erfolgreich, denn Madrid wird auch die nächsten Jahre nicht fallen, bis fast zum Ende des Bürgerkriegs.
Die Handlung spielt während vier Tagen im Dezember 1936. Sie ist wie ein Kammerspiel angelegt, ohne den formalen Grenzen eines Theaterstücks zu unterliegen. Alles spielt sich in den verschiedenen Stockwerken der Telefónica ab, welche die Protagonisten nur des Nachts verlassen. Manche schlafen auch am Arbeitsplatz. Die Keller des Gebäudes sind zudem ständig belegt mit Familien, die vor den Faschisten geflüchtet sind.

Auch andere Protagonisten im Roman durchlaufen einen Lernprozess. Ein Journalist gibt seine Neutralität auf, nachdem er die Opfer sieht, die ein faschistisches Bombardement gefordert hat.

Die Situation ist also angespannt. Hinzu kommen die Zwistigkeiten unter den Verteidigern der Telefónica – eine Art Mikrokosmos des Bürgerkriegs. Kommunisten, Sozialisten, unabhängige Marxisten und Anarchisten misstrauen sich, belauern sich, giften sich an. Mittendrin ist Anita, die mit allen auskommen muss und Gefahr läuft, in diesem Streit auf der Strecke zu bleiben. Einmal entgeht sie nur knapp einer Liquidierung, als ein kommunistischer Agent ihr „den „Spaziergang geben“ will, wie der hinterrücks ausgeführte Fangschuss beschönigend genannt wird.
Anita überlebt, weil sie lernt, auf was es ankommt: eine persönliche Beziehung zu all jenen herzustellen, mit denen sie es zu tun hat, ohne diesen nach dem Mund zu reden und die eigene Würde zu verlieren. Sehr bald wird ihre Arbeit von den meisten anerkannt und auch wertgeschätzt, da sie ihren Zweck erfüllt, ohne die Wahrheit abzuwürgen. Der Respekt für die Person wächst automatisch mit. 


Auch andere Protagonisten im Roman durchlaufen einen Lernprozess. Ein Journalist gibt seine Neutralität auf, nachdem er die Opfer sieht, die ein faschistisches Bombardement gefordert hat. Einige der Frauen im Keller, die bislang brav die Weibchenrolle in der männerdominierten spanischen Gesellschaft ausgefüllt haben, nehmen sich die emanzipierte Anna zum Vorbild, machen sich für die Gemeinschaft nützlich und entwickeln neues Selbstbewusstsein. Die Anarchisten in der Telefónica, nur ungern von politischen Kommissaren bevormundet, revidieren ihr Urteil über die Deutsche, weil sie erkennen, dass sich mit ihr auch ganz pragmatisch Lösungen finden lassen, unter Gleichberechtigten.
Trotz all der didaktischen Ansätze ist der Roman keinesfalls schematisch oder gar langweilig. Ilsa Barea-Kulcsar wechselt Perspektiven, flicht Beschreibungen ein, variiert das Tempo, beherrscht den reflektierenden inneren Monolog ebenso wie den handlungstreibenden Dialog, entwickelt ihre Figuren und lässt sie manchmal ratlos zurück.  

Fragt sich, warum die Autorin nicht einen ähnlichen Ruf genießt wie, greifen wir mal ganz hoch, ein George Orwell, André Malraux, Ernest Hemingway oder Gustav Regler?

Eine männliche Hauptperson gibt es auch. Zwischen Agustín Sánchez, dem Kommandanten, und Anita entspannt sich eine Liebesgeschichte, obwohl Sánchez neben einer Ehefrau auch eine Geliebte besitzt, die beide ebenfalls in der  Telefónica einquartiert sind. Hier liegt die einzige Schwäche des Romans: Während Paquita, die Geliebte, neben Schablonenschönheit und Intrigantentum, welches mehr der Unbekümmertheit denn reiner Bosheit geschuldet ist und einen Rest an Sympathie ausstrahlen lässt, auch mit einigen Vorzügen aufwarten kann, ihrer Furchtlosigkeit und Direktheit beispielsweise, wird die Ehefrau Pepita nur holzschnittartig dargestellt, als verwöhnte Bürgertochter, die in Kategorien denkt und sich in ihrem Gattinnenstatus sakrosankt wähnt. 
Von diesem Detail abgesehen, ist Ilsa Barea-Kulcsar ein richtig großer Wurf gelungen. Der Roman taucht zwar in eine ganz andere Zeit ein, wirkt aber ebenso zeitlos, indem er anschaulich die beklemmende Atmosphäre und entstehenden Konflikte zwischen Eingeschlossenen schildert, die sich freiwillig in eine Situation begeben haben, aus der es so leicht kein Entrinnen gibt. 
Fragt sich, warum die Autorin nicht einen ähnlichen Ruf genießt wie, greifen wir mal ganz hoch, ein George Orwell, André Malraux, Ernest Hemingway oder Gustav Regler? Auch sie haben sich literarisch mit ihrer Spanienerfahrung auseinandergesetzt, ohne dass, Orwells Mein Katalonien vielleicht ausgenommen, ihre Qualität diejenige Ilsa Barea-Kulcsars überragt. Gerade Hemingway wird in Wem die die Stunde schlägt, seinem längsten und nicht unbedingt besten Roman, manche Sentimentalität nachgesehen. Die stets stilsichere Ilsa Barea-Kulcsar wurde dagegen kaum wahrgenommen. Vielleicht, weil Kriegsromane von Männern geschrieben werden müssen? 

Ihr großes Ziel, Telefónica als Roman zwischen Buchdeckeln erscheinen zu lassen, erfüllte sich nicht.

Zum Glück hat der Steirer Schriftsteller Georg Pichler Telefónica nach sieben Jahrzehnte währendem Dornröschenschlaf den Stoff wieder ausgegraben und mitgeholfen, dass ein Buch daraus wurde. In seinem Nachwort versucht er Antworten zu finden, warum der verdiente Erfolg ausblieben war. Am Talent hat es wohl kaum gelegen. Auch ist der weitere Lebensweg der Autorin typisch für die Schicksale zahlreicher Antifaschisten nach dem Bürgerkrieg. 
Über Paris ging Ilsa Barea-Kulcsar zusammen mit ihrem Partner Arturo Barea, dem zeitweise Kommandanten der Telefónica, ins Exil nach England. Ilsa verdiente als Dolmetscherin kaum den Lebensunterhalt für die gesamte Familie, zu der auch ihre knapp geretteten jüdischen Eltern zählten. Viel Zeit fürs Schreiben blieb nicht, erst recht nicht, nachdem Arturo in der Nacht zu Heiligabend 1957 einem Herzinfarkt erlag.
Acht Jahre später ging Ilsa Barea-Kulcsar nach Österreich zurück. In Wien kam sie bei der Gewerkschaft unter, als Bildungsfunktionärin. Ihr großes Ziel, Telefónica als Roman zwischen Buchdeckeln erscheinen zu lassen, erfüllte sich nicht. Zusätzlich warfen sie gesundheitliche Probleme zurück. Die Krankheiten nahmen zu, die Produktivität ab. 
Ilsa Barea-Kulcsar starb am Neujahrstag 1973. Sie war nur 70 Jahre alt geworden. So blieb es bei der einzigen Veröffentlichung von Telefónica in der Wiener Arbeiter-Zeitung, in Etappenform im Frühjahr 1949. Sieben Jahrzehnte später ist der Autorin, wenn auch posthum, doch noch so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren.