Kultur | Salto Afternoon

Fronten

Vor wenigen Tagen ist der Kriminalroman von Leonhard F. Seidl erschienen. In Meran hat er daran gearbeitet. Dort wird er ihn auch vorstellen.
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Foto: Foto Katrin Heim

salto.bz: Sie haben in Meran an ihrem neuen Buch „Fronten“ gearbeitet. Nun ist es erschienen. Wie fruchtbar war ihr Aufenthalt in der Kurstadt?
Leonhard F. Seidl: Ein Stipendium bietet immer die Möglichkeit inne zu halten, weil man vom Alltag verschont bleibt. Das ermöglicht auch einen anderen Blick auf den im Entstehungsprozess befindlichen Roman. Gerade an Fronten habe ich am härtesten von allen meinen vier Romanen arbeiten müssen, habe den größten literarischen Entwicklungsprozess vollzogen. Und wo lässt es sich besser durchatmen als in Meran, mit seinem südlichen und dennoch alpinen Flair.

Sie behandeln in Ihrem Roman einen realen Fall...
Der reale Fall geschah 1988 im oberbayerischen Dorfen. Damals handelte es sich um einen jungen Mann, aus dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, der sich selbst als »Nazi« bezeichnete. Den Fall in einem Roman zu erzählen, war für mich u. a. insofern interessant, weil ich auch ihm eine Stimme geben musste, da Fronten aus drei Perspektiven erzählt wird. Seine Erzählperspektive war die des »Eingeborenen«, der konsequent aus der Innenperspektive im bayerischen Sprachduktus erzählt wird, den übrigens auch Nicht-Bajuwaren verstehen. Um ihn lebendig und stimmig sprechen zu lassen, habe ich Ernst Jünger einfließen lassen, aber auch den österreichischen Querdenker Werner Kofler. Leider hat wenige Monate nachdem das Buch fertig war, eine ähnliche Person wie Keilhofer im Münchner Olympiazentrum mehrere, vor allem migrantische Menschen, getötet. Das war äußerst gruselig für mich. Und so ist Fronten ein exemplarischer Fall geworden.

Markus zieht die Spritzen auf. Schlägt die Decken zurück. Großvater seine dürren Haxen. Von Adern durchzogen. In denen das Wissen fließt, das er an sein Enkel weitergeben hat: Mühlhiasl, Chemtrails, Illuminaten, indisch Springkraut, Tollkirschen, der Jud und die Muselmannen. 

Wieviel Fiktion braucht die Realität um sie für Literatur aufzubereiten?
Sie benötigt Abstand von den Ereignissen, vor allem in emotionaler Hinsicht. Wenn ich zu wütend oder zu betroffen von einem Ereignis bin, dann besteht die  Tendenz zu moralinsauren Texten mit erhobenem Zeigefinger. Ich aber möchte spannende, literarische Geschichten erzählen, die Leerstellen lassen. Ausgangspunkt sind für mich emanzipierte Leser*innen, deren persönliche Lesart ihr Welt- und Menschenbild bereichert.

„Fronten“ ist ein Kriminalroman mit gesellschaftskritischen Betrachtungen. Zwei Fliegen mit einer Klappe?
Meines Erachtens gibt es kein besseres Format als den Kriminalroman um eine Gesellschaft zu sezieren und zu betrachten. Darin kann die dem heutigen Wirtschafts- und Herrschaftssystem immanente Gewalt hervorragend beschrieben werden. Sie beschränkt sich keineswegs auf  Verbrecher*innen, die man a la Miss Marple ins Gefängnis sperrt und dann wird alles gut. Zudem kann ich spannende Geschichten erzählen, deren Lektüre »beißt und sticht«, um es mit Kafka zu sagen. Und die Leserinnen und Leser fesselt.

Ihr Roman ist eine Beobachtung der politischen Situation heute. Ist Literatur, das Schreiben, mitunter auch eine Flucht aus dem Alltag?
Nein, nie (lacht). Natürlich. Eine eigene Welt zu erschaffen bedeutet Entscheidungsfreiheit. So kann ich im Schreiben Szenarien durchexerzieren. Gerade bei »Fronten« habe ich sehr viel über mich selbst, andere Kulturkreise und gesellschaftliche und mediale Mechanismen gelernt.
Ich recherchiere immer viel, aber hier musste ich außerordentlich viel lesen und mich mit Bekannten und Freund*innen austauschen. Denn zwei der Menschen im Roman stammen aus mir fremden Kulturkreisen, aus Kurdistan und dem ehemaligen Jugoslawien. Es war mir auch eine große Freude mit Intertextualität zu spielen. Und wenn dann plötzlich der Großvater mit dem Aluhut in der Badewanne sitzt, habe ich mir, bei aller Tragik, die der Situation durchaus auch innewohnt, selbst ein Schmunzeln hervorgelockt.

Werden Sie nach Meran zurü​ckkehren?
Ja, am 13. Oktober lese ich im Ost-West-Club in Meran beim Festival: Sprachspiele.