Gesellschaft | SIgmundskron 1957

Silvius, mein Pate.

Gerhard Mumelter war am 17. November 1957 als Zehnjähriger mit seinem Vater auf der Kundgebung von Sigmundkron. Eine Kindheitserinnerung.
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Foto: Land Südtirol
Zum Zeitpunkt der Kundgebung von Sigmundskron war ich gerade zehn Jahre alt. Was eine Demonstration war, wusste ich nicht recht. Jedenfalls hatte ich nie Gelegenheit gehabt, selbst eine zur erleben, auch weil es in Südtirol keine gab. Also ersuchte ich meinen patriotisch gesinnten Vater, mich mitzunehmen. 
Dagegen erhob meine Mutter energisch Einspruch - mit der durchaus berechtigten Begründung, Kinder hätten auf Kundgebungen nichts zu suchen. Schliesslich setzte sich mein Vater durch - mit dem ebenfalls berechtigten Argument, es sei schliesslich ein historisch Tag, der erinnerungswürdig bleibe. 
Was eine Demonstration war, wusste ich nicht recht. Jedenfalls hatte ich nie Gelegenheit gehabt, selbst eine zur erleben, auch weil es in Südtirol keine gab. Also ersuchte ich meinen patriotisch gesinnten Vater, mich mitzunehmen. 
Vom Bahnhof strömten schon am Morgen ungewöhnlich viele Menschen in Richtung Drususbrücke. Polizei und Heer waren allgegenwärtig. Besonders am Hadriansplatz war das Aufgebot beeindruckend. Dort standen neben den grünen Lastwagen des Heeres mit ihren Sitzbänken Hunderte Soldaten mit langen Mänteln und geschultertem Gewehr, die verständnislose Blicke auf die vorbeiziehende Menge warfen. 
Nach dem Hadriansplatz begann die schnurgerade "Pappelallee", an der nur  vereinzelte Häuser standen. Mich beeindruckte die grosse Zahl von Menschen aller Altersklassen, die sich in  einem fast unendlich scheinenden Strom auf Sigmundskron zubewegte. Männer waren eindeutig in der Überzahl. Unter ihnen fielen mir auffällig viele Hutträger auf. 
 
Für mich war diese Kundgebung vor allem aus einem Grund aufregend:  die Rede sollte dort Silvius Magnago halten, der mein Pate war und für uns Kinder Onkel Nino. Darauf war ich stolz, denn schliesslich hatte nicht jeder einen Paten, der auf einer Grosskungebung sprach. Magnago hatte beim Aufstieg zum Schloss mit seinen Krücken erhebliche Mühe, bis ihn starke Arme auf ein Vehikel hievten. 
Beim Betreten des Schlosshofs wuchs meine Aufregung - ich hatte noch nie eine solche Menschenmenge gesehen und fürchtete, meinen Vater im Gedränge zu verlieren. Der setzte mich auf einen Stein und schärfte mir ein, mich von dort "auf keinen Fall" fortzubewegen. Meine Frage nach dem Sinn der Los von Trient-Schilder beantwortete mit einer Erklärung, die ich nicht genau verstand.
Für mich war diese Kundgebung vor allem aus einem Grund aufregend:  die Rede sollte dort Silvius Magnago halten, der mein Pate war und für uns Kinder Onkel Nino.
Aufregend wurde es, als SVP-Obmann Magnago ("Mit oan Haxn kimmi do net aui)" kurzerhand auf das im Schlosshof gezimmerte , rudimentäre Rednerpult gehievt wurde." Ich war stolz und auch ein bisschen aufgeregt, obwohl ich von der Rede wenig verstand, in der vom Pariser Vertrag, von verbrieften Rechten, Los von Trient , von Autonomiestatut und Regionalrat die Rede war, lauter verschwommene Dinge, unter denen ich mir nichts Konkretes vorstellen konnte. 
Spannend wurde es, als die Menge nach der Rede einen Marsch auf Bozen forderte, den Magnago unter Aufbietung seiner rhetorischen Begabung verhindern konnte:" Gehn wir jetzt alle heim und tuts Ordnung halten." Obwohl ich mich von meinem Sitzplatz nicht wegbewegt hatte,  dauerte es lang, bis mein Vater im allgemeinen Gedränge wieder zu mir stiess und mich an der Hand nahm.
Am Rückweg hielt die Spannung an. Ich betrachtete die Italiener damals als Unterdrücker - obwohl in unserem Haus eine ausserordentlich liebenswürdige italienische Familie wohnte. Denn Hausdurchsuchungen waren bei uns keine Seltenheit. Meistens erschien die Polizei nach 21 Uhr, stellte die Wohnung auf den Kopf und nahm meinen Vater mit - sowie einen Berg Unterlagen und Briefe. Eines Tages kam er nicht mehr zurück. Haftbefehl.
Im Streit um meine Teilnahme in Sigmundskron muss ich im Nachhinein meinem Vater Recht geben. Es war ein denkwürdiger Tag, der in die Geschichte eingegangen ist.
Meine Mutter blieb mit vier Kindern ein halbes Jahr allein. Und dabei hatte ich als Schüler erneut Gelegenheit, stolz auf meinen Paten zu sein. Am Weihnachtstag mühte sich Onkel Nino auf seinen Krücken in den dritten Stock, sprach meiner Mutter Trost zu und legte ein paar der damals riesigen Lire-Scheine auf den Tisch. 
Im Streit um meine Teilnahme in Sigmundskron muss ich im Nachhinein meinem Vater Recht geben. Es war ein denkwürdiger Tag, der in die Geschichte eingegangen ist. Und durchaus aufregend auch für einen Zehnjährigen, der mit rätselhaften Begriffen wie Autonomiestatut und Los von Trient nichts anfangen konnte.