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Ey Schlampe

In Italien ist jeder zehnte Jugendliche von Cybermobbing betroffen. Im digitalen Raum scheinen sich die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu relativieren.
Ey Schlampe
Foto: Jörg Oschmann

Über ein neues Phänomen von Gewalt und wie wir damit umgehen können.

Tiziana Cantone war 31 und hatte bis dahin einiges versucht: Anzeige, Anheuern eines privaten Hackers, Antrag auf Änderung ihres Nachnamens. Es nützte nichts, die drei Videos von ihr mit erotischem Inhalt hatten sich im unendlichen Echoraum des Internets innerhalb von Stunden vervielfacht und waren nicht und nicht mehr aus dem Netz zu tilgen. Im September 2016 setzte die Neapolitanerin ihrem Leben ein Ende. Die sozialen Plattformen fühlten sich nicht verantwortlich, der Rechtsstaat reagierte ratlos, die Exekutive war überfordert. Die Videos sind heute noch im Netz zu finden. Theoretisch ist das Internet zwar kein rechtsfreier Raum, faktisch sind die Gesetzgebung und die moralischen Ansprüche unserer Gesellschaft im Netz oft außer Kraft. Ein paar Stunden nach Tizianas Tod schrieb ein Mitglied des Sinfonieorchesters Salerno auf seiner Facebookseite „Ich hoffe, dass alle wie sie ab morgen hängen werden.“ Tiziana, gerade verstorben, bezeichnete er als Hure. Im Durchschnitt verbringt der junge Mensch etwa drei Stunden täglich in sozialen Netzwerken.

Was im digitalen Paralleluniversum passiert, ist also nicht egal: Die Inhalte erreichen ein weites Publikum, ein Großteil davon in einem Alter ohne gefestigte Persönlichkeitsstrukturen, die noch empfindlich auf unterschiedliche Einflüsse reagieren. Der sogenannte Shitstorm, schrieb ein deutscher Journalist neulich, hätte uns vor nicht langer Zeit noch sprachlos gemacht vor Entsetzen. Eine, die nicht sprachlos geblieben ist, ist Ingrid Brodnig. Die österreichische digitale Botschafterin schaut im Netz dorthin, wo man lieber wegschauen möchte. „Es gibt einige Gründe“, sagt sie in ihrer bedachten Art, „warum sich der Mensch digital nicht so verhält, wie er es in seinem analogen Leben tut. Grundsätzlich wird schriftliche Konversation anders als mündliche geführt.“ Es ist einfacher und dadurch die Hemmschwelle geringer, in die Tasten zu hauen und seine Kommentare per Mausklick zu verschicken. Außerdem kriegt man die Reaktion der Opfer in der Regel nicht mit, kann einer Konfrontation keinen Raum geben oder sie zeitlich versetzt dann führen, wenn man gerade Lust dazu hat. Umgekehrt bedeutet das, dass diejenigen, die unter der Belästigung leiden, sich nicht oder nur schwer verteidigen können und darüber hinaus die Raum-Zeit-Grenzen aufgelöst sind: „Wurde man früher in der Schule gemobbt“, sagt Brodnig, „hatte man zumindest nach Schulschluss seine Ruhe.“

Cybermobbing kennt keine Auszeit. Und – für die Betroffenen besonders schlimm: Man hat auch keine Kontrolle, wer etwa die Beleidigungen verfasst, wer alles mitliest und wie oft sich Daten wie Bilder vervielfachen. Die britische Wissenschaftlerin Claire Hardaker analysiert das Verhalten von sogenannten „Trollen“, die provokante und aggressive Kommentare im Netz hinterlassen. Sie hat unterschiedliche Troll-Strategien identifiziert, die alle eines gemeinsam haben: Die Moralvorstellungen einer Person zu untergraben und mit pubertärem Humor, plumpen Beleidigungen und boshaftem Mobbing zu verletzen. Der typische Cybermobber, weiß Ivo Plotegher von der Südtiroler Postpolizei, handelt meist, um innerhalb einer bestimmten Gruppe Beliebtheit zu erlangen oder aus Spaß und Langeweile. Er beschreibt den durchschnittlichen Mobber als Person impulsiven Charakters, in der Regel emotional unreif mit wenig Schuld- und Schamgefühlen, aber einem ausgeprägten Bedürfnis, sich zu exponieren. Dabei missachtet er die Regeln des gemeinsamen Lebens. Tatsächlich scheint Anstand so verstaubt wie die Vorstellung einer internetfreien Welt selbst. Dabei ging es bereits im Knigge 1788 weniger um Vorschriften und Verhaltensweisen, sondern um ein System von moralischen und klugen Normen, die das Zusammenleben der Menschen erleichtern. Damit man möglichst unfallfrei durchs Leben kommt, sind soziale Konventionen letztlich ein Kompromiss, der jede beliebige Gesellschaft zum Funktionieren bringt. Vor allem aber sind sie gewissermaßen eine soziale Vorkehrung: Wenn Menschen höflich sind und sich zurücknehmen, werden soziale und kulturelle Differenzen in der Begegnung nicht sofort zum Konflikt. Ein angenehmes Gesellschaftsklima gibt es solange, wie man voraussetzen kann, dass ein jeder eigene Aggressionen und Schmerzen beaufsichtigen kann. Bekanntlich wird niemand gern verletzt und keiner möchte sich abwertende Kommentare über seine Person, sein Äußeres, sein Geschlecht oder seine Charakterzüge anhören. Wieviel Reichweite die Aussagen im Netz haben, ist nicht jedem Nutzer klar – der Äther ist abstrakt. Ihre Tochter sei perplex gewesen, dass ihre Aussage tatsächlich jemand ernst nehmen könnte, erzählte die Mutter einer jungen Täterin. Als die Polizei an die Tür klopfte, weinte sie wie ein kleines Kind. Zuvor hatte sie einer Bekannten geschrieben, sie solle sich bitte umbringen. Dass am anderen Ende des Tweets oder des Kommentars ein ebenso verletzlicher Mensch vor dem Bildschirm sitzt, ist zu wenig unmittelbar. Im Netz sind die Grenzen aufgeweicht. Die Schriftlichkeit der Interaktion und der Bildschirm suggerieren eine Distanz, lassen auf den Menschen am anderen Ende der Kommunikationskette vergessen. Gedacht als Tool der Aufklärung und der Partizipation, hat das Silicon Valley versehentlich eine Spielwiese für Populisten, Antisemiten, Frauenfeinde und Lügner geschaffen, die keiner so richtig beaufsichtigen kann. Theoretisch sind die Gesetze des Zusammenlebens nicht außer Kraft, weiß Ivo Plotegher.

In Italien fallen Verunglimpfungen im Netz als Verleumdung unter Artikel 595 im Strafgesetzbuch. Der Täter riskiert damit eine Haftstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren oder eine Geldstrafe ab 516 Euro. Schlimmer wird es, wenn die digitale Belästigung als Bedrohung oder Verfolgungstätigkeit gedeutet wird – hier sieht das Gesetz theoretisch eine Haftstrafe von sechs Monaten bis vier Jahren vor. In den meisten Fällen ist der Cybermobber identifizierbar. Viele Übertritte versanden trotzdem und werden strafrechtlich nicht belangt, weil die Opfer tatenlos bleiben, die Datenmenge zu groß ist, die Vertuschungsmöglichkeiten zu raffiniert sind und die Gesetzgebung häufig hinterher hinkt. Soziale Plattformen entwickeln sich rasant, die Interpretationen der bisherigen Gesetze bleiben oft subjektiv. Bei Tiziana sah sich Facebook etwa zuerst nicht dazu verpflichtet, sämtliche Informationen zu löschen. Ganz aktuell zeigt der Fall der in Österreich in erster Instanz verurteilten Ex-Grünen-Politikerin Sigrid Maurer die juristische Unbeholfenheit, die zu einer kafkaesken Täter-Opfer-Umkehr geführt hat: Maurer wurden obszöne Botschaften auf Facebook geschickt, die sie öffentlich machte, ohne den Namen des Täters zu schwärzen. Der Täter klagte auf üble Nachrede und nun wurde ihm in erster Instanz recht gegeben. Maurer hätte, so der Richter, sicherstellen müssen, dass der Absender auch tatsächlich diese Worte geschrieben hat – und etwa nicht ein anderer, der zufällig am Computer vorbeiging. In Österreich erfüllt eine Mail oder eine private Nachricht auf Facebook nicht den Tatbestand der Beleidigung, in Deutschland hingegen schon. Noch komplizierter wird es, wenn der Täter irgendwo in einem anderen Staat sitzt. „Die Opfer, die die Namen der Täter öffentlich machen, wollen dabei in der Regel keine Selbstjustiz, sie wollen Justiz“, erklärt Brodnig. „Das Netz braucht eine gut funktionierende und gut ausgestattete Justiz, die die Probleme und Schwierigkeiten ernst nimmt,“ bringt sie es auf dem Punkt.

Weil die Online-Zeit so viel Raum in unser aller Leben hat, ist das letztlich eine zivilgesellschaftliche Notwendigkeit: Wenn man on- und offline gut zusammenleben will, braucht es ein Wertesystem, an dem sich alle orientieren. „Das muss aber aktiv eingeklagt werden,“ sagt Brodnig. Weil Prozesskosten hoch sind und Privatpersonen oft kaum Kraft und Geld genug für einen zähen Prozess haben, sind hier vor allem Institutionen gefragt. Und gerade weil die Judikative noch hinterher hinkt, die Exekutive kaum greifen kann und die Algorithmen der Internetgiganten kein Moralverständnis haben, zählt der Anstand eines jeden Einzelnen. Aber an welchen Vorbildern orientiert man sich bei stetig sinkender Hemmschwelle? Während Melania Trump auf einer Konferenz in Maryland vor den Gefahren des Cybermobbings warnt, twittert ihr Mann in Washington, eine Ex-Mitarbeiterin sei „Abschaum“ und eine „Hündin“. Gemessen an der Flut abwertender Äußerungen, ist das Netz ein Ort des zivilisatorischen Rückschritts, an dem häufig niedere Impulse ausgelebt werden. Dabei funktionieren soziale Plattformen als Katalysator für die Wut der Menschen sowieso nicht. Hass wird nicht kleiner, indem man ihn auslebt: Schneeballeffektmäßig wandern Hasspostings durch Threads, Bilder und Videos und reißen immer mehr Menschen mit. „Wut“, weiß Brodnig, „ist eine besonders erfolgreiche Emotion im Netz.“ Selten wird man für seine Schimpfwörter so gelobt, wie im Netz. Wenn’s mit derben Sprüchen unter die Gürtellinie geht, gibt’s besonders viele Daumen hoch von Gleichgesinnten. Dabei ist es beispielsweise bei politischen Diskussionen oft nur eine laute Minderheit, die sich wieder und wieder mit aggressiven Postings bemerkbar macht. Brodnig und ihr Team haben etwa die Kommentare von Usern evaluiert, die 2017 bei der Wahl in Österreich in den sozialen Netzwerken geführt wurden. Heraus kam: 20 Prozent der User posteten 73 Prozent aller Kommentare. Eine kleine Gruppe besonders lauter und besonders aggressiver Nutzer füllt also den größten Teil.

Wo eine Gruppe besonders laut ist, verstummen andere: 76 Prozent aller weiblichen Cybermobbing- Opfer posteten zu bestimmten Themen nichts mehr, fand Amnesty raus. „Wenn Stimmen verstummen und es keinen ausgewogenen Meinungspluralismus mehr gibt, dann haben wir als Gesellschaft ein Problem“, stellt Brodnig fest. Manche Medien verzichten inzwischen auf die Kommentarfunktion unter bestimmten Themen oder lassen nur dann debattieren, wenn ein Moderator für die Netiquette sorgt und boshafte Kommentare löscht. Weil Hass bekanntlich keine Meinung ist, fällt es auch nicht in die Kategorie „Meinungsfreiheit“. Trotz aller Gefahren – das Netz ist verlockend. „Instant gratification“, erklärt Brodnig, „ist das, was wir im Alltag eher selten erleben und im Netz einfacher bekommen.“ Das Gehirn belohnt uns tatsächlich mit Dopamin, wenn viele unser Selfie liken. Harris Tristan, das „Nächste an Gewissen, das Silicon Valley zu bieten hat“ (The Atlantic), hat sich jahrelang damit beschäftigt, wie Technologie menschliches Denken und Handeln beeinflusst. Handys fungieren ähnlich wie Glücksspielautomaten: Als handliche Slotmaschinen in der Hosentasche blinken, surren und vibrieren sie, verlangen unsere Aufmerksamkeit und belohnen unsere Interaktion mit ihnen. Und natürlich ist nicht jede Interaktion schlecht: Das Internet kann eine Quelle von Informationen und ein Ort von Austausch und Kontaktaufnahme sein. Maßgeblich ist, wie dieser stattfindet. Langsam lässt sich eine Sensibilisierung beobachten: Gesetze werden angepasst, die Notwendigkeit zur Kontrolle im Netz wird erkannt, Youtuber und Influencer sprechen sich offen gegen Cybermobbing aus. Abschließend erzählt Brodnig von einer bemerkenswerten Studie: Israelische Wissenschaftler haben beliebige Personen im Netz miteinander streiten lassen. Im Laufe der Auseinandersetzung haben die Forscher eine Webcam zwischen die Streitenden geschaltet - und sofort fielen viel weniger Schimpfworte. Vielleicht liegt darin die wichtigste Lehre, die wir aus unseren ersten Dekaden mit dem Netz ziehen sollten: Dass man sich wieder öfter in die Augen sehen sollte, wenn man sich etwas sagen will.