Parlament Wien
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Gesellschaft | Österreich

Die Doppel-Krise

Pandemie außer Kontrolle, Regierung zerstritten, Bevölkerung gespalten. Ein Lagebild aus der Alpenrepublik von Lorenz Gallmetzer.
Das Klischee sagt, die Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen seien aufgrund ihrer Geschichte obrigkeitshörig, konfliktscheu, ordnungsliebend und folgsam. Diesen Eindruck konnte man beim Ausbruch der Corona-Pandemie vielleicht noch gewinnen. Als nach dem Skandal um Ischgl als Europas spreader-hotspot im Februar 2020 und nach den erschütternden Bildern aus Norditalien die türkis-grüne Regierung in Wien den ersten Lockdown beschloss, wurde er ohne großes Murren flächendeckend eingehalten.
 Allerdings muss dazugesagt werden, dass die österreichische Variante der Freiheitseinschränkungen „elastisch“ waren. In den ersten Tagen tönten zwar aus Lautsprechern auf Polizeiautos Aufrufe „gehen Sie nachhause“ und etliche Beamte drangsalierten Eltern mit Kleinkindern oder ältere Damen auf Parkbänken trotz Abstand, aber diese vom strammen Innenminister Nehammer angeordnete Übertreibung wurde in kürzester Zeit eingestellt.
Beschränkungen des Bewegungsradius auf 2-300 Meter, schriftliche Selbsterklärungen über den Grund unterwegs zu sein oder Kontrollen der Beifahrer im Auto gab es keine und die Grünen in der Regierung haben sogar durchgesetzt, dass man auch „zur Erholung an die frische Luft“ darf. Das war bis heute so.
Jetzt soll die Polizei bei ihren alltäglichen Amtshandlungen (Verkehrskontrollen etc.) auch die Covid-Impfsituation der Personen gleich mit überprüfen, um zu kontrollieren, ob Ungeimpfte aus erlaubten Gründen (Arbeit, Behördengänge, lebensnötige Einkäufe etc.) unterwegs sind. Ob so ein lockdown nur für Ungeimpfte verfassungsrechtlich und ethisch vertretbar ist, wird heftig diskutiert, ebenso die Frage, ob die Maßnahme zu einer spürbaren Eindämmung der Infektionen führen kann.
 
Ob so ein lockdown nur für Ungeimpfte verfassungsrechtlich und ethisch vertretbar ist, wird heftig diskutiert.
 
Durch den ersten lockdown sanken im Frühjahr 2020 die Infektionszahlen und stufenweise Lockerungen führten in einen unbekümmerten Sommer. Trotz täglicher Mahnungen, die Vorsichtsmaßnahmen weiter zu befolgen (Händewaschen, Maske, Abstand), gab es kein Halten mehr. Vor allem die jüngeren Leute genossen die wieder erlangte Freiheit, auch weil der Eindruck überwog, Corona treffe vor allem die Älteren, Schwachen, Kranken. 
 

Kakophonie der Politik

 
Unbekümmertheit, die kalt-feuchten Temperaturen und die ersten Übertragungen der neuen „britischen“ Virus-Variante Alpha ließen im Herbst vorigen Jahres dann Ansteckungen und Hospitalisierungen wieder rapide steigen, den Zwiespalt in Gesellschaft und Politik ebenfalls. In wenigen Wochen stand Österreich mit 11.000 täglichen Infektionen da, dem in Normalzeiten recht gut funktionierenden Gesundheitswesen drohte der Kollaps. Es folgte ein Chaos aus soft-lockdown, harter lockdown, „Weihnachtsruhe“ und wieder harter lockdown. Bürgerinnen und Bürger waren ob der hü-hott-Verordnungen verwirrt, geängstigt und zunehmend erbost.
 
 
 
Denn war die Regierung in der ersten Phase der Pandemie mit einem rituellen und fast täglichen „Corona-Quartett“ (Kanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister, Innenminister) vor die TV-Kameras getreten, so wurden schon bald Meinungsverschiedenheiten und Rivalitäten in der Koalition sichtbar. Weil der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober laut Meinungsumfragen die Popularität von Sebastian Kurz in den Schatten stellte, begann dieser regelmäßig neue Maßnahmen, Entscheidungen oder Verordnungen im Alleingang und via ihm gefälligen Medien vorwegzunehmen. Die Verkündung von unpopulären bad news überließ er hingegen dem Minister. Mahnte Anschober zu mehr Vorsicht im Alltag und verwies auf Notlagen bei Spitälern und Gesundheitspersonal, antwortete Kurz mit Selbstlob für die „bisher getane Arbeit“. 
Teils chaotisch verliefen und verläuft bis heute die Koordination mit den Bundesländern und ihren Landes-Kaisern – ein permanentes Kompetenzen-Gezänk, weil niemand den schwarzen Peter will. Und während der kleine grüne Koalitionspartner die Analysen und warnenden Empfehlungen der Virologen, Krankenhausprimare, statistischen Modellrechner und des Ethikrates stärker berücksichtigen will, ist das Ohr der türkisen Partei oft unübersehbar näher bei den Vertretern der Wirtschaft, der Bauern und der Tourismusbranche. Noch augenscheinlicher ist das politische Kalkül der türkis-neuen ÖVP, in der Sebastian Kurz trotz erzwungenem Rücktritt vom Kanzlersessel als Klubobmann noch immer die Fäden zieht, wenn auch nicht mehr so selbstherrlich und ohne Gegenstimmen in der eigenen Partei. Um keinen Preis sollen die blauen FPÖ-Wähler und Nichtwähler vor den Kopf gestoßen werden.
 

Die FPÖ rettet Gesundheit und Freiheit mit Entwurmungsmittel

 
Und spätestens an diesem Punkt gerät das eingangs beschriebene Klischeebild der Österreicherinnen und Österreicher heftig ins Wanken. Denn wie in so gut wie allen Ländern hat sich auch in Österreich eine bunt gemixte, widersprüchliche Protestbewegung gegen die Corona-Politik der Regierung herausgebildet. Zahlenmäßig bescheidener, weniger radikal oder gar gewalttätig als in anderen Ländern, aber doch hartnäckig. Aber im Vergleich zu anderen EU-Ländern ist in Österreich die nationalpopulistisch bis rechtsextreme FPÖ absolut dominante Kraft dieser Bewegung und weit radikaler als Salvini, Meloni und Marine Le Pen zusammengenommen. 
 
 
So etwa wenn Parteichef und ex-Innenminister Herbert Kickl von „Impffaschismus“ und „Impfvergewaltigung“ spricht, das gesamte Instrumentarium der Corona-Leugner und Skeptiker andauernd mit der Diskreditierung der Demokratie verbindet, um dann völlig jenseitige Prävention und Therapie zu predigen: Bewegung, frische Luft, bittere Kräuter, Aspirin, Paracetamol (fiebersenkendes Schmerzmittel) und das Entwurmungsmittel für Pferde und Kühe Ivermectin….
Im Vergleich zu anderen EU-Ländern ist in Österreich die nationalpopulistisch bis rechtsextreme FPÖ absolut dominante Kraft der No-Vax-Bewegung und weit radikaler als Salvini, Meloni und Marine Le Pen zusammengenommen. 
 
Kickl befindet sich mittlerweile selbst Corona-infiziert in Quarantäne, mit leichten Symptomen wie er versichert und in medizinischer Behandlung durch seinen „Vertrauensarzt“, "so wie ich mir das für jeden Covid-Erkrankten individuell auf die einzelne Person abgestimmt wünschen würde, anstatt die Menschen in Isolation sich selber zu überlassen, wie das leider meistens der Fall ist"(H.Kickl)
 

Impfstreik

 
Die tatsächliche Wirkung der täglichen FPÖ-Propaganda lässt sich schwer messen. Aber gepaart mit relativierenden Aussagen wie jene von Sebastian Kurz als Noch-Kanzler im September („Für die Geimpften ist die Pandemie vorbei, für die anderen gilt die Selbstverantwortung“) und dem mittlerweile öffentlich eskalierten Streit zwischen Grünen und dem neuen Kanzler Alexander Schallenberg über strengere Maßnahmen für alle, verstärkt sie wohl die Haltung eines Drittels der Bevölkerung – und die heißt: Impfstreik.
Mit knapp 65 % Vollimmunisierten bildet Österreich das Schlusslicht der westlichen EU-Länder.
 
 
Mit knapp 65 % Vollimmunisierten bildet Österreich das Schlusslicht der westlichen EU-Länder.
Die Opposition von SPÖ und NEOS erschöpft sich seit Monaten in Kritik und Vorwürfen über die Versäumnisse der Regierung, ohne wirklich eigenständige Konzepte zur Pandemiebekämpfung vorzulegen. Das haben hingegen kürzlich knapp 20 der renommiertesten Experten in einem offenen Appell getan. Konsequente Maßnahmen zur Kontaktreduktion, Ausweitung der Maskenpflicht,  PCR-Tests auf für Geimpfte und immer lauter wird die Forderung nach verpflichtender Impfung für bestimmte Berufe (Gesundheitswesen, Pflege, Lehrer etc.). 
Der kompetenzmäßig dafür zuständige Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein möchte die Anregungen umsetzen, doch umgehend antworten Kanzler und türkise Minister „kommt nicht in Frage“. Eigentlich hält sich die Regierung nur am Leben, weil am Höhepunkt der Pandemie mit überlasteten Spitälern eine Krise und Neuwahlen nicht tragbar wären. Wie man das Vertrauen der Bevölkerung, eine hohe Impfrate und niedrige Infektionen erreichen kann, haben hingegen Emmanuel Macron und das Duo Draghi-Figliuolo vorexerziert: hören auf die Wissenschaft und die Experten, klare Kommunikation, entschlossenes Handeln und die überschaubare aber rabiat-laute Minderheit der Protestierenden aushalten
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G. P. Mi., 17.11.2021 - 16:06

"Beschränkungen des Bewegungsradius auf 2-300 Meter, schriftliche Selbsterklärungen über den Grund unterwegs zu sein oder Kontrollen der Beifahrer im Auto gab es keine und die Grünen in der Regierung haben sogar durchgesetzt, dass man auch „zur Erholung an die frische Luft“ darf."
Ich frage mich, was daran so schlimm ist. Genau diese Punkte - allen voran die Selbsterklärungen - sind bzw. waren doch reine Schikanen, welche die Ausbreitung des Virus bestimmt nicht gestoppt haben.

Mi., 17.11.2021 - 16:06 Permalink