Chronik | Verbrechen

„Er hatte auf sie gewartet“

Der Mordprozess gegen Benno Neumair geht in die Endphase. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft.
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Foto: Othmar Seehauser
Der Gerichtsprozess zum Doppelmord an Laura Perselli und Peter Neumair geht diese Woche in die Endphase. Heute, am 17. November, haben im Saal des Schwurgerichts in Bozen die Schlussplädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenkläger und Verteidigung begonnen. Im langwierigen Prozess gegen den Täter und Sohn des getöteten Lehrerpaares, Benno Neumair, wurden Dutzende Zeug:innen und mehrere psychiatrische Gutachten angehört.
Nun haben die Anwält:innen das Wort und versuchen mit ihren Reden, das Schwurgericht von ihrer Version des Sachverhalts zu überzeugen. Dem 31-jährigen Bozner droht lebenslange Haft. Wie hoch das Strafausmaß ausfallen wird, hängt davon ab, ob das Schwurgericht den Täter während der Tat für zurechnungsfähig hält.
Er hat Madé das genommen, was ihr am wertvollsten war, ihre Eltern.
Sowohl Angehörige der Familie Neumair als auch eine Vielzahl an Medien sind vor Ort. Als Nebenkläger treten die Schwester von Laura Perselli, Carla Perselli, und die Schwester des Täters, Madé Neumair, auf. Benno Neumair selbst verzichtet wie bei den Prozessterminen zuvor, vor Ort zu erscheinen. Er befindet sich seit mehr als einem Jahr im Bozner Gefängnis.
 

Die Schlussplädoyers

 
Mit den Schlussplädoyers beginnt die Staatsanwältin Federica Iovene: „Laut italienischem Recht ist der Angeklagte nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Deshalb betrachten wir die Beweise so, als hätte es das Geständnis von Benno Neumair nie gegeben.“ Iovene beginnt mit der Rekonstruierung des Tathergangs am 4. Jänner 2021, als der Täter gemeinsam mit seinen Eltern zu Mittag aß. Nach dem Essen verließ Laura Perselli die Wohnung, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Eine alltägliche Szene, die einen erschütternden Verlauf nahm.
 
 
Laut Aussagen von Benno Neumair soll es anschließend einen Streit mit dem Vater Peter Neumair gegeben haben. Wie genau er verlief, bleibt weiterhin unklar, da die Schilderungen Benno Neumairs gegenüber der Polizei widersprüchlich sind und möglicherweise auch nicht der Wahrheit entsprechen. Für Iovene steht jedenfalls fest, dass der Täter seine Eltern willentlich umgebracht hat.
Sie beruft sich dabei auf die Ausführungen des Pathologen Dario Raniero. Um eine Person zu strangulieren, braucht es vier bis fünf Minuten, ansonsten kommt die Person nach der Strangulation wieder zu Luft und überlebt. Außerdem muss der Täter mindestens eine Minute lang zugedrückt haben, um seinem Vater das Leben zu nehmen. Wie lange eine Minute ist, will die Staatsanwältin im Gerichtssaal demonstrieren. Es kehrt dort für 60 Sekunden Stille ein, um den Anwesenden die Länge einer Minute zu vergegenwärtigen.
Nach dem ersten Mord schaltet Benno Neumair das Handy des Vaters aus, er befürchtet einen Anruf der Mutter, die Verdacht schöpfen könnte. Er liegt richtig, wenig später klingelt das Haustelefon und er zieht den Stecker. Als Benno Neumairs Handy klingelt, nimmt er ab und spricht für etwas mehr als eine Minute mit Laura Perselli. Kurze Zeit später hört Madé Neumair ihre Mutter zum letzten Mal am Telefon. Sie sagt ihr, dass sie müde sei und nun nach Hause gehe.
Als Laura Perselli nach Hause kam, soll sie laut Rekonstruktion von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht einmal die Jacke ausgezogen haben. „Er hatte auf sie gewartet, weil er entschieden hatte, sie aus dem Weg zu schaffen“, so Iovene. Beide Eltern wurden mit einem Kletterseil stranguliert. „Sie hatten keine Chance, sich zu verteidigen.“
 

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit

 
Laut Iovene hat Benno Neumair vor und nach dem Doppelmord bei vollem Bewusstsein gehandelt. Schließlich entfernte er die Leichen vom Tatort und warf sie in die Etsch, entledigte sich von dem Handy der Mutter und versuchte die Polizei auf eine falsche Fährte zu bringen, indem er die Schuhe seines Vaters in die Eisack warf. Am selben Abend sprach er mit seinem Nachbarn über Alltägliches und verbrachte den Abend bei Martina Alegre, die er über Tinder kennengelernt hatte.
In ihrem Plädoyer betont Iovene, wie manipulativ und theatralisch Benno Neumair handelt – etwa im Umgang mit seiner Ex-Freundin oder der Direktorin der Schule, wo er als Supplent unterrichtet hatte. „Wir dürfen nicht wegen der Schwere des Verbrechens den Fehler machen, anzunehmen, dass Benno verrückt sei.“ Mit diesen Worten beendet Iovene ihre Rede.
Auch Staatsanwalt Igor Secco betont dieses Argument und zitiert Hannah Arendt mit einer Aussage über den Prozess gegen Adolf Eichmann. „Nicht jeder, der furchtbare Verbrechen begeht, ist ein Wahsinniger“, so Secco. In seinem Plädoyer geht er auf die verschiedenen psychischen Störungen ein, um das Krankheitsbild von Benno Neumair abzugrenzen: „Es gibt einen Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Psychotiker: Benno ist betroffen von einer primären Psychopathie, die ihren Ursprung in der Kindheit hat“, erklärt Secco. „Eine antisoziale Person wie er hat gewalttätige Ausbrüche, ist aber immer in der Lage sich einzubremsen, wenn sie das will. Das ist insbesondere für den vorliegenden Fall von Bedeutung.“
Die Staatsanwaltschaft fordert vom Schwurgericht lebenslange Haft, davon ein Jahr in Einzelhaft. „Wir halten den Angeklagten für schuldig aller Vorwürfe“, erklärt Staatsanwältin Federica Iovene.
 

Die Sicht der Angehörigen

 
Das dritte Plädoyer an diesem 16. Verhandlungstag hält die Anwältin der Nebenklägerin Carla Perselli, Elena Valenti. Sie spricht im Namen der Angehörigen, jene, die Benno Neumair und seine Eltern Laura Perselli und Peter Neumair bereits vor der Tat gekannt haben. „Sie sehen in Benno Neumair den Jungen, den sie aufwachsen gesehen haben. Sie haben mit Laura Perselli und Peter Neumair gemeinsam Ferien verbracht, Freude und Leid geteilt“, so Valenti.
 
 
„Laura und Peter sind nicht mehr hier, um ihre Geschichte zu erzählen. Carla und Madé haben in diesem Prozess ihre Erinnerung verteidigt. Vielleicht sind sie dabei manchmal über das Ziel hinausgeschossen, auch auf eine Art, die dieser Aula nicht angemessen war, aber warum? Weil sie Laura verteidigen mussten. Denn auch Laura hätte sich verteidigt. Das hat sie ihr gesamtes Leben lang getan, ohne Angst vor nichts und niemandem, bis ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes erstickt worden ist.“ Das Schwurgericht habe nun die schwierige Aufgabe, das Urteil zu fällen. „Sie mussten nicht erfahren, dass er der Mörder ist. Sie wussten es von Anfang an.“
 
 
Die Anwältin der Nebenklägerin zeichnet Benno Neumairs Leben nach, beginnend mit seiner Geburt am 24. Dezember 1990. Die Eltern hätten ihr Bestes für Benno Neumair gegeben. In der Kindheit sei es noch nicht absehbar gewesen, dass er eine Persönlichkeitsstörung entwickeln wird. Mit ihren Schilderungen will Valenti zeigen, dass Benno Neumair rational handelte. „Es gab im Bennos Leben keine Episode, die man als Kontrollverlust bezeichnen könnte.“ Gegen Ende ihrer Rede sagt sie: „Er hat Madé das genommen, was ihr am wertvollsten war, ihre Eltern.“
Die restlichen Schlussplädoyers von Nebenkläger und Verteidigung werden morgen, den 18. November, und am Samstag gehalten, am Samstag wird auch das Urteil des Schwurgerichts erwartet.