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„Die Tage der Kommune“

Die französische Hauptstadt war schon immer auch etwas Besonderes. Doch was sich ihre Bevölkerung am 18. März 1871 herausnahm, stellte sogar den Staat infrage. Zum 150.!
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Foto: Mandelbaum Verlag

"Was fordert Paris?", hieß es in einem Manifest, das auch sogleich die Antwort gab: "Die absolute Autonomie der Kommune." 
Wichtig war das Adjektiv: Die Bürger wollten sich selbst regieren, ohne dass übergeordnete regionale oder staatliche Behörden auch nur das Geringste mitzubestimmen hätten. Zu diesem Zweck warfen die Pariser sämtliche Angehörige der Nationalgarde aus der Stadt. Die Armee hatte zuvor ein schändliches Bild abgegeben: Nicht nur dass sie den Krieg gegen Preußen verlor! Sie ließ sich von den Deutschen auch vorschreiben, hart gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen und politisch Andersdenkende willkürlich zu verhaften. Damit war nun Schluss. 

 

Die Pariser Kommune, so nannte sich die neue Volksregierung, wollte endlich Ernst machen mit den längst wieder vergessenen Versprechen der steckengebliebenen Revolution von 1789. Freiheit und Gleichheit sollten endlich alle Bürger genießen dürfen, einschließlich Versammlungsrecht, Pressefreiheit, Wahl des Arbeitsplatzes, Recht auf Wahl und Abwahl aller Behörden und Mitbestimmung bei der Erhebung sämtlicher Steuern und Kontrolle des städtischen Budgets. 

Wie konnte es eine Regierung aller durch aller geben, vertreten durch die Kommune, fragte sich Michel, ohne den Frauen ihren Anteil einzugestehen?

Es war ein gigantisches soziales Experiment - das leider nur zwei Monate dauern sollte. Dann bereitete die inzwischen wieder zu Kräften gekommene Nationalgarde der Pariser Kommune ein Ende. Geblieben ist sie in Erinnerung nicht nur der französischen, sondern der Linken weltweit: als Versuch, sozialistische Ideen in die Tat umzusetzen und eine auf dem Gleichheitsprinzip fußende Regierung zu etablieren.
Eine, die sich besonders hervorgetan hat in jenem Frühling vor 150 Jahren, war die Lehrerin Louise Michel. Einige Jahre zuvor war sie aus Frankreichs Nordosten in die Hauptstadt gezogen, nun tat sie sich als politische Aktivistin und mitreißende Rednerin hervor, der es um Sein und Bewusstsein der unterprivilegierten Schichten gelegen war. 


Die Ziele der Kommunarden – Überwindung der Klassengegensätze, Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Trennung von Kirche und Staat, radikale Umstrukturierung von Justiz-, Bank und Steuerwesen, Verbesserung des Bildungssystems – verknüpfte sie mit der noch ungelösten Frauenfrage. Zwar wurde die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter von der Linken offiziell anerkannt, doch schlossen die angestrebten allgemeinen Menschenrechte nicht implizit die Rechte der Frauen  mit ein. Der Zugang zu höchsten Ämtern etwa blieb ihnen auch in der Pariser Kommune verwehrt. Alle achtzig Delegierten, die ihre Ämter in der Gemeindeversammlung oder im Zentralkomitee ausübten, waren Männer.
Wie konnte es eine Regierung aller durch aller geben, vertreten durch die Kommune, fragte sich Michel, ohne den Frauen ihren Anteil einzugestehen? Für die Zukunft hatte sie dennoch Hoffnung: „Die neue Welt wird uns mit einer freien Menschheit vereinen, in der jedes Wesen seinen Platz hat." Auf dem Weg dorthin durfte dieser Platz auch mal auf einer Barrikade sein, hinter einer Kanone oder mit einem Gewehr im Anschlag.  „Vielleicht stimmt es, dass Frauen den Aufstand lieben. Wir sind nicht besser als die Männer“, räumte Michel ein, „aber uns hat die Macht noch nicht korrumpiert.“

Was die Religion anbelangt,fordere ich die radikale Abschaffung des Kirchenwesens und an seiner Stelle die strengste Moral, gewährleistet durch das Bewusstsein, das zur Anleitung zum Handeln für alle werden muss.
[Louise Michel]

In der letzten Maiwoche, als die Regierungstruppen aus Versailles auf die abtrünnige Hauptstadt vorrückten, um die alte Ordnung wiederherzustellen, kommandierte Michel ein Frauenbataillon, das sich militärisch in nichts von einem Männerbataillon unterschied. Ihre Kompetenz und Renitenz ließ die Befehlshaberin noch zu Lebzeiten zu einem Widerstandssymbol avancieren – wenn auch nicht zu einer nationalen Ikone wie posthum Jeanne d’Arc. Dazu ging der Humanistin und Atheistin ganz bewusst der religiöse Impetus des tiefgläubigen Bauernmädchens ab, das nur 30 Kilometer von Michels Geburtsort Vroncourt entfernt aufgewachsen war, wenn auch in einer ganz anderen Zeit. „Was die Religion anbelangt“, lautete die Maxime der Kommunardin, „fordere ich die radikale Abschaffung des Kirchenwesens und an seiner Stelle die strengste Moral, gewährleistet durch das Bewusstsein, das zur Anleitung zum Handeln für alle werden muss.“


Michel wurde wegen ihrer Beteiligung an der Kommune zu lebenslänglicher Deportation auf der östlich von Australien gelegenen, zu Frankreich gehörenden Pazifikinsel Neukaledonien verurteilt und später begnadigt. Sie durfte wieder nach Paris zurückkehren. Inzwischen hatte sie sich der anarchistischen Bewegung angeschlossen. Im libertären Sozialismus würden, so ihre Überzeugung, alle Herrschaftsbeziehungen aufgelöst, alle sozialen Unterschiede aufgehoben und die Emanzipation der Frau in einer klassenlosen Gesellschaft verwirklicht. 

Es war alles bereits da, man wusste, was Kapitalismus bedeutete, man wusste, wozu er fähig war und wovor man sich schützen sollte.
[Veronika Berger]

Louise Michels Texte zur Pariser Kommune und ihr Selbstzeugnis über ihre Tätigkeit sind jetzt in einer neuen deutschen Fassung herausgekommen. Keine leichte Aufgabe für die Übersetzerin, zumal Michel alles zwar mit fast einem Vierteljahrhundert Abstand, aber doch für ein Publikum geschrieben hat, dem die meisten Namen im Buch noch ein Begriff waren. Veronika Berger behilft sich mit einem umfangreichen Glossar, das auch einer nicht vorgebildeten Leserschaft den Zugang zu Ereignissen und Akteuren ermöglicht.  
Die Behutsamkeit der Übersetzerin und der lebhafte Reportagestil der Protagonistin, frisch und authentisch wiedergegeben, ermöglichen das Eintauchen in eine Zeit, die zwar anderthalb Jahrhunderte zurück liegt, aber so verschieden von der heutigen auch nicht schien: „Es war alles bereits da“, schreibt Berger in ihrem Vorwort, „man wusste, was Kapitalismus bedeutete, man wusste, wozu er fähig war und wovor man sich schützen sollte.“ Louise Michels Blick zurück auf die Pariser Kommune, gleichzeitig aber auch mit ungebrochenem Mut nach vorn lässt uns, verspricht Veronika Berger und hält Wort, „daran freuen, dass es hier, wenn auch für so kurze Zeit, möglich war, Strukturen der Gleichberechtigung zu verwirklichen.“