Gesellschaft | Giro d'Italia

Fahrrad und Berge sind unteilbar

Atemberaubende Kulisee, enorme Anstrengung. Der Radsport hat unsere Berge der Welt nahegebracht und nähert uns heute einem langsameren und bekömmlicheren Rhythmus.
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Wenn ich mir die alten Aufnahmen ansehe, finde ich wieder einmal bestätigt, dass keine andere Kunst die Realität so rein und unverfälscht abbildet wie die Fotografie. Das Foto, von dem die Rede ist, stammt vom 2. Juni 1949. Es ist der Tag der Etappe Bassano-Bozen des Giro d’Italia. Rechts sieht man den großen Fausto Coppi, wie er zum Grödner Joch hochfährt. Hinter ihm ein Motorrad, wie es meinem Vater Ernesto gefallen würde, darauf ein Fahrer mit dieser typischen Skibrille, die ihn aussehen lässt wie einen Vintage-Marsmenschen. In seinem Schlepptau wiederum die offenen Autos mit den Ersatzrädern auf der Rückbank. Der Asphalt besteht aus Steinbröseln, der Hintergrund ist atemberaubend: Wie eine gestrenge Gottheit erhebt sich unser geliebter Sassongher in all seiner Würde, elegant und majestätisch. Wenn ich dieses Foto betrachte, wird mir noch einmal bewusst – obwohl ich es natürlich längst weiß – dass es vor allem der Radsport war, der unsere Dolomiten berühmt gemacht hat. Doch was heißt schon „unsere“ Dolomiten. Sie gehören der ganzen Welt! Schließlich wurden diese begnadeten Berge nicht umsonst zum Welterbe der Menschheit erklärt. Doch mehr als die Kletterer, die hier unterwegs waren, mehr als die Skilifte und mehr als alle Werbebroschüren war es tatsächlich der Radsport, der die Schönheit dieser Berge und ihrer atemberaubenden Landschaften erst den Italienern und dann der restlichen Welt nahegebracht hat. Der Radsport und das Radio. In den Dreißiger Jahren begann das Radio, vom Giro d’Italia zu berichten und durch ihre Sprecher von den Heldentaten der Fahrer zu erzählen. Das Radio war immer am schnellsten, mit seinem Murmeln, das damals den Gipfel der Modernität darstellte und daher einen besonderen Zauber besaß, und es bereitete den Boden für die Zeitungen des Tages darauf. Das Radio entflammte die Gemüter. Und die Hoffnungen. Und ließ die Fantasie die senkrechten Felswände überwinden, die hier vom Himmel fallen. Der Rest ist Geschichte. Von Bartali und Coppi bis zu Merckx und Gimondi. Dann kam das Fernsehen. Dann wurde aus dem Helikopter gefilmt. Dann kamen all die anderen Fahrer, berühmte und weniger berühmte, die auf diesem Karussell der Haarnadelkurven unterwegs waren, unermüdlich auf und ab, bis die Herzen glühten und die Seele jubelte. Bis heute ist das so, wenn der Giro seine 99. Auflage feiert. Hundert Jahre werden es im nächsten Jahr sein. Doch heuer hat der Zieleinlauf in Corvara, Alta Badia, einen noch feineren Beigeschmack: Denn die Königsetappe der Dolomiten, die 14. Etappe vom Samstag, dem 21. Mai (auf sie folgt die 15. Etappe mit dem Bergzeitfahren auf der Seiser Alm), verläuft auf der Strecke der Maratona dles Dolomites. Ganz genau: Der große alte Herr des Radrennsports, der Giro d’Italia, ehrt damit das 30jährige Bestehen der Maratona. Eine Riesenfreude, eine Ehre, ein großes Fest ist das für uns und für all diejenigen, welche die Maratona erst möglich machen. Dabei denke ich vor allem an die Tausenden von freiwilligen Helfern, die sich jedes Jahr ein Bein ausreißen, um eine Veranstaltung über die Bühne zu bringen, die eine Größenordnung erreicht hat, von der vor 30 Jahren niemand auch nur zu träumen gewagt hätte. Und ich denke an die Tausenden Radfahrer, die in all diesen Jahren bei der Maratona mitgefahren sind. Ich denke aber auch an das Fahrrad als solches. Keinem anderen Fahrzeug gelingt es mit solcher Leichtigkeit, Klassenunterschiede zu beseitigen, für Gleichheit zu sorgen, uns zu einem langsameren und bekömmlicheren Rhythmus zurückzuführen und uns dazu einzuladen, Straßen ganz anders zu sehen (und zu denken): Sind sie nicht einfach wunderschön, wenn die Autos mal fehlen? Fahrräder und Dolomiten, das ergibt eine unauflösliche Einheit, die uns noch heute träumen lässt. Träume ohne Smog und Lärme sind das. Träume, in denen Stille und Frieden herrscht. Träume, die wirklich werden können, sobald die Straßen teilweise für den Verkehr geschlossen werden, was uns Bergbewohnern, die wir hauptsächlich vom Tourismus leben, auch wirtschaftliche Vorteile bringen würde. Doch vielleicht wollen das (noch) nicht alle; vielleicht können sie es sich einfach auch nicht vorstellen. Ich wünsche allen einen buon Giro.

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Martin B. Mi., 18.05.2016 - 22:40

Naja: Profi-Radsport = Doping par excellence seit Generationen, wie auch teils schon im ehrgeizigen Amateurbereich. Mit langsameren und bekömmlicheren Rhythmus hat das meiner Meinung nach wenig zu tun.

Mi., 18.05.2016 - 22:40 Permalink
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Markus S. Mo., 23.05.2016 - 22:43

Schön geschrieben. Ich teile auch die Emotionen zum Foto, aber "dass es vor allem der Radsport war, der unsere Dolomiten berühmt gemacht hat", das ist leider ordentlich übertrieben.
Waren es doch die zahlreichen Kletterer oder Maler wie Compton, ein Luis Trenker oder Reinhld Messner, ein Le Corbusier oder Deodat de Dolomieu die unsere Berge in aller Welt bekannt gemacht haben und in den letzten Jahrzehnten der Wintersport von der Olympiade in Cortina über die WM in Gröden bis zu den jährlichen Weltcuprennen...
Der Giro, die Maratona dles Dolomites oder der SellaRondaHero sind Radrennen der jüngeren Zeit, die ein weit kleineres Publikum erreichen. Wunderschön, ja, aber die Lorbeeren fürs weltweite "Markeing" gebühren anderen.

Mo., 23.05.2016 - 22:43 Permalink