Gesellschaft | Sanität

“ Weg von der Nahaufnahme”

Franz Plörer über sein neues Buch “Die Krankheiler”, die Südtiroler Sanität, die Informanten und warum Richard Theiner im Buch nicht vorkommt.
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Foto: salto

"Salto.bz: Herr Plörer, Sie haben das Buch “Die Krankheiler” über die Südtiroler Sanität geschrieben. Gleichzeitig sind Sie Pressesprecher eines amtierenden Landesrates. Geht das überhaupt?

 

Franz Plörer: Ja, warum soll das nicht gehen. Wo ist da der Widerspruch?

 

Der Untertitel des Buches “Südtirols Sanität auf dem Prüfstand” suggeriert eine kritische Auseinandersetzung. Gleichzeitig arbeiten Sie für den früheren Sanitätslandesrat Richard Theiner…

 

Ist trotzdem kein Widerspruch.

 

Richard Theiner war zehn Jahre lang als Landesrat für die Sanität politisch erstverantwortlich. Sein Name kommt auf den 250 Seiten genau einmal vor. In einer Presseaussendung, die zitiert wird. Wohl kaum Zufall?

 

Es geht doch nicht um Personen, sondern es geht um das System. Darauf hinzuweisen, wo bestimmte Dinge nicht funktionieren, warum sie nicht mehr effizient sind. Darum geht es. Völlig losgelöst von Personen. Es geht um die demographische Entwicklung, es geht um die Zunahme chronischer Krankheiten, um die steigenden Kosten des Gesundheitssystems und es geht um die ungleich verteilten Gesundheitschancen. Das ist ein ganz wichtiges Thema, das viel zu wenig thematisiert wurde und auch von den Medien viel zu wenig aufgriffen wird. 

 

Sie meinen die Zwei-Klassen-Medizin für Reich und Arm?

 

Ja im Prinzip läuft es darauf hinaus. De facto ist es eine Zwei-Klassen-Medizin, die wir längst haben. Weil sozial Benachteiligte öfter und länger krank sind und eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als Leute mit einem hohen sozialen Status. Das ist ein Fakt, der kein Südtiroler Spezifikum ist, sondern die internationale Entwicklung. Ich würde mir wünschen, dass man sich mit diesem Problem auseinandersetzen würde. Meines Wissens gibt es keine Studie, die sich mit diesem Themen befasst. Das finde ich problematisch. Letztlich war das auch einer der Auslöser dieses Buch zu schrieben. 

 

Sie zeigen auf die Medien?

 

Ich frage mich. Wieso setzen sich die Südtiroler Medien partout mit bestimmen Themen nicht auseinander? Das ist für mich einfach nicht nachvollziehbar. Jetzt hatte ich die Zeit und auch die Gelegenheit dieses Buch zu schreiben. Auch Dank der Anregung von Gottfried Solderer.

 

Sie waren Direktor der Stiftung Vital und verarbeiten die Studienergebnisse der Stiftung jetzt als Buch. Ist das seriös?

 

Ich verstehe die Frage nicht. Das Wissen, das ich mir in den letzten zehn, zwölf Jahren angeeignet habe, muss ich das für mich behalten? Oder im Tresor einsperren. 

 

Auffallend kritisch wird im Buch die amtierende Gesundheitslandesrätin Martha Stocker beschrieben. Stocker war es, die Ihre Stiftung Vital verschrottet hat. Die Revanche?

 

Das stimmt nicht. Sie wird überhaupt nicht besonders kritisiert….

 

Theiner ist für die Missstände mindestens gleich verantwortlich?

 

Sie tun immer personalisieren. Mir geht es darum auf bestimmte Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Dass wir zum Beispiel in bestimmten Bereichen eine Überdiagnostik haben, dass wir in bestimmten Bereichen Übertherapie haben. Dass wir informierte Patienten brauchen. Ich würde mir einen Austausch auf Augenhöhe zwischen Patient und Arzt erwarten. All das sehen die Südtiroler Medien nicht. 

 

Sie wollen als Journalist eine Medienschelte verteilen?

 

Die Südtiroler Medien laufen Gefahr in die Medikamentierungsfalle zu tappen. Sie mit ihrem Interview offensichtlich auch. Um es kameratechnisch zu sagen: Ihr seid immer in der Nahaufnahme auf der Krankenversorgungsebene. Immer auf die Fragen fokussiert: Brauchen wir diese Abteilung? Brauchen wir dieses Krankenhaus? Der Streit zwischen diesem Primar und diesem Direktor. Die Hausärzte haben ein Problem, die Hebammen haben ein Problem usw. Ihr bleibt dabei immer auf der Krankenversorgungslogik. Mein Plädoyer hingegen ist - und das seit vielen, vielen Jahren - dass wir von dieser Nahaufnahme weggehen, auf zoomen und in die Totale gehen. Dann kommt ein ganz anderes Bild heraus. Denn dann kommt man auf die Ebene der Gesundheitspolitik.

"Mein Plädoyer ist, dass wir von dieser Nahaufnahme weggehen, auf zoomen und in die Totale gehen. Dann kommt ein ganz anderes Bild heraus."

Sie handeln das Thema anhand von 14 Fragen ab. Was ist für Sie die dringendste Frage?

 

Diese Bereitschaft in die Totale-Zu-Gehen. Dass es uns gelingt von einer Krankenversorgungspolitik weg, hin zu einer Gesundheitspolitik zu kommen. Dass wir endlich echte Gesundheitslandesräte haben. Versorgung ist natürlich wichtig. Aber vorher müssen wir uns doch fragen, was können wir tun, damit die Menschen möglichst lange gesund bleiben? Das ist die wichtigste Frage.

 

Sie gehen auch auf den medizinisch-industriellen Komplex ein. Zum Beispiel beim Screening-Wahn?

 

Das Wort Wahn würde ich zwar nicht gebrauchen, aber ich habe mir angeschaut, was die Wissenschaft dazu sagt und was auch internationale Fachzeitschriften schreiben. Ein offizielle Einrichtung des deutschen Gesundheitsministeriums hat eine Studie über Mammographien gemacht. Das Ergebnis: Wenn 1.000 Frauen zehn Jahre lang regelmäßig ein Mammographie-Screening machen, dann ist der Unterschied 4 zu 5. Also nicht wie das Assessorat behauptet: 35 Prozent. Der Unterscheid ist ein Promille. Natürlich wird man jetzt sagen, immerhin ein Menschenleben. 

 

Eine Argumentation, der man kaum widersprechen kann.

 

Dabei muss man aber auch berücksichtigen, dass diese Screenings auch negative Folgen haben. Zum Beispiel durch Falsch-Negativ-Befunde oder Falsch-Positiv-Befunde. Stellen Sie sich vor, sie bekommen einen Befund, dass sie Krebs haben. Das ändert das Leben total. Dann kommt sehr oft heraus, dass es ein falscher Befund war. Das sind die Schäden über die niemand spricht.

 

Haben Sie in diesem spezifischen Fall ein Lösung?

 

Meine Position ist klar: Man muss die Frauen einfach objektiv aufklären. Man muss sagen, das sind unsere Möglichkeiten, so gut ist heute die Technologie, das können wir leisten, aber es gibt auch diese und diese Probleme, die damit verbunden sind. Und nicht falsche Dinge versprechen, die einfach nicht stimmen.

 

Eine anderes Kapitel in Ihrem Buch ist dem Kollaps der Ersten Hilfe in Bozen gewidmet.

 

Das ist auch nicht neu. Das ist ein klassisches Medienthema, wo schon viel darüber geschrieben wurde. Aber auch hier gilt dasselbe Frage: Wie können wir diesen Druck auf die stationäre Versorgung vermeiden. Und zwar im eigenen Interesse, aus Eigennutz, weil jeder eine gute Versorgung haben will. Solange die Stationen so überlaufen sind, kann das nie funktionieren.

 

Ist in manchen Abteilungen der Situation wirklich dramatisch?

 

Ja. Nehmen wir die Innere Medizin in Bozen. Laut einer Studie, die sie selber gemacht haben, hätten über 25 Prozent der Aufnahmen, die in der Abteilung gemacht werden, dort eigentlich nichts verloren. Das muss man sich einmal vorstellen. Das ist Wahnsinn. Wenn die Leute an einen falschen Ort kommen, dann stimmt etwas in der Versorgung nicht. Genau das wirkt sich aber dann negativ auf jene aus, die auf der Station sind. Auf das Pflegepersonal, auf die Ärzte aber natürlich auch auf die Patienten. Hier müssen wir einfach schauen Druck abzulassen.

"Laut einer Studie der Inneren Medizin in Bozen haben über 25 Prozent der Aufnahmen, die in der Abteilung gemacht werden, dort eigentlich nichts verloren."

Die Frage ist wie?

 

Das geht nur durch Vorsorge. Und vor allem durch eine multisektorale Gesundheitspolitik. Dabei spielen die sozialen Bedingungen eine eminent wichtige Rolle. Denn die Armen sind jene, die viel häufiger im System zirkulieren. Weil sie nicht die Ressourcen haben, nicht das soziale Netzwerk haben, weil Armut vererbt wird und damit auch Krankheit. Auf diese Dinge müssten die Politik, aber die Medien und wir alle genauer schauen.

 

Sie schreiben auch über das Bonus-Malus-System, das auch die Südtiroler Wirtschaft seit langem fordert. Ein Horrorszenario?

 

Das ist ein System, das wiederum nur auf Kosten der sozial Schwachen aufgeht. Diese Einrichtung geht für Menschen gut, die relativ gut situiert sind und die über Ressourcen verfügen. Diese Schicht kann vom Bonus profitieren. Aber die sozial Benachteiligten sind hier noch einmal die Verlierer. Auch die Geschichte mit der Eigenverantwortung. Das geht gut, für intellektuell, sozial und finanziell gefestigte Menschen. Aber nicht für sozial Benachteiligte.

 

Stimmt das die Südtiroler Sanität ein Vorzeige-System in Italien ist?

 

Auch hier muss man Krankenversorgung und Gesundheitssystem unterscheiden. In der Krankenversorgung sind wir sicher nicht schlecht. Aber wir sind auch nicht die Besten. Es gibt mehrere Regionen in Italien, die bessere Leistungen erbringen. Da gibt es eine ganze Reihe von Studien, die das ergeben haben. Wir sind gut, aber bei weitem nicht die Besten.

 

Und in der Gesundheitsvorsorge?

 

Was kenne Sie da? Wenn man diese Frage stellt, dann kann fast niemand antworten. Das sagt doch alles.

 

Sie weinen anscheinend Ihrer Stiftung Vital nach. Das Buch klingt phasenweise genau so?

 

Nein, das Kapitel ist definitiv abgeschlossen. Das Buch ist ein Plädoyer, damit wir nicht permanent und kollektiv in die Medikamentisierungsfalle tappen. Hier wird eine ganze Sparte Opfer ihres eigenen Erfolges. Wir müssen uns einfach von dieser ganzen Fortschritts-Gläubigkeit, von dieser fast religiösen Verklärung verabschieden. Wir brauchen eine Super Medizin, wir brauchen auch Strukturen und Geld. Wir müssen aber auch die Vorarbeit leisten.

 

Die wäre?

 

Das heißt zum Beispiel Setting orientierte Gesundheitsförderung. Das haben uns nicht selber ausgedacht, sondern wir haben nur die Empfehlungen der Welt-Gesundheitsorganisation umgesetzt. Es geht nicht darum, die Leute durch Kampagnen oder durch Empfehlungen dazu zu bewegen, nicht zu Rauchen, nicht zu Saufen oder falsch zu Essen. Sondern es geht darum, die Lebensbedingungen durch partizipative Prozesse so zu verändern, dass das Gesundheitsförderlich sind. Das ist der radikal neue Ansatz, der inzwischen auch schon fast 30 Jahre alt ist. Gemeinsam, über die Betroffenen, in bestimmten Settings, sie zu entpowern, sie zu befähigen gesunde Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist der Weg. Und nicht Plakate aufzuhängen oder Radiospotts zu machen.

 

Sie haben in Ihrem Buch sehr viele anonyme Informanten zitiert. Kann man sich im Südtiroler Gesundheitssystem wirklich nicht mehr getrauen, offen zu reden?

 

Seit dem Maulkorb-Erlass nicht mehr. Es gibt einige, die offen reden. Andere sagen, lass mich lieber draußen.

 

Südtiroler Feigheit oder ein perfides System?

 

Nein, das ist ein Erlass, den noch Andreas Fabi und nicht Thomas Schael gemacht hat. Sie dürfen über Betriebs-Interna nicht reden. Das muss man auch verstehen. Keiner will, dass seine Mitarbeiter nach draußen gehen und alles auszuposaunen. Es kommt also auf den Rahmen an und auch mit welcher Absicht das stattfindet.

 

Sie stilisieren Andreas Fabi im Buch zum Opfer der Politik hoch?

 

Nein, das ist seine Wahrnehmung und die Arbeitsrichterin hat ihm offensichtlich auch Recht gegeben. Er hat vor dem Arbeitsgericht Recht bekommen. Mich interessiert es auch hier nicht die ganze Sache zu personalisieren.

 

Diese Buch wird allein wegen seiner Thematik ein Verkaufserfolg werden. Was erwarten Sie sich inhaltlich?

 

Ich erwarte mir, dass die Südtiroler Medien anfangen in einer multisektoralen Gesundheitspolitik zu denken. Wenn das gelingt, dann habe ich sehr viel erreicht. 

 

Sind Sie auf den Gegenschlag von Schael & Co vorbereitet?

 

Nein. Den wird es nicht geben. Denn man wird sehen, dass ich mich im Buch bemüht habe, ein paar Zusammenhänge darzustellen und dass ich nicht pauschal kritisiere. 

 
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Sell Woll Do., 18.05.2017 - 20:00

"...von dieser Nahaufnahme weggehen" ... damit niemand auf den Gedanken kommt, sie auf den Autor und seine Jobs im Vorhof der Politik zu richten? Und nun: Der steuerfinanzierte öffentlich rechtliche Rundfunk macht der Vorstellung dieses Buchs in 1.Morgengespräch 2.Nachrichten 3.Mittagsmagazin gratis die beste Werbung der Welt! Warum nicht gleich für alle Sanitätsbediensteten eine Ausgabe ankaufen, damit das Buch auch sicher kein Ladenhüter bleibt???

Do., 18.05.2017 - 20:00 Permalink