Gesellschaft | Gesundheit

Das gute Gehen

Über Bewegung in einer Gesellschaft, die zu wenig geht
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Wandern in den Dolomiten
Foto: Johannes Pardeller

Text: Evi Brigl

Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Alpenverein Südtirol
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Kinder können es zumeist mit einem Jahr und auch bis ins hohe Alter bewegen sich die meisten von uns auf zwei Beinen einigermaßen gut fort. Gehen ist keine Zauberei – würde man meinen. Wer genauer hinsieht, merkt aber, dass nicht jeder gleich „gut“ geht. Wir haben mit dem Sportwissenschaftler Mattias Schnitzer über Bewegungsmangel bei Jugendlichen, über die positiven Auswirkungen von Bewegung auf die Gesundheit und das „gute“ Gehen gesprochen.

Gehen die Menschen heute anders?

Wir gehen heute sicher anders als Ötzi oder die Menschen vor einigen Hundert Jahren, weil sich die Haltung und das Umfeld verändert haben. Unser Gang ist das Produkt dieser Veränderung. Zum Beispiel unserer Kleidungsgewohnheiten. Schuhe, wie wir sie tragen, haben unser Gehen immens beeinflusst. Jeder Schuh – nicht nur Stöckelschuhe – hat eine Erhöhung an der Ferse. Das wirkt sich unmittelbar auf die Haltung aus und ist die Haltung anders, verändert sich auch der Gang. Wir gehen tendenziell immer ein bisschen nach vorne gerichtet, das heißt, das Becken ist weiter vorne, der Oberkörper nach hinten gerichtet. Je höher der Absatz, umso schlechter ist es für die Haltung. Außerdem sitzen wir heute viel, dadurch tendieren wir zu einer Haltung, bei der der Kopf zum Brustbein gesenkt ist – auch beim Gehen, das kann man durch die Bank beobachten. Verändert hat sich natürlich auch der Untergrund. Wer im urbanen Gebiet unterwegs ist, geht meistens auf befestigtem Untergrund. Das Gehen ist dort vom Bewegungsablauf her monotoner als in der Natur.

Was macht denn gutes Gehen aus?

Da kommen viele Sachen zusammen: Balance, Körpergefühl, das richtige Timing: die zeitliche Abstimmung von Muskulatur. Im Grunde genommen ist Gehen komplexer als man meint. Es läuft zwar automatisch, aber viele von uns gehen „falsch“, kippen den Oberkörper beim Gehen zu stark nach links und rechts ab. Und wenn es falsch angelernt ist, ist es nur schwer zu ändern.

Grundsätzlich gibt es zum richtigen Gang heute zwei Lager: die einen, die den Fersengang propagieren, und die anderen, die sagen, dass man mit den Ballen zuerst auftreten soll. Beides hat Vor- und Nachteile. Der Fersengang ist der natürliche Gang heute: Das Auftreten mit der Ferse; mit dem Nachteil einer größeren Belastung des Körpers durch das „härtere“ Auftreten. Ich denke, man muss einen Mittelweg finden: Versuchen im Fersengang ein wenig harmonischer, dynamischer aufzutreten. Dann ist der Fersengang der natürlichere. Und wenn ich einen Spaziergang mache, bei dem ich auch mal einen weicheren Untergrund habe, eine Steigung mit einigen Stufen, dann wechsle ich automatisch vom Fersengang in den Ballengang. Auf festem Untergrund gehen wir normalerweise auf der Ferse, auf einem Waldboden oder einer Stiege im Ballengang. Beim Laufen ist die Ferse ohnehin aus dem Spiel. Der Wechsel ist das Ideale.

Ist Gehen also auch ein wenig eine Stilfrage?

Von hundert Leuten gehen hundert anders. Sicher hat jeder seinen Stil. Es soll auf alle Fälle ein ökonomisches, rhythmisches, schonendes Bewegen sein. Wenn man den Gang der Menschen analysiert, findet man bei vielen Leuten Auffälligkeiten. Aber solange man keine Schmerzen hat, wieso soll man daran zwanghaft was ändern?

Triffst du in deiner Arbeit als Sportlehrer und Trainer heute mehr Leute mit zwei „linken“ Füßen?

Die Fähigkeiten in einigen klassischen Sportarten wie Leichtathletik, Turnen oder Schwimmen sind bei Kindern zwar eher rückläufig, aber viele folgen anderen, vielleicht attraktiveren Sportarten. Grundsätzlich haben die Kinder in den einzelnen Sportarten weniger Biss, aber ich würde sagen, dass trotzdem circa 70 Prozent meiner Schüler in einem Sportverein aktiv sind. Sicher mehr als früher. Und die sind auch motorisch auf einem altersentsprechenden Entwicklungsstand. Auffällig sind jene, die nichts machen.

Welche Auffälligkeiten beobachtest du bei diesen Kindern?

Da sieht man, dass die Bewegungen unkoordiniert sind, da stimmt die Haltung und auch die Beinachse nicht. Es fehlt das Körpergefühl und das Gleichgewicht. Das Problem ist, dass Kinder im Allgemeinen außerhalb der Sportvereine kaum Bewegung haben. Wenn ich keinen Schulweg zu Fuß mache und meine Freizeit lieber vor dem Fernseher oder dem Computer im Haus verbringe, dann komme ich in einen schlechten Kreislauf hinein.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Die Gemütlichkeit fängt beim Schulweg an. Auch Kinder, die teilweise nur wenige Hundert Meter von der Schule entfernt wohnen, werden mit dem Auto hingebracht. Da sind die Eltern gefragt; sie sollten ein gutes Vorbild sein.

Wieso muss gerade bei den Kindern der Hebel angesetzt werden?

Motorische Defizite lassen sich später nur mehr schwer ausgleichen. Wenn ich als Kind schon positive Erfahrungen mit Bewegung gemacht habe, dann bleibt das ein Leben lang. Auch die Langzeitwirkung auf die Gesundheit lässt sich mittlerweile nachweisen. Es gibt Studien, die belegen, dass Kindern, die Krafttraining machen, ein Stimulus für die Knochenstärke bleibt, der im Alter Osteoporose entgegenwirkt.

Und was ist mit den Erwachsenen? Die haben meist neben dem Beruf nicht Zeit für eine sportliche Betätigung.

Hier muss man auf Sensibilisierung setzen. Eigentlich wissen die Menschen ja, dass die Bewegung für ihre Gesundheit immens wichtig ist. Nur verdrängt man es im Alltag gerne. Aber gerade beim Thema Gesundheit müsste eigentlich für alle ein Grundpensum machbar sein, denn hier geht es nicht so sehr um Intensität als um Regelmäßigkeit. Da kommt das Gehen ins Spiel.

Unterscheiden sich Gehen und Laufen also gar nicht?

Bezüglich Energieverbrauch natürlich schon, aber was die Gesundheit betrifft nein. Gegenüber dem Laufen hat das Gehen den Vorteil, dass es nicht so anstrengend ist. Ich kann es auch im Alltag und zwischendurch erledigen, ich brauche keine spezielle Kleidung, weil ich nicht so schwitze, ich kann die Natur genießen und mich unterhalten.

Wieso ist Gehen aber dennoch so unattraktiv? Alle meinen Laufen zu müssen …

Für einen Zehnjährigen mag das Gehen eher langweilig sein, für die Generation „60 plus“ ist es vielleicht genau das Richtige. Man muss sich das Gehen auch schön gestalten und sich ein anregendes Gelände suchen, wo es rauf- und runtergeht und ich Natur erfahren kann. Der Genuss ist beim Gehen dann auf alle Fälle höher als beim Laufen, wo wir mehr auf uns selber fokussiert sind. Beim Laufen ist bei den meisten Menschen nach einer Stunde Schluss, gehen kann ich länger. Meines Erachtens ist die Haltung der Medien problematisch, die für alle Bevölkerungsschichten durch Fitnesswerbung ein intensives Training propagieren. „High Intensity“-Trainingsprogramme aus dem Leistungssport boomen. In Fitnesszeitschriften wird der Kalorienverbrauch gezählt und wir sehen schwitzende athletische Körper. Solche Bilder sind natürlich leichter zu vermarkten als das Bild eines Fußgängers. Für den Laien ist es daher oft schwer zu verstehen, was für einen gut ist und was nicht. Das Problem ist, dass die Menschen ihrem Körper dann oft in kurzer Zeit zu viel abverlangen und als Resultat negative Erfahrungen durch diese Überlastung machen. Gehen wäre da oft viel besser.

Welche gesundheitlichen Vorteile bringt das Gehen?

Die positiven Effekte betreffen zum einen das Herz-Kreislauf-System – Stichwort Bluthochdruck – und die Auswirkungen auf den Stoffwechsel: Bewegung beugt Übergewicht und Folgeerkrankungen wie Diabetes vor. Dann sind da die positiven Auswirkungen auf den Bewegungsapparat – die Haltung, die Stärkung der Muskulatur, die Stärkung der Knochen und Gelenke. Hinzu kommen die psychologischen Aspekte, wie die Vorbeugung gegen Depression.

Wie viel muss ich gehen, um die positiven Effekte zu erzielen?

Ratsam sind zwischen einer halben und einer Stunde täglich, beziehungsweise vier bis acht Stunden wöchentlich. Mit diesem Pensum erreiche ich die positiven Effekte für die Gesundheit; was darüber hinausgeht verbessert meine Fitness. Dieses Minimum sollte jeder anstreben und auch schaffen. Wenn ich am Wochenende einen Spaziergang oder eine Wanderung unternehme, habe ich schon einen Großteil dieses Aufwandes erbracht. Aber wenn ich am Wochenende nichts mache, ist es im Alltag oft schwierig auf die nötige Bewegung zu kommen.

Wäre dann nicht gerade das Gehen im Alltag hilfreich?

Absolut. Die alltäglichen Wege sind regelmäßig und Regelmäßigkeit ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn ich schaffe einige Wege zu Fuß zu erledigen, das ist Medizin pur. Und natürlich wäre es besser, die Stiege statt den Aufzug zu nehmen.

Sind unsere Alltagswege zu unattraktiv?

Das Gehen ist in unserer Gesellschaft mehr Mittel zum Zweck. In dem Moment, wo ich mein Ziel erreicht habe, ist das Gehen abgeschlossen. Und keiner schaut, wie er eigentlich geht. Und wie das Gehen geht.

 

Der Sportwissenschaftler Mattias Schnitzer unterrichtet Sport an der Mittelschule Lana und ist Athletik- und Konditionstrainer u. a. der italienischen Rodelnationalmannschaft und für mehrere Skifahrer wie beispielsweise Dominik Paris, außerdem ist er Leiter des Lehrgangs „Sportinstruktoren“ beim Verband Südtiroler Sportvereine (VSS).