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Die Filmerzählerin

Hernán Rivera Letelier: Vom Teilnehmer an einem Preisausschreiben zum gefeierten Weltautor. Ein Gastbeitrag aus der Zeitschrift „Kulturelemente“ (#163).
Hernán Rivera Letelier
Foto: salto books

Von Lydia Zimmer

Der chilenische Autor Hernán Rivera Letelier begann mit 21 Jahren buchstäblich aus Hunger mit dem Schreiben: Ein nationales Radioprogramm lobte als ersten Preis für das beste Gedicht ein mehrgängiges Abendessen in einem feinen Restaurant aus. Hernán Rivera Letelier schrieb ein vierseitiges Liebesgedicht und gewann. Heute ist er einer der meistgelesenen Autoren der spanischsprachigen Welt.

Hernán Rivera Letelier wurde unter anderem durch seine Darstellung des Lebens in den chilenischen Salpeter-Bergbaugebieten in der Atacamawüste bekannt. Diese Küstenwüste im Norden Chiles gilt als die trockenste Wüste der Erde außerhalb der Polargebiete. Mitte des 19. Jahrhunderts begann für Chile genau dort ein Wirtschaftsboom: Das Salz, das direkt unter der Wüstenkruste lagerte, wurde abgebaut, das daraus gewonnene Salpeter als Düngemittel auf den Markt gebracht. Salpeter – Natriumnitrat – galt als weißes Gold. Etwa 200 Salpeterorte, sogenannte Salitreras, entstanden zwischen dem 19. und 26. Breitengrad, dem größten Nitratvorkommen auf dem Planeten. Chile stieg zum weltweit führenden Exporteur von Düngemitteln auf und deckte Anfang des 20. Jahrhundert 65 Prozent des Weltbedarfs. Der Boom brach mit dem Ersten Weltkrieg ein und ging später mit der Entwicklung des künstlichen Düngers zu Ende.

Der Autor wurde 1950 in Südchile geboren. Seine Familie zog mit ihm als Kind in die Atacamawüste im Norden des Landes in eine Bergbausiedlung. Als Heranwachsender besuchte er als einziger seiner Familie die Werksbibliothek der Minensiedlung. Er verlor seine Mutter in jungen Jahren. Während seine Geschwister zu den Tanten verteilt wurden, war er auf sich allein gestellt. So verkaufte er Zeitungen und arbeitete unter anderem als Laufbursche bei einer Nitrat-Firma sowie in der Salpetermine Pedro de Valdivia. Mit 17 Jahren ging er drei Jahre auf Wanderschaft nach Bolivien, Peru, Ecuador und Argentinien. Danach kehrte er in die Atacama zurück und heiratete. „Man muss nur in mein Gesicht schauen, dann sieht man gleich, dass ich kein Intellektueller bin“, so seine Selbstbeschreibung in einem Interview. Seine Biografie liest sich wie eine Heldengeschichte weiter: In Abendkursen erlangte er mit Anfang 20 seinen Schulabschluss. Heute ist er als Bestsellerautor von Kurzgeschichten, Romanen und Gedichten weltweit bekannt.

In seinen Romanen kehrt der Autor immer wieder an die Schauplätze seiner Kindheit zurück. So auch in Die Filmerzählerin: Der Roman spielt in einem Salpeterdorf in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Protagonistin María Margarita, ein zehnjähriges Mädchen, wohnt mit ihrem gelähmten Vater und ihren vier Brüdern in einer Minensiedlung mitten in der chilenischen Wüste. Ihre Mutter lief davon. Das Kino ist die einzige Attraktion in der rauen Siedlung, doch die Familie kann sich kaum einen einzigen Eintritt leisten. So wird die junge María Margarita geschickt. Denn das Mädchen hat die Gabe, dramatisch, emotional und anschaulich Kinofilme nachzuerzählen. Erst lauschen nur die Männer der Familie den detailreichen Erzählungen des Mädchens, doch bald sitzt das ganze Dorf gebannt im Wohnzimmer und applaudiert. Dies ist zugleich eine kleine hilfreiche Einnahmequelle für die Familie. „Ob Cowboys, Horror, Krieg, Marsmenschen oder Liebe“ – niemand konnte es mit der talentierten Filmerzählerin aufnehmen. Als der Vater stirbt und das Fernsehen Einzug in die Wohnzimmer des Dorfes hält, ändert sich das Leben der Filmerzählerin.

Das Büchlein mit knapp 100 Seiten ist eine Liebeserklärung an den Film, das Kino und das Erzählen. Es liest sich in knapp 90 Minuten – eine Filmlänge – und kommt sprachlich leichtfüßig daher; es ist humorvoll, doch klar und reflektiert. Zwischen den Zeilen kann eine aufmerksame Leserschaft neben der gebrochenen Schönheit der chilenischen Wüste und der Kraft der Poesie noch viel zum Nachdenken finden: über das Schöne, Skurrile und Schreckliche in Chile und im Leben.

salto.bz in Zusammenarbeit mit Kulturelemente.