Chronik | Second Hand

Sommerliche Sezessions-Fantasien

Deutschland ohne Bayern, eine Großschweiz mit den Kantonen Lombardei, Aosta, Veltlin und Südtirol. Die mediale Diskussion ist eröffnet.
Lichtblicke
Foto: Südtirolfoto/Helmuth Rier

“Jeder dritte Bayer will kein Deutscher sein.” Keine Meldung hat in den vergangenen 24 Stunden auf der Facebook-Seite der ARD-Tagesschau ein derartiges Echo hervorgerufen: über 2.600 Kommentare, knapp 8.000 Reaktionen und fast 1.200 Mal geteilt. Dass sich 32 Prozent der befragten Bayern die Unabhängigkeit ihres Freistaates wünschen hat eine Umfrage des privaten Meinungsforschungsinstituts YouGov ergeben. In keinem anderen deutschen Bundesland ist die Zustimmung zur Abspaltung von der Bundesrepublik so hoch wie in Bayern.

Mit dem Thema Sezession beziehungsweise dem Wunsch danach hat sich jüngst auch die Neue Zürcher Zeitung beschäftigt. Allerdings geht es in dem Artikel “Make Switzerland great again”, der Mitte vergangener Woche auch online erschienen ist, nicht um die Abspaltungstendenzen in der Schweiz, sondern um die Expansionsszenarien der eidgenössischen Alpenrepublik. “In fast allen Nachbarregionen der Schweiz kam es in den letzten Jahren zu mehr oder weniger ernstzunehmenden sezessionistischen Initiativen”, schreibt NZZ-Autor Simon Gemperli und malt das Bild einer Schweiz, der 2050 nicht nur das kleine Vorarlberg, Aosta und Veltlin angehören könnten, sondern auch große Regionen wie Badem-Württemberg oder die Lombardei – und Südtirol.

Südtirol? Dass auch unser Land zu den möglichen neuen Kantonen gezählt wird, ist einem Artikel in der Schweizer Zeitung “20 Minuten” aus dem Jahr 2014 zu verdanken. “Auch das Südtirol will jetzt zum Kanton werden”, meldete die Zeitung vor ziemlich genau drei Jahren. Verdächtig erschien damals der Titel des Global Forum Südtirol, das im Oktober 2014 unter dem Titel “Kanton Südtirol – Utopie oder Modell?” stattfand. “Einige Südtiroler wären sicher dafür, ein Schweizer Kanton zu werden”, zitierte “20 Minuten” damals den Global-Forum-Südtirol-Gründer Christian Girardi. Und schwupps, die Schlagzeile war geboren – eine ebenso waghalsige wie jene des “Giornale di Brescia”. Die lombardische Lokalzeitung titelte nach dem jüngsten NZZ-Artikel: “Entro il 2050 la Svizzera vorrebbe annettere la Lombardia”. Und auf Ticinolibero werden bereits Spekulationen laut: Wenn sich die Lombardei schon der Schweiz anschließen sollte – wobei die Vorstellung einer unabhängigen Lombardei besser gefällt –, dann aber bitte mit Mailand als neue Schweizer Hauptstadt.

“Gälte das in der Uno-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker absolut, müsste sich Bern auf einige Beitrittsgesuche gefasst machen.”
(Simon Gemperli in “Make Switzerland great again”)

“Die Phantasien einer Grossschweiz haben hierzulande nicht nur einen belustigenden, sondern auch einen sinnstiftenden Effekt”, schrieb NZZ-Autor Gemperli bereits 2014. “Die steigende Bewunderung durch andere Nationen ist Balsam auf die Wunden eines Landes, das fiskalpolitisch am Pranger steht und in Europa einen eigenen Weg geht.” Doch drei Jahre später kommt er zum Schluss: “Realistischer als die Verschiebung der Grenzen ist deren Überwindung im alltäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben.”

 

Den vollständigen Artikel “Make Switzerland great again”, der am 12. Juli in der Onlineversion auf nzz.ch erschienen ist, gibt es hier nachzulesen.