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“Dauernd Fußball schauen geht nicht”

Die Schweizer Schiedsrichter-Legende Urs Meier warnt vor monotonem und abgehobenem Fußball – und zieht nach der EM 2020 Bilanz.
Urs Meier
Foto: Beat Baschung Fotografie

In seinem Leben drehte sich viel um Fußball. Lange lief er ihm selbst hinterher, heute kommentiert er die Spiele im Fernsehen, unter anderem für Sky und SRF. Der ehemalige Schweizer Spitzen-Schiedsrichter Urs Meier (62) spricht über die EM, den VAR, die Idee, das Abseits komplett abzuschaffen und die Entwicklung im prestigeverwöhnten Fußball im Allgemeinen.

salto.bz: Herr Meier, wie bewerten Sie die Leistung der Schiedsrichter bei der EM?

Urs Meier: Die Schiedsrichter waren mindestens gut bis sehr gut. Von den 51 Spielen wurden meiner Meinung nach gut und gerne 40 exzellent vom Referee geleitet. Es wurde eine unterhaltsam-großzügige Linie gefahren und das von Beginn an. Auch die neue Handspielregel haben die Schiris unglaublich gut umgesetzt, man erinnere sich nur an das erste Spiel Türkei gegen Italien.

Gleich dreimal berührte in diesem Spiel ein Verteidiger den Ball im Strafraum mit der Hand.

Und bei allen drei Berührungen traf Schiedsrichter Danny Makkelie meiner Meinung nach die absolut richtige Entscheidung und zeigte nicht auf den Punkt. Beim Handspiel muss die Absicht im Vordergrund stehen. In allen drei Aktionen gab es keine Absicht. Es handelte sich um eine natürliche Bewegung des Verteidigers. Außerdem kam der Ball jeweils von sehr kurzer Distanz. Vor wenigen Monaten hätte es bei solchen Situationen vermutlich noch einen Penalty gegeben. Im Vorfeld des Turniers hatten die Verbände jedoch deutlich unterstrichen, dass allein der Kontakt mit der Hand für einen Strafstoß nicht ausreicht. Und die Referees haben dies perfekt umgesetzt.

Nichtdestotrotz gab es einige Aufreger. Allen voran in den Spielen Schweiz gegen Spanien und Dänemark gegen England.

Ja, das ist richtig. Und natürlich diskutiert man im Nachhinein immer nur über Fehlentscheidungen. Sowohl bei den Schweizer als auch bei den dänischen Fans und Spielern kann ich den Frust natürlich nachvollziehen. Wenn man lange Zeit in Unterzahl spielen muss oder der Gegner in einem Halbfinal einen nicht gerechtfertigten Elfmeter zugesprochen bekommt, dann hadert man natürlich mit dem Schiri. Vor allem aber mit dem Video Assistant Referee (VAR).

Fußball ohne Abseits würde es dem Spiel erlauben, zu atmen und lästige Diskussionen würden wegfallen.

Dies war die erste Europameisterschaft, die den VAR einsetzte. Wie kann man sich die Kommunikation zwischen Referee auf dem Platz und Video Assistant Referee am Bildschirm vorstellen, wenn es um den Entscheid von solch heiklen Situation geht?

Die Richtlinien, die die UEFA für das Turnier herausgegeben hatte, waren eindeutig: Nur bei einem klaren Fehlentscheid soll der VAR eingreifen. Ansonsten bleibt die Entscheidung dem Schiedsrichter überlassen und das halte ich auch für gut und richtig. Gibt es eine mögliche Fehlentscheidung muss der VAR den Schiri fragen: «Was hast du gesehen? Was ist dein Bild von der Situation und wieso hast du so entschieden?» Im Beispiel der Schweiz hat Schiedsrichter Michael Oliver dann vermutlich gesagt: «Freuler ging mit ausgestreckten Beinen, Sohle und Stollen voran in den Zweikampf. Also Rot.» Der VAR war der Meinung, dass man die rote Karte geben kann, es also kein klarer Fehlentscheid des Referee war. Wenn man die Zeitlupe aber anschaut, sieht man, dass Freuler den Fuß abwinkelt. Also hätte der VAR sagen müssen: «Nicht ganz korrekt. Bitte schau es dir nochmals an.» Und dann kann der Schiri überprüfen, ob das Bild, das er im Kopf hatte mit dem Bild auf dem Screen korrespondiert. Ist dies nicht der Fall, muss er sagen: «Scheiße, da hab ich mich getäuscht. Rot ist zu hart, Gelb reicht.» Das ist leider nicht passiert und das ist schade.

Macht der VAR den Fußball gerechter?

Ich selbst bin da nicht so sicher. Ich habe manchmal das Gefühl, es handelt sich um eine Pseudogerechtigkeit. Nehmen wir als Beispiel die Abseitsregel. Von den Verbänden werden hierfür hunderte Statistiken herangezogen, dass der VAR in 99 Prozent der Fälle richtig entscheidet. Und den Fußball dadurch fairer macht. Da muss man sich aber schon fragen, wie diese Statistiken zustande kommen. Eindeutige Abseitssituationen, wo der Stürmer drei Meter im Abseits steht, werden laufen gelassen. Dann greift der VAR ein und bestätigt, was alle schon gesehen haben. Natürlich ist das für die Statistik hilfreich. Oder diese verrückten Bilder, wo der Stürmer eine Zehenspitze im Abseits steht. Hat man sich jemals gefragt, wie viel Toleranz bei solchen Aufnahmen gewährt wird? Wurde das Bild am richtigen Zeitpunkt gestoppt oder nicht vielleicht einen Sekundenbruchteil später oder zu früh?

Wir müssen höllisch aufpassen, dass sich der Fußball nicht zu sehr von den Menschen, den Fans entfernt.

Der VAR soll den Schiedsrichter ein wenig die Last von den Schultern nehmen. Verschiebt den Entscheidungsprozess jedoch in irgendeine Kammer, welche die Fans nicht sehen. Und – deus ex machina – kommt dann ein anonymer Entscheid. Für viele Zuschauer ist das unbefriedigend. Wie sehen Sie das?

Ich teile diese Kritik. Vor allem die Anonymität des Entscheids gefällt mir nicht. Die Schiedsrichter unterdessen finden es natürlich gut. Früher mussten wir Referees ohne Fangnetz übers Hochseil laufen. Heute pfeift der Schiri im Wissen, dass im Notfall jemand ihn auffängt. Die Frage ist: Wann pfeift man konzentrierter, besser, sicherer?

Wie könnte man dieses Problem der Anonymität beheben?

Eine Option wäre, dass man es wie im American Football oder beim Rugby macht. Und einfach die Wiederholung auch auf dem Bildschirm im Stadion zeigt und nicht nur auf den Fernsehgeräten daheim. Da hat man aber dann gleich wieder das nächste Problem: Stellen Sie sich vor, wie es auf den Rängen der Dänen abgegangen wäre, wenn alle sehen, dass das viel zu wenig für einen Elfmeter war. Da möchte ich nicht in der Haut des Schiris stecken.

Ein unlösbares Problem also? Irgendjemand ist immer der Leidtragende?

Ein zumindest schwer lösbares Problem. Und der Königsweg zur Lösung ist immer noch derselbe, egal wie viel technische Erneuerungen wir noch einbauen: Wir brauchen Schiedsrichter, die auf der Höhe sind, die das Spiel lesen, Fingerspitzengefühl haben. Ich vergleiche den VAR gerne mit einem Airbag im Auto. Wir sind froh, dass wir ihn haben. Am schönsten wäre es aber, wenn er nie zum Einsatz käme. Wenn jetzt ein Schiri pro Spiel dreimal den VAR – also seinen Airbag – braucht, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Vermutlich ist er dann mit der Situation überfordert. Und das darf auf einem solchen Niveau nicht mehr passieren. Punkt.

Mit oder ohne Fangnetz – wann pfeift ein Schiri konzentrierter, besser, sicherer?

Sie sind also prinzipiell skeptisch, was weitere technische Erneuerungen im Fußball betrifft?

Das würde ich so nicht sagen, nein. Ich war zusammen mit Sepp Blatter einer der ersten, der sich damals für die Torlinientechnik einsetzte. Schlichtweg deshalb, weil das menschliche Auge nicht in der Lage ist, zu erkennen, ob der Ball jetzt die paar Zentimeter hinter der Linie war oder nicht. Du kannst es nicht sehen und musst trotzdem eine Entscheidung treffen? Ja verdammt noch mal, wie soll das denn gehen? Hier war der Einsatz von Technik notwendig. Und die Torlinientechnik ist etwas, was ich im Fußball nicht mehr missen möchte. Sie führt zu keinerlei Diskussionen, ist notwendig und absolut fair. Bei Abseitsentscheiden mithilfe von VAR bin ich da hingegen nicht so sicher. Ich denke, dass man da noch vielleicht nach besseren Alternativen suchen kann. Eine etwas skurrile Alternative hatte ich 2006 sogar schon zur Debatte gestellt.

Welche?

Ich warf damals in den Raum, das Abseits doch einfach komplett abzuschaffen. Ähnlich wie im Land- oder Feldhockey, wo das Abseits gelöscht und der Sport – da sind sich alle Beteiligten einig – attraktiver, schneller, spannender wurde. Auch im Fußball würde dies dem Spiel erlauben, zu atmen, es würde die Räume breiter machen, das Spiel auseinander ziehen. Außerdem würden eben lästige Diskussionen bezüglich Abseits komplett wegfallen.

Ein Fußball ohne Abseits. Klingt zumindest gewagt.

Sepp Blatter hatte sich damals direkter ausgedrückt und gemeint: «Wer so etwas fordert, hat keine Ahnung vom Fußball.» Und ich behaupte ja nicht, dass dies denselben Effekt haben würde, wie im Feldhockey. Aber ich war und bin der Meinung, dass man es zumindest testen könnte. Und dann ein Fazit ziehen, anstatt die Idee von vornherein abzuschmettern.

Ich hatte mal die Idee, eine Konkurrenzliga zur Champions League zu gründen. Eine Liga, wo kleine Vereine vertreten sind.

Apropos neue Ideen. Die Europameisterschaft fand heuer gleich in mehreren Ländern statt. Manche Teams reisten durch ganz Europa. Vor wenigen Monaten gab es die Meldung einer geplanten Super League. Nächstes Jahr dann eine WM im Dezember in Katar. Wie bewerten Sie solche Entwicklungen?

Es ist ja immer so, dass sich manche Prozesse – egal ob im Fußball, in der Wirtschaft oder der Politik – so lange zuspitzen, bis sie dann implodieren und sich selbst abschaffen. Und ich denke, dass wir beim Fußball höllisch aufpassen müssen, dass er nicht zu monoton wird, dass er sich nicht zu sehr von den Menschen, den Fans entfernt. Natürlich ist ein Spiel Bayern München gegen Real Madrid ein absolutes Highlight. Aber als sportlicher Festtag, als Weihnachten für die Fans. Wenn jetzt alle paar Wochen Bayern gegen Real spielt, dann wird das doch einfach langweilig. Man ist übersättigt, man hat genug. Gleiches gilt für die Weltmeisterschaft, bei der man jetzt eine Austragung alle zwei Jahre plant, weil das natürlich noch mehr Geld einbringt.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren?

Ich denke, dass wir wieder Typen brauchen, Identifikationsfiguren und Vereine, die sich wirklich um ihre Fans kümmern. Vereine, welche die DNA des Fußballes, wie wir in lieben, noch in sich haben und wo man die Bratwurst im Stadion noch riecht. Und solche Vereine gibt es, sei es der FC St. Pauli oder Union Berlin in Deutschland, sei es der FC Aarau oder Winterthur hier in der Schweiz. Ich hatte mal die Idee, eine Konkurrenzliga zur Champions League zu gründen. Eine Liga, wo solche – oft kleinen – Vereine vertreten sind. Da würde dann Queens Park Rangers gegen St. Pauli spielen, Union Berlin gegen Winterthur. Und jeder wäre – anders als es bei der Champions League der Fall ist – in der Lage, sich das Abo für die Spiele zu leisten. Ich denke, dass eine solche Liga ganz schnell mehr Zuschauer haben kann als irgendeine Super League mit den Spitzenteams Europas, die zum x-ten Mal gegeneinander antreten.

Ab nächster Saison kommt dann auch noch die Conference League dazu. Also noch mehr anstatt zurück zu alten Tugenden?

Wie gesagt: Ich warne davor, dass wir es übertreiben. So schön der Sport auch ist, du kannst doch nicht dauernd Fußball schauen. Freitgabendspiel, dann Samstag von 15:30 bis 20:00 Uhr. Dann drei Sonntagsspiele, noch ein Spiel am Montag. Am Dienstag und Mittwoch Champions League, am Donnerstag Europa League, dazu noch Pokal und jetzt Conference League. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

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Sebastian Felderer So., 18.07.2021 - 09:40

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So., 18.07.2021 - 09:40 Permalink