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Erinnerungssturz

Literatur Lana erinnert der Erinnerung. Ab 24. August gibt es Lesungen, Vorträge, Gespräche und Diskussionen im Raiffeisenhaus Lana. Ein Überblick.
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Foto: Literatur Lana

Erinnerung vergisst, will vergessen und ist wählerisch. Sie verschiebt, überlagert, überschreibt und überblendet. Sie verändert, verzerrt und verformt, sie bejubelt und sie schlägt kaputt, sie verhakt sich und verebbt, entschlüpft und verdeckt. Sie hüpft und stürzt ein, taucht auf und bringt zum Einsturz, manchmal, hören wir jüngst, selbst Denkmäler. In dem flimmernden Bewusstseinsakt, der Erinnerung genannt wird, lauert stets der Zweifel an der eigenen Wahrheit. Was sie erzählt, ist nicht allein Geschichte, und wie sie es erzählt, ist Teil des Erzählten. 

Woraus entsteht dann erinnerte Vergangenheit? Wie verwandelt sich Gedächtnis in ein Erzählen und in Literatur? 

Vergangenheit, auf die Erinnerung blickt, ist auch nie ein Ganzes, wie das klassische Verständnis des Gedächtnisses als Speicher oder Archiv angenommen hat. Sie ist keine stabile Größe, auf die wir ungebrochen Zugriff hätten. Vielmehr stellt sich Vergangenheit in Brüchen und Fragmenten her, die in sich wieder Lücken und blinde Flecken haben und nicht gestellte Fragen an die Erinnerung enthalten. 
Worauf also verlassen wir uns, wenn wir fragen, was war, und wenn wir es erzählen? An welchem Punkt beginnt erfahrene Geschichte, wenn wir von früher erzählen und „damals“ sagen, „einmal“, „als“ und „später“? Es geht ja um Erfahrung, die wir in Sinn verwandeln wollen, wenn wir erzählend in die Vergangenheit schauen und sie in die Gegenwart herein holen. Woraus entsteht dann erinnerte Vergangenheit? Wie verwandelt sich Gedächtnis in ein Erzählen und in Literatur? 


Mit der Gedächtniskultur, der die Literaturtage Lana seit Jahren und jenseits der kulturkritischen Klage, dass das Gedächtnis schwinde, folgen, gehen wir davon aus, dass in jede Erinnerung die Erfahrung eines Jetzt und eines Damals ineinanderfließen, dass wir also Momente vom einen in die des anderen tragen und auf Gewesenes nicht zurückgreifen, als ob es irgendwo eingelagert und gespeichert wäre und uns als konserviertes, passives Objekt zur Verfügung stünde. Wenn wir es hervorholen, tun wir es mit dem, was uns jetzt an Wissen, Wahrnehmung und Erleben zur Verfügung steht und wir tun es mit den Fragen, die uns jetzt bewegen und in diese oder jene Vergangenheit zurück blicken lassen.


Die 35. Literaturtage Lana ziehen in einer Video-Übertragung mit Swetlana Alexijewitsch, Erfahrungen von Menschen literarisch heran, die in Bruchstücken Leid und Schrecken erzählen. Die große weißrussische Chronistin sammelt unzählige Stimmen von Zeugen und vereint sie zu einem Chor, der die erfahrene Geschichte als Wahrheit behaupten kann. In einem Gespräch gibt die Nobelpreisträgerin von 2015 über Literatur und Geschichte Auskunft.
Auf Entdeckungs- und Enthüllungsreise in eine deutsche, auch familiär belastete Vergangenheit begibt sich die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber, die derzeit auf der Longlist des deutschen Buchpreises steht. Sie stützt sich in dem Roman „Ahnen“ auf Recherche und Erzählung, die zu persönlicher Beklommenheit ebenso wie zu literarischer Demut führt.


Wie eine Macht der Gegenwart auf heimtückische Weise Erinnerung nach und nach zerstört und versucht, alle Spuren der Geschichte zu löschen, erzählt die Französin Cécile Wajsbrot in traumartiger, dunkler Ahnung von Zukünftigem.

Géraldine Schwarz schreibt mit "Die Gedächtnislosen" europäische Geschichte. Ihre These: Die rechtspopulistischen Strömungen in Europa lassen sich damit erklären, wie der Kontinent nach dem letzten großen Krieg sich mit seiner Geschichte auseinandergesetzt hat. Zur Veranschaulichung verknüpft die Autorin ihre Familiengeschichte mit der großen Geschichte und stellt dazu reiches Quellenmaterial in aufschlussreiche Zusammenhänge.


Der Erinnerung widmet die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky ihren neuen Gedichtband „Schiefern“. Die bizarre Insellandschaft vor der Westküste Schottlands wird ihr zur Metapher der Trümmer und gefluteten menschlichen Steinbrüche.

 

Ein Blick auf Polen fällt zum einen mit der Lektüre eines Klassikers, mit Miron Białoszewski. Er war 21 Jahre alt, als er am 1. August 1944 das Haus in der Warschauer Innenstadt verließ, um seiner Mutter Brot zu besorgen und mitten hineingeriet in das heroischste und tragischste Kapitel der polnischen Geschichte. „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ zeigt die menschliche Brutalität der Grausamkeit und die Ermordung einer Stadt.


Magdalena Tulli ist die zweite große Stimme Polens. Sie gehört gegenwärtig zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen des Landes, deren Literatur immer autobiografische Züge enthält. Tochter einer Überlebenden von Auschwitz, schreibt sie von einer tiefen, dem Menschen innewohnenden Traurigkeit, seiner Verlorenheit in einer Welt zwischen Tradition und Moderne, der durch herkömmliches Erzählen nicht beizukommen ist.