Wirtschaft | Interview

„Warum wir bessere Verträge brauchen“

Die Entspannung auf Südtirols Arbeitsmarkt basiert stark auf prekären Arbeitsverhältnissen, sagt CGIL-Gewerkschafterin und AFI-Präsidentin Christine Pichler.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Christine Pichler
Foto: afi/ipl.org

Frau Pichler, von Südtirols Arbeitsmarkt wurde uns vor kurzem das beste Halbjahr seit zehn Jahren gemeldet: eine Beschäftigungsquote von 78,8 Prozent, einen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 3,4 Prozent. Kann sich eine Gewerkschafterin also beruhigt zurücklehnen?

Christine Pichler: Es stimmt, dass die Beschäftigung gestiegen ist und die Arbeitslosenzahlen ein klein wenig zurückgegangen sind. Doch das ist vor allem den Arbeitsverhältnissen auf Zeit zu verdanken. Die positiven Arbeitsmarktdaten hängen also stark mit dem Anstieg prekärer Arbeitsverhältnissen zusammen, die gegenüber dem Vorjahr um fast 11 Prozent zugenommen haben. Die Anstellung von Personen auf unbestimmte Zeit hat dagegen letzthin wieder abgenommen, denn die Vorteile des Gesetzes von 2015 kommen nicht mehr zu Tragen.

 

Im Rahmen des Jobs Act hatte die Regierung Renzi den Betrieben damals für Fixanstellungen Erleichterungen bei den Sozialbeiträgen gewährt.

Ja, genau, im Jahr 2015 hatten wir dann auch eine Zunahme der unbefristeten Anstellungen. Doch mittlerweile sind wir wieder auf normalen Kurs zurückgekehrt und deshalb nehmen Arbeitsverträge auf Zeit sehr zu. Auch die Leiharbeit hat mit einer Zuwachsrate von 12 Prozent stark zugelegt, selbst wenn sie in Südtirol mit 1300 Beschäftigten immer noch relativ bescheiden ausfällt.

 

Das Wort prekär wird heute für alle möglichen Arbeitsformen verwendet. Wie grenzen Sie es als Gewerkschafterin ein?

Prekär sind alle Arbeitsverhältnisse, die nicht unbefristet sind. Am weitesten verbreitet sind bei uns befristete Verträge, zu denen auch die Saisonarbeit gehört. Die ist heuer zwar in der Landwirtschaft zurückgegangen, weil es dort große Probleme gab. Im Gastgewerbe, aber auch im produzierenden Gewerbe sind die befristeten Verträge dagegen sehr angestiegen. Und zwar vor allem bei Arbeitern, also Niederqualifizierteren, und Frauen. Angestellte haben dagegen mehrheitlich einen unbefristeten Vertrag. Das prekäre Arbeitsverhältnis schlechthin ist die Arbeit auf Abruf, das sind oft Null-Stunden-Verträge. Hier gab es vor allem im Gastgewerbe einen sprunghaften Anstieg, sicher auch in Folge der Abschaffung der Arbeitsgutscheine.

 

Das heißt, es gibt keine Garantie auf Arbeit bzw. auf ausreichend Arbeit?

Es gibt eben Betriebe, die nur ab und zu Arbeit haben. Zum Beispiel Wachdienste, die auf Veranstaltungen die Security übernehmen oder Cateringbetriebe. Solche Arbeitsverhältnisse wurden früher meist über Vouchers geregelt. Nach deren Abschaffung macht man nun vielfach unbefristete Verträge, aber eben als Arbeit auf Abruf.

 

Warum wird eine derart prekäre Vertragsform mit einem unbefristeten Vertrag verbunden?

Weil jeder neue Vertrag Geld kostet und die Unternehmen in diesem Fall lieber unbefristete Verträge schließen.

 

Die ArbeitnehmerInnen riskieren also ohne Arbeit oder mit zu wenig Arbeit dazustehen und dennoch an ein Unternehmen gebunden zu sein?

Ja, auch wenn sie natürlich kündigen können. Oft kommen Leute zu uns und sagen, sie wollen wieder raus aus solchen Null-Stunden-Verträgen und lieber in die Arbeitslosenlisten eingetragen sein. Doch dann beginnen die Probleme, denn wenn ich selbst kündige, habe ich kein Recht mehr auf Arbeitslosigkeit.

 

Die Voucher wurde aber schließlich maßgeblich auf Druck der CGIL abgeschafft.

Wir waren für die Abschaffung der Voucher in der viel zu liberalen Form, in der sie zuletzt genutzt worden waren. Da hat man zum Beispiel  Verkäuferinnen gesucht und einen Vertrag mit Gutscheinen, mit Voucher, geboten. Das war teilweise schon abartig. Doch wir haben nichts gegen eine Regelung für Gelegenheitsarbeit, die gehört natürlich anders geregelt als eine kontinuierliche Arbeit.

 

Sind prekäre Arbeitsverträge heute in allen Branchen zu finden oder konzentrieren sie sich auf bestimmte Bereiche?

Das geht heute durch alle Branchen, auch wenn manche besonders stark von prekärer Arbeit betroffen sind.

 

Ein Bereich, in dem man sie vielleicht nicht so sehr vermutet ist der Öffentliche Dienst, der ja gemeinhin als vorbildhafter Arbeitgeber in Sachen Job-Sicherheit gilt....

Ja, diesbezüglich hat das AFI einmal aufgezeigt, dass es im öffentlichen Dienst effektiv die meisten prekären Arbeitsverhältnisse gibt, vor allem in Pflegeeinrichtungen, Schulen, Kindergärten und Museen. Dort überall wird sehr stark mit befristeten Verträgen oder Werkverträgen gearbeitet. Stattdessen müsste das Land wirklich anfangen, die Stellen auszuschreiben und die Leute anzustellen. Da würden wir uns schon ein bisschen Mut wünschen. Denn die Politik sollte die Verantwortung fühlen, auch qualitative Arbeit zu schaffen.

 

Und nur befristete Arbeit ist qualitativ?

Denken wir nur daran, dass lebenslanges Lernen immer wichtiger wird, um wettbewerbsfähig zu bleiben – als Betrieb wie als ArbeitnehmerIn. Dafür braucht es aber ein sicheres Arbeitsverhältnis, denn man muss sich die Zeit nehmen können, um zu lernen und es braucht auch Geld dazu. Leider Gottes ist Weiterbildung in den Betrieben selbst bei unbefristeten Verträgen fast immer den höheren Qualifikationen vorbehalten, während die niedereren Qualifikationen wie auch prekäre Beschäftigte riskieren, hier zurückzubleiben und irgendwann den Anschluss zu verlieren. Deshalb wollen wir auch in die Richtung gehen, in Betriebsabkommen und in den Kollektivverträgen mehr Zeit für Weiterbildung zu reservieren.  

 

Wird die Kluft zwischen hoch- und niederqualifizierten Menschen also immer größer?   

Sagen wir, der Druck erhöht sich sicher auf alle. Doch er steigt noch mehr für all jene, die keine besonderen Qualifikationen vorzuweisen haben, auch weil sie eher austauschbar sind. Obwohl gerade im Dienstleistungssektor nach wie vor ein großer Bedarf besteht, von Pflegeberufen bis hin zum Gastgewerbe.

 

Doch es scheint nicht, als ob die große Nachfrage zu besseren Verträgen führen würde?

Es ist auch heute mehr als notwendig, bessere Verträge zu geben. Bis zum Jobs Act musste noch begründet werden, warum jemand mit Zeitvertrag angestellt wurde. Das war zumindest eine gewisse Bremse. Nun dagegen probiert man Menschen vor allem anfangs einfach mal aus – dank der freien Wahl solch prekärer Arbeitsverträge.

 

Müssen wir uns heute nicht einfach daran gewöhnen, dass es den „Job for Life“ nicht mehr gibt, dass wir eben nicht mehr so abgesichert sind wie noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Es ist sicherlich so, dass Arbeitsverhältnisse auf unbestimmte Zeit im Rückgang sind und es schon fast normal wird, dass jeder selbst schauen muss, dass er irgendwie durchkommt.  Aber eben weil wir Gesetze haben, die das ermöglichen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch ein Betrieb prekär wird, wenn er nur prekäre Angestellte hat und sich nicht bemüht, dauerhafte Beschäftigung in seinem Betrieb zu schaffen.

 

Welche Unterstützung erwarten Sie sich also von der Politik, ob auf Landesebene oder in Rom?

Auf Landesebene ist es sehr begrüßenswert, dass man erstmals den Ansatz diskutiert, die Irap-Senkung auch an Betriebsabkommen und damit an Löhne zu binden, also jene Betriebe mit Steuererleichterungen zu belohnen, die qualitativ gute Arbeit schaffen. Die Regierung in Rom macht dagegen hinsichtlich der Stabilisierung von Arbeitsverhältnissen leider Gottes keinen Schritt auf die Gewerkschaften zu.

 

Doch Sie haben nach wie vor die Hoffnung, dass man die Liberalisierung des Arbeitsmarktes irgendwann stoppen bzw. wieder rückgängig machen wird?

Das ist eine Frage, die nicht nur Südtirol oder Italien, sondern ganz Europa zu beantworten hat. Und die Gewerkschaften, aber auch arbeiterfreundliche Parteien setzen in Europa weiterhin auf unbefristete Beschäftigung – genauso wie auf Weiterbildung und Arbeitszeitverkürzung.

 

Damit mehr Menschen sich die immer weniger werdende Arbeit teilen können?

Damit alle ein bisschen weniger arbeiten können und damit auch mehr Zeit für das Leben rundherum haben. Das heißt, im Moment gehen wir noch davon aus, dass wir die Entwicklung in eine gute Bahn lenken können. Wenn man dagegen bestimmte Studien ernst nimmt, wonach schon mittelfristig 40 bis 50 Prozent der Menschen durch die Automatisierung ihre Arbeit verlieren haben, müssten wir jetzt dringend über das bedingungslose Grundeinkommen diskutieren. Denn dann brauchen wir eine ernsthafte Alternative, um den Menschen morgen ihr Überleben zu ermöglichen.

 

Doch Sie setzen noch darauf, das Ruder herumreißen zu können?

Das ist im Moment zumindest unser Bestreben.