Gesellschaft | 400m

Die Vernünftigen und die Vernünftigen

Es ist Wochenende. Ein weiteres Corona-Wochenende. Das erkennt man im mittlerweile eintönigen Alltag des Städters eigentlich nur noch am hellblau eingefärbten Hintergrund der Salto-Homepage: Weekend.
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Foto: Gemeinde Bozen

Und doch ist dieses Wochenende anders. Schwerer zu Tragen die Last der Solidarität, der Vernunft, daheim zu bleiben. Seit Kompatscher die Corona-Regeln aufgeweicht hat, letzten Sonntag, seit Caramaschi uns mit der 400m-Regel weiter in Schach hält, ist es anders. Soweit euch die Füße tragen können, heißt es im ganzen Land, nur nicht zu eurem Ferienhaus. Das dürft ihr zwar zu Fuß umrunden, aber eben nicht nach dem Rechten sehen. Steht es doch ausdrücklich in der landesweiten Verordnung, dass man unbedingt verhindern will, dass die Bürger in den Ferienhäusern bzw. -wohnungen noch etwas vom Frühling mitnehmen.

 

Die Bozner Verordnung freilich ist etwas schwerer zu lesen. Habe es mehrmals versucht. Verweise auf Verweise. Ich bin nicht durchgestiegen, bin der Beamtensprache de/it zu wenig mächtig. Aber hartnäckig wie ich bin, irgendwo beim Hinunter-Scrollen steht sie wirklich diese 400m-Regel. Gleich rigoros formuliert wie die 200m-Regel vorher, zu deren Einhaltung ich gleich mehrmals von Stadtpolizei, Staatspolizei und auch vom Militär kontrolliert, ja auch mit Nachdruck verwarnt wurde. Ich war so frei, die Regel als Luftlinien-200-Meter und nicht als Laut-Google-Maps-Gehweg-200-Meter zu interpretieren. Natürlich bin ich jetzt eingeschüchtert zwar, aber immer noch einsichtig, vernünftig und vor allem: solidarisch.

Also schaue ich fern- und bewegungssüchtig aus dem Fenster, sehe die Leute ihre 400m-Runden drehen, bei denen sie ständig über die Nachbarn stolpern, die jetzt am Wochenende die selben 400 Meter als Familienausflugsziel gewählt haben. Ich sehe Leute mit Hunden nach links verschwinden und von rechts wiederkommen. Einmal um den Block, das sind knapp zwei Kilometer, aber kleiner ist der Block halt nicht. Nur von Stadtpolizei, Staatspolizei und Militär sehe ich nichts mehr. Soll wohl nicht so streng kontrolliert werden, wie sie niedergeschrieben wurde, diese Caramaschi-Regel. All’italiana?

So wundert es nicht, dass die Leute mit Wanderstöcken und Rucksäcken unter meinen Fenster vorbeiwandern. Zum Berg ginge es in die andere Richtung, wäre keine 200m entfernt, aber dort ist abgeriegelt. Also wandert man durch die halbe Stadt, um das Stadtterritorium dort zu verlassen, wo eben nicht (mehr) abgesperrt ist. Lieber nicht nach Kohlern, weil das ist ja noch auf Bozner Gemeindegebiet. Kontrolliert wird offensichtlich eh nicht mehr und außerdem hat der Kompatscher ja gesagt…

Frühlingsgefühle auch in der Stadt. Vernunft zieht ein. Nein, die andere Vernunft. Also, nicht die Vernunft, dass wir als Gesellschaft vernünftig und solidarisch sein sollten. Sondern jene Vernunft, die uns lehrt, dass Caramaschi-Gesetze eben all’italiana auszulegen sind. Lass dich nicht erwischen, tarne dich mit einem Apotheken-Sackl und sei vernünftig: betreibe Sport! Lebe!

Und so wird dieser Tage die Bozner Gesellschaft gespalten: die Vernünftigen und die Vernünftigen. Ob das gut geht?