Politik | Bezirksgemeinschaft

Flächenbrand im Sommer

Das Bozner Verwaltungsgericht ist zum Schluss gekommen, dass die fehlende Vertretung der Opposition in den Entscheidungsgremien nicht rechtens ist. Ein Urteil mit Folgen.
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Foto: www.wikipedia.org
Den sechs Präsidenten und der einzigen Präsidentin der Südtiroler Bezirksgemeinschaften dürfte in diesen Tagen und Nächten nicht nur die tropische Hitze zusetzen. Sie haben auch mit einem Flächenbrand zu kämpfen, den niemand so erwartet hätte. Es ist ein Großbrand der nachhaltige Folgen für das politische System in Südtirol hat.
Denn seit spätestens vier Tagen ist für sie alle - mit einer Ausnahme - klar, dass sie auf einem wackeligen Stuhl sitzen. Die Chancen, dass sie ihr Präsidentenamt loswerden und ihre Wahl wiederholt werden muss, stehen relativ hoch.
Der Auslöser des Flächenbrandes ist das Urteil Nummer 202/2022 des Bozner Verwaltungsgerichtes. Der Richtersenat, bestehend aus Michele Menestrina (Präsident), Alda Dellantonio, Sarre Pirrone und Stephan Beikircher als Urteilsverfasser, hat am vergangenen Freitag einem Rekurs recht gegeben und einen Urteilsspruch gefällt, der ein seit Jahrzehnten von der SVP und ihren willigen italienischen Koalitionspartner praktiziertes System implodieren lässt.
Es ist ein Großbrand der nachhaltige Folgen für das politische System in Südtirol hat.
Obwohl die Durchführungsbestimmungen und Gesetze eindeutig sind, hat man in Südtirol einfach so getan, als würde es diese nicht geben. Es war die übliche Vorgehensweise. Wo kein Kläger auch kein Richter.
Das Pech an diesem unwürdigen Spiel mit der Macht. Man hat nicht nur gleich mehrere Kläger gefunden, sondern vor allem auch Richter, die dem undemokratischen Spuck jetzt ein Ende gemacht haben.
 

Die Klage

 
Die Brandstifter sind ein gutes Dutzend ökosoziale Gemeinderäte und - rätinnen aus der Bezirk Überetsch/Unterland.
Der Co-Sprecher der Südtiroler Grünen und Kopf der Eppaner Gemeinderatsliste „Pro Eppan Appiano“, Felix von Wohlgemuth hat zusammen mit Greta Klotz, Kathrin Werth, Andreas Pertoll, Julia Psenner (Pro Eppan Appiano), Marlene Pernstich, Walter Jimmy Morandell (Dorfliste Kaltern Caldaro), Sadbhavana Pfaffsteller (Verdi Grüne Verc Neumarkt), Damian Foppa, Massimiliano Galli (Dorfliste Matan - Lista Civica Montagna), Giorgio Zanvettor und Alex Demattio (Verdi Grüne Verc Leifers) in der letzten Juniwoche 2021 auf einer Pressekonferenz einen Rekurs vorgestellt, den die beiden Anwälte Anton von Walther und Christoph Senoner ausgearbeitet und beim Verwaltungsgericht Bozen eingebracht haben.
 
 
Der Rekurs richtet sich vordergründig gegen die Wahl und Zusammensetzung des Rates der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland. Von den aktuell 27 Sitzen im Bezirksrat, die von 18 Mitgliedsgemeinden beschickt werden, gehört nur eine einzige Person einer politischen Minderheit. Während in den Gemeinderäten des Bezirks 21,24% der Mitglieder der Opposition angehören, steht der poltischen Minderheit damit im Bezirksrat nur eine Vertretung im Ausmaß von 3,7% zu. „Mit dieser aktuellen Zusammensetzung des Bezirksrats Überetsch-Unterland fehlt die politische Vertretung eines großen Teils der Bevölkerung“, argumentierten die Rekurseinbringer.
Vor allem aber gehen die Oppositionellen und ihre Anwälte davon aus, dass diese Zusammensetzung den geltenden gesetzlichen Bestimmungen widerspricht.
 

1 auf 27

 
Die Bezirksgemeinschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts im Sinne des Artikels 7 des Dekretes des Präsidenten der Republik vom 22. März 1974, Nr. 279 und wurden zu dem Zweck errichtet, ganz oder teilweise in Berggebieten liegende Flächen aufzuwerten und dort den Umweltschutz voranzutreiben, indem die Beteiligung der Bevölkerung an der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Entwicklung gefördert wird. Die gesetzliche Grundlage bildet das Landesgesetz Nr. 7 „Ordnung der Bezirksgemeinschaften vom 20. März 1991".
In Artikel 7 des staatlichen Dekretes heißt es:
 
 “L'organo deliberante sarà costituito da membri eletti dai consigli comunali, assicurando la partecipazione delle minoranze. Per quanto attiene alla provincia di Bolzano, la partecipazione sarà assicurata compatibilmente con l'osservanza delle speciali norme relative alla rappresentanza dei gruppi linguistici.”
 
 
 
Im Südtiroler Landesgesetz steht explizit:
 
„Dabei ist die Beteiligung der politischen Minderheiten unter Beachtung von Artikel 7 Absatz 3 des Dekretes des Präsidenten der Republik vom 22. März 1974, Nr. 279, zu gewährleisten.“
 
Die Südtiroler Praxis sieht in Wirklichkeit aber völlig anders aus.
Von insgesamt 150 Mitgliedern in den Räten der sieben Südtiroler Bezirksgemeinschaften, gehören keine zehn der politischen Minderheit an. Die deutschsprachigen Oppositionsparteien stellen südtirolweit genau 3 Mitglieder.
„Die letzten Gemeinderatswahlen haben gezeigt, wie vielfältig die politische Landschaft in Südtirol ist. Die Bezirksgemeinschaften hingegen, haben in ihren jeweiligen Statuten diesem gesellschaftlichem Wandel nicht Rechnung getragen“, hieß es bereits vor einem Jahr auf der Pressekonferenz.
 

Das Urteil

 
Seit vergangenen Freitag liegt die Bestätigung vor, dass der Einwand der Oppositionsvertreter stichhaltig ist.
Das Verwaltungsgericht hat den Rekurs der zwölf oppositionellen Gemeinderäte angenommen und die entsprechenden Beschlüsse der Gemeinderäte von Eppan und Kaltern, des Gemeindeausschusses von Leifers, sowie mehrere Beschlüsse des Rates der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland annulliert.
Die Folge: Die Wahlen des Bezirksrates, des Bezirksausschusses und des Präsidenten Hansjörg Zelger sind ungültig und müssen wiederholt werden. Obwohl die Gemeinden als auch die Staatsadvokatur Trient versuchten den Rekurs für unzulässig zu erklären, hat der Richtersenat den Klägern in allen zentralen Punkten recht gegeben.
Im Urteil heißt es wörtlich:
 
„Es handelt sich hierbei nicht um eine rein programmatische Bestimmung, sondern um ein Grundrecht, das im Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 der Verfassung und dem Recht auf demokratischen Zugang zu allen Wahlämtern gemäß Art. 51 der Verfassung seine Grundlage hat und das demzufolge direkte und unmittelbare Anwendung findet. ...[…]… Entgegen dieser Bestimmungen, die nicht fakultativen, sondern bindenden Charakter haben, war im Rat der Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland nachweislich nur eine Vertreterin der politischen Minderheit auf siebenundzwanzig Mitglieder vertreten. Die Mitgliedsgemeinden sind aufgrund der klaren gesetzlichen Vorgaben verpflichtet die Vertretung der politischen Minderheit zu gewährleisten.“
 
 
 
Ein ordentliche Watschen setzt es im Urteil auch für die Gemeinden.
 
„Die Gemeinde Eppan hat zwar eine Abstimmung nach dem Verfahren des beschränkten Stimmrechts vorgenommen aber in rechtsverletzender Weise eine Vertreterin der politischen Mehrheit als Bezirksrätin namhaft gemacht, während die Gemeinden Kaltern und Leifers einfach zusätzliche Vertreter der politischen Mehrheit namhaft gemacht haben.“
 
Die Richter haben die Gemeinden beim Schwindeln erwischt.
 

Der Präzedenzfall

 
Unmittelbare Folgen hat dieses Urteil derzeit nur für die Bezirksgemeinschaft Überetsch-Unterland. Alle Wahlen müssen wiederholt werden. Aber in den anderen fünf Südtiroler Bezirksgemeinschaften ist die Situation mehr oder weniger identisch.
Denn es gibt nur eine Bezirksgemeinschaft, die sich bisher an diese Bestimmungen gehalten hat. In der Bezirksgemeinschaft Salten-Schlern (Präsident: Albin Kofler) sitzen ingesamt 5 Minderheitenvertretern. Damit wird dort dem Buchstaben des Gesetzes Rechung getragen.
 
 
 
Demnach ist eines klar: Ähnliche Klagen auch den anderen Südtiroler Bezirksgemeinschaften werden zum selben Urteil führen. Die Opposition dürfte diese Klage einreichen, wenn man in den anderen Bezirksgemeinschaften jetzt nicht nachbessert.
Eine Frage wird im Urteil aber nicht gestellt und auch nicht beantwortet.
Laut dem Autonomiestatut und ein einschlägigen Durchführungsbestimmungen steht die Aufsicht über die Bezirksgemeinschaften und die Kontrolle über die Organe der Bezirksgemeinschaften der Landesregierung zu.
Wo aber haben Arno Kompatscher & Co in den vergangenen zehn Jahren hingeschaut?
Dass ausgerechnet ein Gericht die Einhaltung demokratische Grundregeln durchsetzen muss, spricht nicht gerade für das Demokratieverständnis der amtierenden Landesregierung.

 

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Christoph Bart… Sa., 23.07.2022 - 06:27

Solch ein Urteil mag jemanden ärgern, aber niemanden ernsthaft in Bredouille bringen. Es hilft dem herrschenden System sich zu korrigieren, jedoch sind wirkliche Reformen von innen nicht zu erwarten. Dutzende, der Öffentlichkeit wenig bekannte Gesetze und Durchführungsbestimmungen warten auf ihre Aktivierung, weil sie genau für den Tag X geschrieben wurden. Vor wirkliche Probleme würde das System erst gestellt werden, wenn eine Verkettung unberechenbarer, äußerer Umstände — z.B.
die Schließung der Verkehrskorridore im Norden, Osten und Westen (nicht durch Italien) — die ökonomische Grundlage bedrohte. Nur von Äpfeln kann niemand leben.

Sa., 23.07.2022 - 06:27 Permalink