Gesellschaft | Interview

„Südtirol ist kein Sonderfall“

Professor Walter Lorenz über die sozialen Fragen der Zukunft, Tee trinken in Cambridge und was er an der Universität vermissen wird.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Prof. Walter Lorenz
Foto: unibz

Herr Lorenz, was werden Sie an der Uni Bozen vermissen und auf was freuen Sie sich in ihrem Ruhestand?

Walter Lorenz: Ich werde ja zum Glück weiterhin Lehraufträge bekommen, zumindest in diesem Jahr noch. Mich interessiert an der Universität einfach die Verbindung zwischen Forschung und Lehre. Dass wir hier die Gelegenheit haben uns Wissen selbstständig anzueignen durch Forschungsprojekte und diese dann den Studierenden unmittelbar zur Verfügung stellen. Das ist ein reziproker Prozess, denn ich stelle immer wieder fest, wie viel ich von Studierenden selber lernen kann. Ihre Fragen und ihre Einstellungen zu bestimmten Themen halten mich ständig wach neue Themen und neue Perspektiven zu erforschen und zu erkennen. Dieser Austausch ist wirklich etwas, was mir hoffentlich noch einige Zeit bleiben wird. Was ich nicht vermissen werde, ist das Übermaß an bürokratischen Aufgaben die heutzutage mit allen Tätigkeiten zu tun haben. Ein bisschen mehr Zeit zu haben für die eigene Gestaltung, auch meiner Forschung und des Lesepensums, darauf freue ich mich besonders.

 

Der Uni Bozen bleiben Sie also noch treu?

Ich habe noch Lehraufträge und werde meinen Wohnsitz hier in Südtirol behalten und auch die Entwicklungen der ganzen Universität mit großem Interesse verfolgen.

 

 

Wie sieht die weitere Entwicklung der Universität Bozen aus?

Also in den acht Jahren, in denen ich auch als Rektor die Universität mit begleitet habe, haben wir enorme Fortschritte gemacht, nicht nur in der Qualität der Universität. Wir können Hochflüge im internationalen Ranking verzeichnen, was für eine junge und kleine Universität und eine Universität die in ganz besonderen Umständen arbeitet, mit Dreisprachigkeit usw., eine erstaunliche Leistung ist. Da muss ich wirklich allen Beteiligten, voran auch der Landesregierung, die uns die Mittel und die Infrastruktur zur Verfügung stellt, danken und auch meinen Kollegen und Kolleginnen, die sich wirklich für dieses Projekt engagiert haben, sowie der Verwaltung und den Studenten.  Das ist die solide Grundlage, auf der wir weiter gehen können. Was mich dann besonders freut und was hoffentlich weiter entwickelt wird, ist die Verbindung zum Territorium. Dass die Universität nicht irgendwie eine Elite-Universität ist, die irgendwo sein könnte, sondern dass wir uns mit all unseren Themen auf die territorialen Besonderheiten beziehen. Ob das in der Wirtschaft ist, mit Familienbetrieben und Kleinunternehmen, in der Landwirtschaft mit Agrikultur oder auch Nachhaltigkeit, im Bildungssystem und im Design. Wir sind mittlerweile präsent in der Bevölkerung und ich hoffe, dass das auch weiterhin ein Schwerpunkt der Universitätsleitung sein wird. Die Universität auch bildungsfremden Kreisen nahe zu bringen und zu sagen, die Universität ist nicht nur für einen kleinen Prozentsatz da, sondern die Universität ist ein Bezugspunkt. Ob sie nun dort studieren oder ob sie nur gelegentlich mitbekommen was die Uni macht, es ist aber ein Bezugspunkt für die ganze Region und die ganze Bevölkerung.

 

Sie haben die Bereiche Wirtschaft, Bildung und Design angesprochen. Als Professor für Soziale Arbeit, was glauben Sie, braucht es für die Zukunft des Territoriums Südtirol im sozialen Bereich?

Also hier ist klar geworden, gerade auch durch unsere Forschungsprojekte, dass Südtirol nicht irgendwie einen Sonderfall im globalen und im europäischen Kontext darstellt, sondern dass wir auch hier sehr wohl von Entwicklungen und Veränderungen betroffen sind, die alle Gesellschaften betreffen. Was den Unterschied ausmacht ist, dass wir die Gelegenheit hätten uns diesen Veränderungen bewusster und eben auch mit entsprechenden besseren Ressourcen zu stellen. Und da sehe ich eine große Gefahr, dass diese Chance nicht genutzt wird und man es darauf ankommen lässt bis sich Krisenzeichen zeigen. Man spürt das schon im Bereich der Flüchtlinge und Migranten, dass trotz aller Bemühungen oder Erklärungen das tatsächliche Ausmaß der notwendigen Veränderungen eben nicht wahrgenommen wird. Auch weil die Ressourcen die zur Verfügung wären nicht entsprechend eingesetzt werden um Südtirol zu einem guten Beispiel zu machen. Das gleiche gilt in Bezug auf die interethnischen und interkulturellen Begegnungen. Wir haben vieles geleistet, aber die Spannungen sind immer noch Hinweis auf eine unbewältigte Thematik in dieser Hinsicht. Und was mich dann eben sozial vor allen Dingen besorgt ist, dass auch hier die Schere zwischen Arm und Reich auseinander geht. Wir haben das gerade mit der Jugendstudie erlebt, dass Jugendliche nicht voll Anteil nehmen können am Erwachsen sein, sondern von Eltern abhängig bleiben und dass ihre Rolle zwischen denen geteilt ist, die Ressourcen privat organisieren können und sich entsprechend schützen können vor dieser Ungewissheit die auf alle zukommt, und denen, die untergehen. Hier ist keine genügende politische Voraussicht zu spüren, wie das aufgefangen werden kann und wie die Gesellschaft zusammengehalten werden kann. Wenn dann die Kriminalitätsstatistiken hoch gehen und der Unmut über Arbeitslosigkeit bei bestimmten Jugendlichen größer wird, dann wird man reagieren müssen. Aber wir könnten jetzt schon reagieren.

 

Das heißt, die sozialen Fragen werden in Zukunft mehr eine zentrale Rolle spielen?

Absolut und das überall. Selbst in den orthodoxesten Wirtschaftskreisen ist ein Umdenken zu spüren, dass diese totale Betonung von Marktprozessen die Gesellschaft ruiniert. Also dass man das Soziale systematisch verkümmern lässt und abbaut.

 

Die Veränderung der Familie ist eine dieser Fragen. Sie organisieren am 26. Oktober die Tagung „Familiäre Beziehungen“. Was erwartet die Besucher?

Wir wollten uns in den letzten drei Jahren nicht auf Familie konzentrieren sondern auf familiäre Beziehungen. Und vor allem aus der Perspektive der Kinder selbst. Wir haben an Schulen gearbeitet, wir haben Befragungen von Expertinnen aber auch von Jugendlichen und Kindern selbst durchgeführt. Es ging darum, wie sie mit diesen Veränderungen zurechtkommen. Wir haben uns aber gehütet hier ein Normalbild der Familie als Maßstab anzunehmen, sondern konnten herausfinden, dass sich Familienstukturen ändern, Scheidungsraten gewachsen sind, dass Kinder in neuen Kombinationen von erziehungsberechtigten Partnern leben oder mit nur einem Elternteil usw. Kinder kommen mit diesen Beziehungsverhältnissen relativ gut zurecht. Das ist nicht der Auslöser von Problemen, sondern wenn dann zusätzlich finanzielle Probleme, Ungewissheit über die Stärke und Qualität der Beziehung dazu kommen, dann führt das zu Problemen. Aber das ist nicht in der Veränderung der Familie selbst als Wurzel zu sehen. Da sehen wir eine große Chance für die Erziehung und für den Unterricht, dass hier nicht nur bestimmte Lehrinhalte angeboten werden, sondern dass soziale Kompetenzen, die bei den Kindern schon zu finden sind, stärker gefördert werden müssen. Dass die Kinder mit ihren Fragen, mit ihren Einsichten in das was passiert nicht alleine gelassen werden dürfen. Es ist auch teilweise der Fall, dass sie mit einem Normalbild von Familie konfrontiert werden, welches dann wieder Verunsicherung bei ihnen hervorruft, auch in Bezug auf zum Beispiel Adoptionen oder Migrationshintergrund.

 

Dieses Normalbild wird aber auch von der Politik vermittelt, obwohl es nicht mit der gelebten Realität und der vorhandenen Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen für den sozialen Wandel übereinstimmt?

Ja auf jeden Fall. Dass die verschiedenen Variationen auch zur Normalität dazu gehören ist ein großer Bildungsauftrag, nicht nur für die Schule, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Und da gibt es Ängste, die auch von politischen Positionen mitgetragen werden und wo diese Veränderungen als Zeichen des Untergangs und moralischen Verfalls gesehen werden. Dafür gibt es nach unseren Ansichten keinen Anlass. Diese Botschaft wollen wir vermitteln.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Uni Bozen?

Aus der Perspektive Brixen, wo meine Fakultät ihren Sitz hat, wäre mein persönlicher Wunsch, dass die Universität mit allen fünf Fakultäten gleichmäßig wächst.

 

Im Moment geschieht das nicht gleichmäßig?

Wir haben einen neuen Rektor und ich bin sehr von ihm begeistert. Er repräsentiert die Naturwissenschaft. Wir haben jetzt mit der Initiative Technologiepark, mit dem die Universität natürlich unmittelbar verbunden ist, eine riesige Chance, aber wir müssen auch hier bedenken, dass es ja nicht mehr Technologiepark heißt, sondern Zentrum für Innovation. Und dass bei Innovationen nicht nur die technischen und naturwissenschaftlichen Aspekte und vielleicht auch die wirtschaftlichen Aspekte eine Rolle spielen. Wir haben fünf Fakultäten, zum Beispiel sollte die Fakultät für Design in die Innovation von vorne herein einbezogen werden, dass also das ästhetische und das Nutzbare an neuen Geräten oder neuen Produktionsweisen nicht nur als Korrektur und Hinter- oder Nachgedanke eine Rolle spielt wenn das Produkt schon steht und eingeführt werden soll. Und noch in viel größerem Maße das Soziale, dass die soziale Verträglichkeit von neuen technischen Möglichkeiten von vorneherein mit bedacht wird. Also hier könnten alle fünf Fakultäten eine entscheidende Rolle spielen und ich wünsche mir, dass alle fünf Fakultäten in dieser Innovationsinitiative involviert sind und eben nicht nur die Technologie. Und das dadurch auch wieder das Verständnis dessen, was die Universität für die Gesellschaft bedeutet, klar gemacht wird.

 

Was meinen Sie damit?

Die Universität allgemein ist nicht ein Sammelsurium an Spezialitäten in Raumfahrt oder in Biochemie oder was auch immer, sondern die Universität ist eine „univeritas“, wo der Austausch zwischen den Disziplinen und die Zusammenarbeit, gerade angesichts der wachsenden Komplexität unsere Fragen, gepflegt werden muss. Kein Problem ist heutzutage nur mehr auf eine Frage reduzierbar. Eine neue Medizin ist nicht nur auf eine chemische Struktur zurückzuführen, sondern die hat unmittelbar wirtschaftliche, gesellschaftliche, ethische und soziale Auswirkungen, zum Beispiel, dass sich einige diese Behandlung leisten können und andere eben nicht. Also in jeder Frage stecken eine Vielzahl von Disziplinen und wenn wir uns alle auf unsere Spezialität zurückziehen und sagen ich erforsche nur dieses kleine Gen oder ich erforsche nur diesen Mechanismus, oder ich forsche nur über Big Data im Bereich so und so, ohne über diese Spezialität hinaus zu schauen, leidet der gesellschaftliche Fortschritt.

 

Da hört man ein bisschen die Sehnsucht nach den alten Studiengängen heraus? Viele Kritiker der aktuellen Bildungspolitik sehen dort auch Probleme, dass zu viel auf Spezialisierung im Fachbereich gesetzt und nicht mehr Fächer übergreifend zusammen gearbeitet wird?

Absolut. Man muss in der Spezialität zu Hause sein, aber nicht die Jalousie runter machen und sagen, alles andere interessiert mich nicht. Sondern es kommt auf die Anknüpfungsfähigkeit an und das haben die alten Bildungs- und Universitätsideale verkörpert. Ich war an einer Universität wie Cambridge, wo es einfach gepflegt wird, dass man sich zum „afternoon tea“ mit anderen Professoren anderer Fachrichtungen zusammen setzt um sich einfach auszutauschen und über Gott und die Welt zu diskutieren, was auch zur Persönlichkeitsbildung gehört. So kam es auch, dass gerade im britischen Bildungssystem die Industrie Graduierte mit Studium etwa in Altgriechisch bevorzugt hat, weil die nicht nur im Altgriechischen spezialisiert waren, sondern auch ein umfassendes Bildungserlebnis zu bieten haben. Das ging in den letzten Jahrzehnten ein bisschen verloren, aber ich hoffe dass es in Bozen wieder zum Tragen kommt.

 

 

Die Uni Bozen als Vorreiter?

Ja und ich kann sagen, dass mir gerade in den letzten Jahren meiner Tätigkeit als Rektor die Kontakte mit anderen Rektoren italienischer Universitäten gezeigt haben, dass wir in dieser Hinsicht viel Aufmerksamkeit erhalten haben. Wir werden nicht mehr als Anomalität am Rande Italiens wahrgenommen, sondern die Leute sagen, da entsteht was, was für uns Bedeutung haben könnte. Vielsprachigkeit, Internationalisierung, Austausch zwischen den Disziplinen, Verwurzelung im Territorium, Nachhaltigkeitsforschung, unter diesen Stichworten sind wir bekannt geworden.

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Karl Trojer Sa., 21.10.2017 - 10:49

Erst mal großen Dank an Professor Lorenz für sein "so sein" und dass er die Universalität der Zusammenhänge so sehr hervorhebt. Innovation setzt Offenheit voraus, diese wiederum bedarf eines möglichst niedrigen Angst-Pegels. Angst wird meistens aus Furcht vor Fremdem generiert. Hier, so meine ich, müsste die Bildung vom Kleinkind an und weiter ansetzen. Die Ermöglichung und Stärkung des Selbstwertes bei Kindern und Jugendlichen, ein nicht fremdbestimmtes Verständnis und Erleben von "Würde", ein behutsames Hinführen zum "Schönen", erscheinen mir als Voraussetzung dafür, dass gegenseitiger Respekt selbstverständlich wird und Wertschätzung der Verschiedenheiten (niocht beschränkt auf Toleranz) zu der Offenheit führen kann, die Innovation auf allen Ebenen benötigt.

Sa., 21.10.2017 - 10:49 Permalink
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Martin B. So., 22.10.2017 - 21:13

"und wenn wir uns alle auf unsere Spezialität zurückziehen": ich würde mal behaupten über 90% der Forschungspublikationen sind so aufgebaut, d.h. Fachidioten als Autoren, die sowohl dem eigenen Ego und dem Druck des Systems nachgehend nicht nur sehr spezifische Untersuchungen aufbauen und Ergebnisse ausschmücken, sondern sich kaum Zeit nehmen (können) unorthodoxe Sichtweisen und zusätzliche Expertisen (welche nicht im Kernteam vorhanden sind) einzuarbeiten um die Ergebnisse wirklich auf das Niveau von akademischer Exzellenz zu bringen.

So., 22.10.2017 - 21:13 Permalink