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Gesellschaft | Lockdown-Tagebuch

Tag 9: Die Wende

Heute habe ich mich zu früh gefreut, zu früh empört.

Liebes Tagebuch,

heute bin ich ein wenig verwirrt. Ach was, verwirrt, total durch den Wind bin ich! Gestern surfe ich nämlich durch den üblichen Corona-Sumpf auf Facebook, da springt es mich plötzlich an: „Die Wende ist geschafft. Jetzt liegt es an uns! Philipp Achammer“. Mir hat‘s fast die Maske vom Gesicht gezogen. Was war da los? Okay, ich war vorher ein paar Stunden offline gewesen, aber war es möglich, dass ich da eine bahnbrechende Entwicklung einfach verpasst hatte? Denn „Wende“, laut Duden „einschneidende Veränderung, Wandel in der Richtung eines Geschehens oder einer Entwicklung“, ja das konnte doch nur eines bedeuten: WIR HABEN EINEN IMPFSTOFF! Sofort schämte ich mich, blöde Witze über den „Südtiroler Weg“ gerissen zu haben, denn offensichtlich waren wir wieder einmal allen anderen voraus: Hatten sie in der Laimburg ein paar alte Trester aufgekocht und dabei zufällig den Heiligen Gral entdeckt? Hach, es wäre ja typisch für uns Südtiroler*innen: Wofür andere monatelang forschen und Milliarden investieren, uns gelingt es so nebenbei: Na do schau her, a Impfstoff! Ich jauchzte, frohlockte, dann stutzte ich: Nirgends waren Informationen dazu zu finden. Die Nachrichten, Facebook, der Nachbar: Niemand sagte mir was. Bei Land Südtirol konnte ich auch nicht mehr nachfragen, seit sie sich „Sarkasmus und Ironie“ auf ihren Kanälen verbieten: Ich spreche doch nichts Anderes! Als dann auch noch der „Wende“-Post nicht mehr zu finden war, wurde mir klar: Das war eine Verschwörung. Alle, alle sollten den Impfstoff bekommen, nur ich nicht. Weil ich so eine Stänkerliesl bin, wahrscheinlich. Das habe ich jetzt davon. Schon zerfloss ich in Selbstmitleid, da kam die Erlösung: „Du Dodel, der Post war doch vom Frühjahr!“ Oh. Ups. Stimmt. Zu früh gefreut, zu früh empört. Dann gibt es ja doch noch Hoffnung für mich. Alles wird irre gut.