Gesellschaft | Flüchtlinge

"Wir müssen vordenken"

Was treibt die Tiroler dazu, eine Schließung der Brenner-Grenze anzudenken? Antworten von Tirols Grüner Soziallandesrätin Christine Baur.

Frau Baur, Tirol beherbergt derzeit 6100 Flüchtlinge. Darüber hinaus durchreisen täglich zwischen 500 und 1000 Menschen Ihr Bundesland auf dem Weg in Richtung Norden. Ist die zunehmenden Überforderung mit dieser Situation der Grund, nun eine Wiedereinführung von Grenzbalken am Brenner anzudenken?
Christine Baur
: Ich würde nicht unbedingt von Überforderung sprechen. Das Schwierigste an der aktuellen Situation ist diese Nicht-Fassbarkeit, wie es weitergehen soll; die Verunsicherung, die dadurch entsteht, dass es immer einen sehr hohen Eskalationsgrad braucht, bis die zuständigen Stellen in die Gänge kommen. Dadurch hinkt man den Entwicklungen immer ein wenig hinterher.  Doch generell sind unsere Kapazitäten und Kompetenzen derzeit noch nicht ausgeschöpft, an sich sehe ich uns nicht am Rande der Überforderung.  Es ist wie gesagt viel mehr die Nicht-Planbarkeit, die uns zu schaffen macht. All die offenen Fragen wie: Wie viele werden es noch? Wird die EU jemals etwas tun? Hört das jemals auf?

Die Brennergrenze ist aufgrund ihrer historischen Bedeutung ein besonders sensibles Terrain, wie auch die Südtiroler Reaktionen auf die Schengen-Ankündigung von Landeshauptmann Platter gezeigt haben. 
Ein Schließen der Grenzen ist ein Schritt, den auch in Tirol aufgrund der historischen Belastung niemand will. Doch wir müssen einfach vordenken und überlegen, wie man Entwicklungen, die im Raum stehen, vorgreifen kann. Und angesichts des anhaltenden Versagens von Europa muss es offenbar auch noch mehr Druck von Seiten der Mitgliedsstaaten auf die EU-Kommission geben.

Aktuell spielt der Brenner zumindest in der Flüchtlings-Berichterstattung kaum mehr eine Rolle...
Derzeit ist der Brenner für uns tatsächlich kein Thema. Wir haben dort zwar weiterhin täglich an die 200 Menschen. Doch an der Grenze in Kufstein sind es jeden Tag 1000 bis 1500, die von Spielfeld kommen und vor ihrer Weiterreise nach Deutschland bei uns versorgt werden. Auch das hat ein wenig gedauert, bis es so problemlos wie heute funktioniert.

Wenn sich die Flüchtlingsströme in den kommenden Monaten wie befürchtet wieder in Richtung Brenner verlegen sollten, glauben Sie dagegen, den Ansturm nicht so geregelt bewältigen zu können?
Wir haben am Brenner eine langjährige Erfahrung mit durchreisenden schutzsuchenden Menschen, vor allem mit einer Betreuungsstelle des Roten Kreuzes in Plon bei Steinach. Dort haben wir seit Jahren aus rein humanitären Motiven jene Menschen versorgt, die aus den Zügen geholt werden und nicht gleich von Italien zurückgenommen werden. Doch wie wir auch beim G7-Gipfel gesehen haben, ist das alles ab einer bestimmten Zahl von Menschen nicht mehr zu bewältigen. Wir müssen uns deshalb vor allem im Sinne dieser schutzsuchenden Menschen vorbereiten. Das Schönste wäre natürlich, wenn wir bereits funktionierende Hotspots hätten. Also wenn diese Menschen in Europa ankommen, bei einer Erstaufnahmestelle auf humanitäre Weise versorgt und registriert werden und dann über Europa verteilt werden. Doch solange das nicht so funktioniert, sollte dieses Procedere am besten auf dem Weg passieren.  Denn Bilder von Menschenmassen, die womöglich auch noch im Winter an der Grenze vorwärts drängen, tun niemanden gut und schaden den Flüchtlingen.

Die Alternative heißt also Erstaufnahmezentren auf der Route vor dem Brenner?
Ideal wäre eine Registrierungsstelle in Verona, wo sich die Menschen melden können und Unterkunft erhalten. Und wenn sich die Situation zuspitzt, wäre eine ähnliche Struktur in Südtirol sicher sinnvoll.

Landeshauptmann Günther Platter berät am heutigen Mittwoch in Wien mit dem Bund, welche konkreten Maßnahmen auf österreichischer Seite in Angriff genommen werden können. Lässt sich für Sie schon absehen, was herauskommt?
Nein, ich bin selbst neugierig, was passiert. Natürlich wird dann alles auch stark davon abhängen, was sich rund um uns tut; was Deutschland macht, was Brüssel macht. Wenn EU-Kommissar Avremopoulos am Dienstag gesagt hat, in vier Wochen sind die Hotspots in Italien und Griechenland einsatzbereit, geht die Entwicklung sicher in die richtige Richtung. Realistisch wissen wir aber auch, dass es nicht vier Wochen sein werden – und das es sie eigentlich schon vor einem Jahr gebraucht hätte.

Wenn also bis dahin Deutschland seine Grenzen zumacht....
....wird es nichts bringen, wenn der ganze Strom, der weiter will, in Österreich stecken bleibt.

Tirol beherbergt derzeit mehr als sechs Mal so viele Flüchtlinge wie Südtirol. Gibt es da auch Vorwürfe, dass man auf der anderen Seite des Brenners zu wenig Verantwortung übernimmt.
Wir waren bei dem Thema immer besser als die Südtiroler, aber das hat auch mit den unterschiedlichen Kompetenzen zu tun. Bei uns fallen Flüchtlinge klar unter eine Landeszuständigkeit, die wir von Bund übernommen haben. In Italien ist eigentlich Rom zuständig. Ich finde es übrigens auch völlig unfair, Italien nur zu verteufeln. Denn sie lassen die Menschen herein und versorgen sie nach dem Ankommen auch gut. Was noch nicht so gut funktioniert und wo Italien bisher auch von Europa allein gelassen wurde, sind das Registrieren, und das Durchführen der Verfahren. Da braucht es Hilfe, aber die soll nun auch kommen, wenn Europa den Aufbau von Hotspots unterstützt und begleitet.

Also keine Vorwürfe oder offenen Wünsche in Richtung Südtirol?
Ich muss sagen, die Zusammenarbeit mit Südtirol und Bayern funktioniert Gott sein Dank wirklich gut, was die Information und das gemeinsame Verständnis von humanitärer Flüchtlingshilfe anbelangt. Meine Vorwürfe betreffen eher eine fehlende gemeinsame europäische Asylpolitik und die mangelnde Bekämpfung der Fluchtursachen. Ich würde mir aber auch wünschen, dass das Ganze nicht zu solch einem parteipolitischen Thema gemacht wird, das ist wirklich eine Katastrophe. Mit Ängsten zu spielen und gegen die Schwächsten zu schießen: Das hat Europa schon einmal fast in den Untergang getrieben, und das darf uns einfach nicht mehr passieren. Mein großer Vorwurf richtet sich deshalb gegen all jene Parteien und Politiker, die diese Spaltung betreiben. Und die gibt es überall.

Welche Effekte hat das in Tirols Bevölkerung?
Ich kann nach wie vor sagen: Dort, wo es Asylwerber-Heime gibt, ist die Stimmung sehr gut und die Bevölkerung immer noch sehr unterstützend. Insgesamt schadet die Politisierung des Themas aber ungemein. Denn es gibt nur mehr Schwarz und Weiß, entweder die Willkommens-Kultur oder die Ablehnung. Die Realität selbst wird dagegen zu wenig thematisiert und differenziert betrachtet. Doch wir werden nicht darum herum kommen. Und wir müssen auch sehen: Auf einen Asylwerber kommen heute 60 Österreicherinnen und Österreicher. Das ist denke ich auch kein Bild, vor dem man sich fürchten muss.

Weil es zu schaffen ist?
Es ist zu schaffen und es gibt keine Alternative. Auch wenn es feiner wäre, wenn man sagen könnte: In diesem Jahr kommen noch 100.000 und nächstes Jahr noch einmal 100.000 und dann wird es geordnet zurückgehen. Doch die Realität ist eben nicht so vorhersehbar.

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Max Benedikter Mi., 20.01.2016 - 15:40

Die Angestellten und Mitarbeiter von den vereinigungen haben redeverbot, die Ärzte habe den Maulkorp (der vielleicht in zukunft für die Herrn Primare gelockert wird), die Landesangestellten sowieso. Wenn nicht institutionalierte Freiwillige reden, werden sie gerügt und von den Koordinierungstischen fern gehalten. Wer reden darf ist am Ende nur die Assessor Martha Stocker und der Direktor Critelli und die drücken allen Beteilgten ihr Lob für das gelungene Flüchtlingsmanegment aus.
Applaus bitte und immer schön lächeln...

Mi., 20.01.2016 - 15:40 Permalink
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Michael Bockhorni Fr., 22.01.2016 - 17:33

Antwort auf von ulrike spitaler

nicht nur bei den Flüchtlingen. Es geht aber mehr um Effektivität, um dass Erreichen von Zielen d.h. von Nutzen für die Betroffenen und die Bevölkerung. Immer noch wird der Großteils des Geldes "verbrannt" d.h. für Angebote ausgegeben für die kein Bedarf besteht. z.B. Personen mit Essen, Hygieneartikel etc. versorgt, die selber Einkaufen bzw. sich selber kochen können. Dadurch hängen sie tagsüber großteils beschäftigungslos herum, ihnen fehlt der Kontakt zur Realität und damit die Erfahrung, was es braucht um sich gut zu integrieren und seinen Beitrag zur aufnehmenden Gesellschaft zu leisten. Andererseits fehlt den Diensten dadurch die Personalressourcen die Betroffenen dort zu unterstützen, wo sie es wirklich brauchen.

Fr., 22.01.2016 - 17:33 Permalink