Kultur | Salto Afternoon

Reise durch den Tag...

...der nicht möglich ist. Erlebnisse und Wahrnehmungen eines Ich-Erzählers, der durch einen Tag gleitet.
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Foto: SAAV

Frühlingsgeruch, das leise Zwitschern der Vögel auf den Ästen der vorsichtig keimenden Bäume am Straßenrand, der blaue Himmel, durchzogen von weißen Streifen, Kinder weicher Wolken und hoch fliegender Flugzeuge... Und ich schlummere noch, verloren in Träumen, hinter den Vorhängen, die mir die Sicht nach draußen versperren würden, wären meine Augen offen und wach, so wie schon bald, und dann sitze ich auf dem Bett und lasse mein Bewusstsein in das Hier und in das Jetzt zurückfließen. Ich schlurfe in die Küche, wo der Geruch frischen Kaffees noch in der Luft liegt. Die Kanne ist heiß, als meine Finger sie umschließen, und es ist der erste Schmerz des Tages, der mich das Ende aller Träume erkennen lässt. Wieder kocht es, wieder raucht es, wieder röchelt der Kaffee, und ich schlürfe wie ein Verdurstender das schwarze Gold. Ich werde nicht reich und ich werde nicht unglücklich, und dann liege ich wieder auf dem Bett. Wie spät ist es? Das Ticken der Uhr ist weit entfernt, ich höre es kaum, und höre ich es, höre ich weg. Die Zeit, die Zeit, die Zeit ist egal. Es mag Vormittag sein. Kopfüber schweift mein Blick durch das offene Fenster hinaus und fliegt mit den Lüften. Sie sind mal kühl, dann warm und tanzen in all ihren Formen vermengt durch den Tag. Wie schön sie es doch haben. Wie frei ihr Leben doch sein muss. Doch halt! Ist das meine nicht genauso? Kann ich nicht genauso hinaus, laufen und fliegen, sein und darum wissen und dann lachen und glücklich sein? Nein, kann ich nicht, sagt jemand und zuckt müde mit den Schultern. Es geht nicht, sagt  jemand und dreht sich weg. Es geht, denk ich, aber sage nichts, so wie ich selten Dinge sage, die ich denke, weil ich denke, dass sie anderen nichts sagen würden. So bleibe ich alleine mit meinen Gedanken. Sie sind am heutigen Tag und an den vielen, die noch folgen, meine besten Freunde. Ja, ich liege dort auf dem Bett und starre in den Himmel, und werde dies den ganzen Tag tun, oder ich entscheide mich anders und danke Gott für diese Fähigkeit und verlasse diesen Ort und diese Zeit. Wo ist sie hin, die Matratze unter meinem Körper, wo der Blick in den Himmel, wo die leichte Gänsehaut, die mir den Rücken hinabkriecht? Ich spüre und sehe und fühle all sie nicht länger, denn tief in mir bin ich woanders. Schon laufe ich die Stufen nach unten, immer zwei auf einmal nehmend, und stoße die schwere Tür auf. Schon stehe ich auf der Straße, und sehe die Menschen, die hier und da meinen Weg kreuzen. Der führt mich ohne Plan und ohne Ziel durch die Straßen, vorbei an Häusern, deren Fassaden im Licht der Sonne leuchten. Ich spüre wie mein Innerstes sich darüber freut, und so winke ich euphorisch zurück. Dabei bemerke ich die Spannung meiner Muskeln, das Dehnen jeder Sehne, das unbändige Fließen meines Blutes, ach wie freue ich mich über den Moment! Und weiter durch die Schluchten, hin zum Fluss, der unbeirrt seine Reise fortführt, ohne je zu gehen. Nahe am Wasser hocke ich im Gras und beobachte die Strömung, die ohne Hast, doch bestimmt ihren Weg sucht und findet. Eine leichte Brise fährt vom anderen Ufer und den Bäumen dort zu mir, wirbelt kleine Tröpfchen auf, und ich spüre sie kühl im Gesicht und wie der Seufzer der Natur mein Haar berührt. Ich schließe die Augen und nehme jede Regung der Erde in mich auf. Gleichzeitig ist es still, man hört nur das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume. Dann plötzlich ist mir danach, zu den Menschen zu gehen. Mit der U-Bahn, die unter meinen Füßen rumpelt und rattert und mich weiterbringt. Ich spaziere ruhigen Schrittes durch schmale Gassen, vorbei an Menschen, die es eiliger haben als ich, vorbei an Kindern auf bunten Fahrrädern, vorbei an solchen, die von einem Fuß auf den anderen hüpfen, beinahe stolpern, doch sich gegenseitig auffangen. Sie blicken schüchtern weg, als ich vorübergehe, und wie ich ihnen den Rücken zuwende, höre ich leises Getuschel, ein unterdrücktes Lachen und eine Stimme tief in mir, die von vergangenen Tagen erzählt. Wie lange ist es her, seit das kindliche Gemüt mein Herz zum Schlagen brachte?
Wieder meldet sich der Frühling zu Wort. Von schmalen Bäumen schweben weiße Blüten sanft gen Boden. Wie ein leichter Nieselregen legen sie sich auf mein Haar und die Schultern, und begleiten mich auf meinem Weg durch die urbanen Landschaften. Ein Café ruft mich zu sich, ich folge dem Wink und sitze sogleich inmitten der Menschen. Sie trinken aus runden Tassen und rauchen und hüllen sich in blauen Nebel, und ich mag es, in dessen Dunst zu verschwinden. Ich höre, wie die Menschen sprechen und ihrerseits zuhören. Es sind keine Sorgen, die die Münder verlassen, keine Ängste und keine Zweifel, sondern das wortgewordene Bewusstsein für die Schönheit des Augenblicks. Man lebt nicht im Gestern, genausowenig wie im Morgen, denn nur das Heute und das Jetzt, der Moment und all die Magie, die ihm innewohnt und nur allzu leicht von scheinbarer Weitsichtigkeit übertüncht werden kann, zählen.
Von irgendwoher erklingt Musik. Ich wende den Kopf und folge der Melodie, die mich in das hinterste Eck des Cafés führt. Dort sitzt an einem kleinen Tisch ein Mensch. Er ist allein, aber gewiss nicht einsam. Ich frage höflich und lasse mich nieder, und betone sogleich, dass mir nichts ferner läge, als dieses Alleinsein zu stören. Der Mensch schüttelt den Kopf, und dabei fliegen die Haare wild umher. Wie ein Löwe sieht der Mensch dann aus, wie ein Löwe, der laut brüllt, doch im Innersten friedvoll ist. Ich erfreue mich an dem Anblick und sofort erwacht in mir die Lust auf ein angeregtes Gespräch. Ich habe Glück an diesem Tag, denn wie wir reden, ist es nicht ein Monolog, so wie man ihn oft zwischen Zweien beobachtet, sondern die gelebte, höchste Kunst des Dialogs. Man kennt sich nicht, und umso lieber ist es mir, und auch dem anderen Menschen, alles mögliche voneinander zu erfahren. Und so höre ich nicht einfach zu, sondern sehe alles bildlich vor mir. Ich versuche das Erzählte zu fühlen, so wie ich einen Film oder ein Buch zu verinnerlichen versuche. Gelingt es mir? Fragt nicht mich, fragt den anderen.
Dann sitze ich an der Bar und trinke Wein. Schwer ruht er in mir und schwer wird auch mein Kopf nach einer Weile, doch nicht schlimm, sondern schön, ich mag es zu spüren, wie jede Bewegung langsamer und träger als die vorherige wird. Wie die Gedanken sich wandeln und Seiten ihrer selbst zeigen, die ich nicht zu kennen glaubte. Ich gehe langsam an den Menschen vorbei nach draußen. Die Sonne kitzelt wunderbar frech meine Haut, und ich lasse es zu, warum ich sollte ich sie stören? Ich gehe aufrecht und bin weit entfernt, ins Torkeln zu verfallen. Meine Schritte sind nicht gleichmäßig, sondern fallen wie sie fallen als helle Geräusche auf den gepflasterten Boden, und sie sind weich und wie in Watte verpackt. So spaziere ich durch einen Park und sitze bald auf einer Bank, von der aus ich den Teich beobachten kann. Enten schwimmen ohne Ziel umher, und irgendwo unter der schimmernden Wasseroberfläche zeichnet sich der schlanke Körper eines Fisches ab. Nein, es ist ein ganzer Schwarm, der da schwimmt, der da schwimmt auf mich zu und mich ins kühle Nass locken will. Ich zögere nicht, sondern stürze mich in den Teich, und merke, wie die aufgewühlten Massen über mich hereinbrechen. Mein Körper wird erst schwer, dann schwerelos, und dann schwimme ich mit den Fischen bis zum tiefsten Punkt des Teichs. Die Dunkelheit dort unten und der Druck von allen Seiten machen mir keine Angst, denn meine Freunde, die Fische sind da und beschützen mich. Das Nicht-sehen und die Abwesenheit jeglichen Geräusches sind eine Wohltat. Wie schön kann doch die Stille sein! Doch muss ich erst an den Grund tauchen, um sie zu finden? Nein, sagen die Fische und lachen. Ich muss darüber nachdenken.
Mit triefenden Kleidern blicke ich zum Himmel, der sich angesichts der sich nähernden Abendstunden rot färbt und glüht und bestimmt heiß wäre, würde man ihn berühren. Eine Sehnsucht erwacht in mir. Ich gehe dem Abend entgegen, mit offenen Armen, ich stehe im Kegel und im Schein der letzten Strahlen, und sauge sie in mein Innerstes, damit ich auch in den dunklen Stunden daraus zehren kann. Doch wo sind sie, diese Stunden? Wann werden sie durch die Tür treten und mich entführen? Wann mich verzagt werden lassen, wann die Freude mir rauben? Am Tag und bei vollem Bewusstsein gibt es nichts, was mich vom Erfahren und Spüren allen Seins abbringen kann. Jede Regung, jedes Detail, jede Facette der unvergleichlichen Existenz wird ein Teil von mir. Und wenn es dunkel wird, wenn die Sonne endgültig und bis zum nächsten Morgen hinter den Dächern verschwindet, geleiten mich die Geister der Städte vorbei an den einladend leuchtenden Fenstern der Bars und abendlichen Cafés, vorbei an den kleinen Grüppchen, die tief versunken zueinander sprechen, im Takt der Musik tanzen und nicht an morgen denken. Soll ich anhalten und mich in das Bad der Menge werfen? Wieder schwimme ich, doch diesesmal anders, lauter, berauschender, als einer von vielen. Ich will nicht, dass es endet, ich will nicht, dass man zu mir sagt „Geh nach Hause und leg dich schlafen“, deswegen bleibe ich weiterhin hier und genieße. Was kommt als nächstes, es ist mir egal, ich umarme jemanden und schmiege mich an den gierenden Körper, der ebenso wie ich weiß, dass dieser Moment höchster Ausdruck einer gedachten Utopie ist. Wie sehr habe ich dieses Gefühl vermisst, jemanden zu halten und alle Fasern seines Körpers zu spüren, und eine Sprache nur mit den Händen und den Finger und dem damit ausgeübten Druck zu sprechen? Jetzt, wo ich es einen kurzen Augenblick wahrhaftig wiederhabe, drängen sich die Tränen aus den Augen und ich möchte immer innehalten. Stumm wandere ich durch die Straßen nach Hause. Wie von Geisterhand öffnen sich Türen und bald schon liege ich wieder auf meinem Bett und spreche mit mir selbst und erfahre Dinge, die ich mir selbst verheimlichte. Ich trinke wieder Wein und schreibe wirre Gedanken auf ein Blatt Papier, das mich erst noch weiß anstarrt und darum fleht, beschrieben zu werden, dann in der Schreibmaschine klemmt und laut stöhnt, vor Erregung sicherlich, und ich weiter tippe, ohne Pause und ohne Rast, so schön ist es zu sehen, so schön zu fühlen, wie alles aus mir fließt und dann die Müdigkeit durch das Fenster von hinten an mich heranschleicht und mich wiederum umarmt. Endlich dann leere ich die Flasche und das Glas voller Wein und jenes meiner Kreativität und falle ins Bett und alsbald in die Welt des Traumes, und wie ich nun die Augen öffne, ist es wieder Tag, oder immer noch, und der blaue Himmel ist getränkt von weißen Wolken, und keine Sekunde ist vergangen. Noch immer ist die Zeit seltsam und noch immer bleibe ich Zuhause, weil es besser ist. Ich schwelge in den Gedanken, die irgendwann später, wenn all das vorbei sein wird, Wirklichkeit werden. Bis dahin verharre ich und erinnere mich all der schönen Dinge des Lebens und jener, die man nur allzu leicht übersieht.