Gesellschaft | salto Gespräch

“Ich suche den weißen Raben”

Ausgezeichnet im Gedenken an Claus Gatterer: Der Journalist Ed Moschitz spricht über seine Erfahrungen mit Ischgl und warum für ihn Lokaljournalismus schwierig ist.
Ed Moschitz
Foto: Salto.bz

Niemand sollte es sehen, niemand hören und schon gar nicht darüber reden. Was im März 2020 in Ischgl passierte, war der Super-GAU für den Tiroler Tourismusort. Über Nacht wurde das 1.600-Seelen-Dorf, in dem sich an einem Winter-Skitag 25.000 Gäste tummeln, als Corona-Hotspot weltberühmt. Einer, der hinschaute, wo es Touristik und Politik nicht wollten, war Ed Moschitz. Der österreichische Journalist und Dokumentarfilmer produzierte für die ORF-Sendung “Am Schauplatz” eine Reportage-Reihe mit zwei Folgen, in denen er die Schockstarre, in die Ischgl im Frühjahr 2020 verfiel und von der es sich nur mühsam erholt, festhält. Was zunächst nach dem großen Scheitern aussah, ist zu einem Zeitdokument ohnegleichen geworden – und nun preisgekrönt. Am Donnerstag erhielt Ed Moschitz die “Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im Gedenken an Claus Gatterer”. Er ist der erste, der diesen neuen Gatterer-Preis in den Händen hält.

salto.bz: Herr Moschitz, stimmt es, dass Sie die Ischgl-Reportage anfangs gar nicht machen wollten?

Ed Moschitz: Das ist vielleicht etwas übertrieben. Ich habe anfangs mit Ischgl nicht viel anfangen können. Ich komme aus der Obersteiermark. Dort wird natürlich auch Ski gefahren, ich bin früher selbst sehr viel Ski gefahren. Aber der Winter-Skiurlaub wie man ihn aus Tirol kennt, ist nicht so ganz meines. Daher ist mir das ein bisschen unbekannt. Außerdem habe ich mir gedacht, ich weiß nicht, ob ich einen Zugang zu den Tirolern finde, allein schon wegen meines Dialekts. Am Ende habe ich die Herausforderung einfach angenommen und bin dorthin gefahren.

Ischgl lebt vom Fremdenverkehr. Wie wurde Ihnen als Fremder, der allerdings nicht für den Ski-Urlaub anreist, begegnet?

Am Anfang war es schon schwierig. Ich habe mich bewusst erst relativ spät, als ich schon ausführlich recherchiert gehabt hatte, beim Pressesprecher von Ischgl gemeldet. Ich habe mich erst bei der Anreise angekündigt und dann gleich Interessantes erlebt: Der Pressesprecher meinte, ich melde mich sehr spät und er brauche mehr Vorlaufzeit, denn er müsse ja vielleicht noch Liftkarten für mich organisieren und Skier und Hubschrauberflüge. Ich habe geantwortet, Entschuldigung, ich brauche keine Liftkarten von Ihnen – schon gar nicht gratis –, keine Hubschrauberflüge und auch keine Skier. Und sollte ich etwas davon brauchen, zahle ich mir das selbst. Einmal vor Ort, war der Bürgermeister relativ rasch informiert, dass ich da bin. Das spricht sich ja ziemlich schnell herum – man darf die die soziale Kontrolle in so einem Dorf nicht unterschätzen.

 

Sie sagen, Sie haben sich “bei Ischgl” gemeldet. Wen meinen Sie? Was oder wer ist Ischgl?

In diesem Fall war es der Pressesprecher der Seilbahnen.

Wie kann man eine Dorfbevölkerung anweisen, dass sie plötzlich nicht mehr mit Medienvertretern sprechen darf? Das ist höchst undemokratisch

Die Seilbahngesellschaft, die sämtliche der 45 Aufstiegsanlagen führt, spielt eine zentrale Rolle in Ischgl: Die Seilbahn hat dem Ort den touristischen Aufschwung beschert. Eine bezeichnende Szene im ersten Teil Ihrer Reportage: Als Sie im Gemeinderat fragen, wo die einzelnen Mitglieder arbeiten, sagen alle “bei der Seilbahn”.

Als ich zum Gemeinderat gefahren bin, wusste ich nicht, was die Leute beruflich machen. Als Wiener hat sich das für mich schwer recherchieren lassen. Ich wusste nur, wer im Gemeinderat sitzt, dachte aber, mehr Hoteliers oder sonstige Wirtschaftstreibende vorzufinden. Damit, dass mehr als die Hälfte, Bürgermeister inklusive, der Seilbahn so nahe stehen – als Mitarbeiter oder, wie der Bürgermeister, im Aufsichtsrat – habe ich nicht gerechnet. Ich hatte es vermutet, aber in dem Moment, wo es von jedem einzelnen gekommen ist, war ich doch sehr überrascht.

Für die Menschen vor Ort ist diese enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik selbstverständlicher?

Es war selbstverständlich und zugleich doch nicht. Es war selbstverständlich für die einfache Bevölkerung, aber ich glaube schon, dass es im Ort ziemliche Kämpfe im Hintergrund gab. Das zeigt das Beispiel des Alt-Bürgermeisters. Er wollte, dass etwas von dem verdammt vielen Geld, das die Seilbahnen verbuchen, an die Talgemeinschaft weitergegeben wird. Er wurde dann ziemlich kalt entmachtet und der jetzige Bürgermeister mit Unterstützung der Seilbahn-Mitarbeiter im und vom Gemeinderat installiert.

Im Tourismusmarketing spielt Authentizität eine immer wichtigere Rolle: Nur was man selbst auch ist, kann man gut verkaufen. Haben Sie Ischgl als authentischen Ort erlebt? Oder vielmehr als Kulisse, als Fassade, das dem Naturell der Menschen dort nicht entspricht?

Ich glaube, dass beides da ist. Ich glaube, dass die Leute wirklich gerne Hoteliers sind. Die Kulisse ist eher über die Verbände entstanden. Tourismus- und Fremdenverkehrsverband haben sie mit ihrer Marketing- und Werbestrategie aufgebaut – und die Marke Ischgl richtig groß gemacht. Ob die Leute dort so sind, wie der Ort verkauft wird, darauf habe ich keine Antwort. Authentisch sind die Tiroler aber allemal.

Dass man mit Menschen, von denen das ganze Dorf lebt, so umgeht, hat mich sehr irritiert

Im ersten Teil Ihrer Ischgl-Reportage zeigen Sie Touristik-Unternehmer, die selbstbewusst, großspurig und bisweilen selbstgefällig auftreten. Das war vor Corona. Nachdem Ischgl als Hotspot für ganz Europa in den Schlagzeilen gelandet war, änderte sich das Verhalten gegenüber Journalisten schlagartig.

Bei der ersten Geschichte haben sich die Ischgler wahrscheinlich noch so etwas wie Werbung erwartet. Denn eine der ersten Fragen, die man mir gestellt hat, als ich meine Arbeit ankündigte, war: Wird das Positiv-Werbung oder Negativ-Werbung? Das sind schon ziemliche Medienprofis dort. Ich habe versucht zu erklären, dass das keine Werbung ist, sondern Information. Da wurde mir schnell klar, dass man an einer gut recherchierten Geschichte, in der man mit Fakten und Realitäten, die dort im Tourismus herrschen, konfrontiert wird, keinen wirklichen Gefallen hat. Als die erste Geschichte gedreht und fertig war, haben sie mich, meine Hartnäckigkeit und Recherchen viel besser einschätzen können. Und ich glaube, das war der Grund, warum sie sich dann schwer getan haben, auf irgendeine Art noch weiter mit mir zu kooperieren.

Das ging so weit, dass es vom Bürgermeister eine Art Kontaktsperre für die Bevölkerung von Ischgl mit Journalisten gab.

Damit hätte ich nie gerechnet. Diese Message Control war etwas völlig absurdes. Wie kann man eine Dorfbevölkerung anweisen, dass sie plötzlich nicht mehr mit Medienvertretern sprechen darf? So etwas ist höchst undemokratisch. Und das funktioniert ja eigentlich nur in einem Ort, wo jeder irgendwie mit einem Betrieb zumindest verwandt ist, wenn er nicht gar selbst einen Betrieb hat und vom Tourismus abhängig ist. Sobald du in deiner Existenz bedroht bist, kann man dir auch drohen und sagen, “wenn du redest, ergibt sich für uns alle als Kollektiv ein Riesen-Problem”. Das geht nur unter diesen Umständen – wenn die Leute nicht vom Tourismus abhängig sind, kann man ihnen das Reden, so glaube ich, nicht wirklich verbieten. Wobei es ihnen ja nicht verboten wurde, man hat ihnen empfohlen, nicht mit Medienvertretern zu sprechen.

Und im Ort hat man sich daran gehalten?

Das war für mich verwunderlich, ja. Dass so etwas funktioniert, dass sich die Leute wirklich alle konsequent daran halten. Und zwar auch all jene, die ich für die vorige Geschichte noch interviewt hatte – dass die dann auch plötzlich nicht mehr reagieren, Angst kriegen und nicht mehr erkennen, was da passiert. Sie waren für mein Gefühl einfach eingeschüchtert.

 

Zum “großen Schweigen” dazu kam, dass Sie tätlich angegriffen wurden. Diese Szene zeigen Sie im zweiten Teil der Reportage, für die Sie im Herbst 2020 nach Ischgl zurückgekehrten.

Das hat möglicherweise auch damit zu tun, dass man im Dorf die Nachricht verbreitet hat, dass die Saisoniers (in Österreich und der Schweiz sind damit Saisonarbeitskräfte gemeint, Anm.d.Red.), mit denen ich für den ersten Teil gesprochen hatte, zum Zeitpunkt des Interviews gar nicht mehr im Dorf gewesen wären. Irgendjemand hat also ganz bewusst Misstrauen geschürt, sodass die Leute am Ende den Medien nicht mehr vertrauten. Denn was hatten sie bis dahin für Erfahrungen gehabt? Die Medien haben immer in irgendeiner Form Werbung gemacht – und plötzlich dreht sich die ganze Geschichte gegen Ischgl. Wenn man dann das Misstrauen noch schürt, traut sich überhaupt niemand mehr irgendetwas zu sagen. Bei so viel Misstrauen gegenüber den Medien wird man dann vielleicht auch aggressiv, wenn man denen auf der Straße begegnet.

Sie sagen, dass sich die Berichterstattung gegen das Dorf gedreht habe. Wurde Ischgl von den Medien in ein schlechteres Licht gerückt als es tatsächlich war?

Im Dorf wurde das wahrscheinlich so empfunden – weil ein Ereignis vor Ort zum ersten Mal Konsequenzen hatte. Das war zuvor nie der Fall gewesen. Es drehte sich immer um das Höher-Schneller-Weiter, um das Mehr im Tourismus, auf der Piste, beim Energieverbrauch – alles Dinge, die man noch irgendwie wegreden kann. Aber wenn mit einer stark aufgeladenen Marke wie Ischgl Dinge wie Corona passieren, lässt sich nichts mehr wegreden, dann explodiert das alles förmlich.

Inmitten dieses Urknalls geben Sie Stimmen wider, die man in Ischgl überhaupt nie hört bzw. überhört werden: Saisonarbeiter berichten, wie fahrlässig zum Teil mit der Corona-Situation umgegangen wurde. Sie waren einer der wenigen, die diesen Menschen zugehört haben?

Das war für mich völlig verwunderlich. Ganz Ischgl lebt von diesen Menschen, die aus Osteuropa kommen – aus Rumänien, Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Kroatien – und in der Küche stehen, die Leute bedienen, Liftkarten verkaufen. Das sind die Menschen – immerhin mehr als 3.000 –, von denen bzw. deren Arbeitskraft das ganze Dorf lebt. Dass man mit ihnen dann so umgeht, hat mich schon sehr irritiert. Sie wurden überhaupt nicht beachtet.

Saisonarbeiter werden nur als Arbeitskraft gebilligt?

Man hatte ein wenig den Eindruck, dass sie Menschen zweiter Klasse sind. Ganz oben die Tiroler, dann kommen die Touristen und dann irgendwann die Saisoniers, die quasi nur Dienstboten sind, halt notwendig für den ganzen Betrieb – weil die Tiroler wollen diese Arbeiten ja alle nicht mehr machen. Für mich war es verwunderlich, dass man diesen Menschen kein Gehör schenkt. Als sie im Fernsehen erzählten, was ihnen widerfahren ist, hätte die ermittelnde Polizei zumindest den Journalisten anrufen können und fragen, wer diese Menschen waren und ob ich Kontakt zu ihnen hatte. Für mich war es irritierend, dass niemand von den ermittelnden Behörden auf diese Leute geschaut und versucht hat, von ihnen zu erfahren, was dort wirklich passiert ist.

Im Zweifel aufseiten der Schwachen zu stehen – ohne sie in der Berichterstattung zu bevorzugen –, ist ganz wichtig

Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner, der die Tourismus-Exzesse in Ischgl und die dortige “Après-Ski-Unkultur” über Jahrzehnte dokumentiert hat, sagt: “Der Tourismus neigt stark dazu, gewisse Dinge auszublenden, zu verdrängen.” Stimmen Sie dem zu?

Natürlich hilft es wahnsinnig, wenn man verschiedene Dinge nicht mehr registriert, sie quasi unter der Wahrnehmungsschwelle hält. So etwas passiert gezwungenermaßen. Denn wenn es um viel Geld geht, muss man eine Rangordnung erstellen: Was ist einem wichtiger, das Geld oder die Natur?

Für Ihre Arbeiten haben Sie bereits mehrfach Preise erhalten. Ist die “Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im Gedenken an Claus Gatterer” nur eine weitere in Ihrer Sammlung oder hat sie eine besonderen Bedeutung?

Der Preis im Gedenken an Gatterer ist natürlich ein ganz besonderer, weil Claus Gatterer dem Journalismus ganz Tolles vorgelebt hat: dass man auf die Schwachen schauen muss, sie nicht übergehen darf. Er hat daran erinnert, das man im Gedöns des journalistischen Alltags diese Menschen ganz leicht überhört und übersehen könnte. Dass man im Zweifel aufseiten der Schwachen zu stehen hat, ohne sie in der Berichterstattung zu bevorzugen, ist ganz wichtig. Denn das sind Menschen, die es schwerer haben im Leben als viele andere, die keine Presseaussendungen schreiben oder PR-Agentur beschäftigen – und natürlich auch keine Sprechverbote anordnen können.

Sich nahe der Starken, der Mächtigen aufzuhalten, wäre manchmal angenehmer.

Natürlich wäre es einfacher, aber man würde vielleicht auch rasch in eine Abhängigkeit geraten. Sobald man zum Beispiel Geschenke annehmen würde oder mit jemandem auch privat intensiv verkehrt, funktioniert der Journalismus nicht mehr. Meine Aufgabe ist es auch, hinter die Fassade zu schauen und kritische Fragen zu stellen. Und ich möchte nicht jemandem kritische Fragen stellen, mit dem ich mich mehr oder weniger in einer Abhängigkeit befinde oder befreundet bin. Kontrolle braucht gesunde Distanz. Deshalb finde ich im Übrigen, dass Lokaljournalismus ganz ganz schwierig ist. Gerade in dieser Region. Das fängt beim Du-Wort an.

Eine der ersten Fragen, die man mir gestellt hat: Wird das Positiv-Werbung oder Negativ-Werbung?

In der Laudatio wurde mehrmals auf Ihre Beharrlichkeit verwiesen, die Sie als Journalisten auszeichnet. Manche Ihrer Kollegen sagen, Sie seien stur.

Das kann schon sein (lacht). Mein Glück ist, dass ich es im Privatleben nicht bin. Im Journalismus aber, wenn man etwas erreichen will, muss man ein bisschen stur sein. In meiner Journalistenausbildung habe ich zwei Sachen gehört, die mir sehr geholfen haben. Zum einen: Die Geschichten liegen auf der Straße. Zum zweiten: Erzählt mir nicht dauernd, dass es keinen weißen Raben gibt. Sucht ihn. Und man könnte sagen, dass ich immer noch stur bin und diesen weißen Raben immer noch suche. Und da muss man wirklich verdammt stur sein, bis man den findet.

Welche Projekte stehen als nächste an?

Gerade mache ich eine Doku über einen Teil des 10. Wiener Gemeindebezirks, über die Quellenstraße. Dort ziehen sehr viele hin, die frisch vom Ausland nach Wien kommen. Die meisten versuchen nach wenigen Monaten wieder wegzukommen, weil es nicht wirklich die beste Gegend ist. Aber es gibt dort die billigsten Mieten, es ist leistbar für viele. Ich treibe mich jetzt ein bisschen bei jenen um, die dort geblieben sind, die es sozusagen nicht geschafft haben, wegzukommen. Ich finde es wahnsinnig spannend, was Menschen dazu veranlasst, in einer Gegend zu bleiben, aus der viele andere davonrennen.

Haben Sie mit Ischgl abgeschlossen? Oder wird es einen dritten Teil Ihrer Reportage geben?

Es gibt ja bereits drei. Zwei wurden ausgestrahlt, der erste landete im Archiv, weil Corona die Realität und die Geschichte, die darin gezeigt wird, in ihrer Erzählung überholt hatte. Es war – das muss ich gestehen – schon extrem frustrierend. Denn drei Monate am Stück an einer Sendung arbeiten, ist sehr anstrengend und verlangt von einem Menschen, einem Journalisten sehr viel ab. Und wenn dann alles fertig ist, wandert es eins zu eins ins Archiv und wird nicht gespielt. Das war schon eine ziemliche Niederlage. Aber ich habe nicht locker gelassen und gesagt, wir müssen diese Geschichte jetzt erzählen – angereichert um die Elemente der Pandemie. Insofern stimmt das mit dem stur wieder. Wäre der Moschitz nicht so stur, könnte das gesamte Material heute noch im Archiv liegen.