Politik | Frankreich

Supergau für Emmanuel Macron

Keine stabile Regierungsmehrheit in Sicht – Der Linksblock mehr als verdoppelt – Marine Le Pen holt Rekordsieg.
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Foto: upi
Schlappe“, „Ohrfeige“, „politisches Erdbeben“, „schwere Krise“ – die Superlative der Kommentatoren zogen sich gestern durch den gesamten Wahlabend. Denn erstmals seit General Charles de Gaulle 1958 mit der fünften Republik das Präsidialsystem eingeführt hat, bleibt einem frisch gewählten Präsidenten wenige Wochen später so klar eine Regierungsmehrheit verwehrt. Dass Macron die absolute Mehrheit mit mindestens 289 von 577 Abgeordneten verpassen könnte, lag in der Luft. Aber dass die relative Mehrheit so dünn ausfallen würde, galt als unvorstellbar. Hier die Ergebnisse:
Während der vergangen fünf Jahre hatte die Allianz des Präsidenten das Parlament mit einer erdrückenden Mehrheit von 350 Sitzen beherrscht und zur reinen Registrier- und Abnick-Kammer seiner Gesetzesvorlagen gemacht, Premierminister und Minister waren für Emmanuel Macron so etwas wie seine Abteilungsleiter.
 

Emmanuel Macron abgestraft

 
Hatten ihm im April noch 58,5% der WählerInnen die Stimme gegeben, so war das hauptsächlich, um seine Rivalin Marine Le Pen zu verhindern. Jetzt bei den Parlamentswahlen bot sich die Gelegenheit Macron, der sich selbst einmal mit Jupiter verglich, schwer abzustrafen. Weil er als volksfern, selbstherrlich und alles im Alleingang entscheidend wahrgenommen wird, aber auch weil seine Wirtschafts- und Sozialpolitik eher dem Motto „den Tüchtigen gehört die Welt“ folgte.
Mit seiner Strategie „weder rechts, noch links“ oder „sowohl als auch“ war es dem klugen Taktiker gelungen, gemäßigte Sozialdemokraten ebenso aufzusaugen wie Teile der konservativen Traditionsparteien. Zugleich wurden dadurch die radikalen und extremen Kräfte gestärkt.
Dem marxistisch-souveränistischen Haudegen und Alt-68er Jean-Luc Mélenchon gelang das Meisterstück die zerstritten kriselnden Linksparteien und Grünen unter seiner Führung zu vereinen. Mit Forderungen nach radikalen Sozialmaßnahmen, nach konsequenter Klimapolitik und einem Ende der präsidialen Monarchie konnte sich die Linke mehr als verdoppeln.
 
 
Dem marxistisch-souveränistischen Haudegen und Alt-68er Jean-Luc Mélenchon gelang das Meisterstück die zerstritten kriselnden Linksparteien und Grünen unter seiner Führung zu vereinen.
Aber auch die extreme Rechte stellte neben ihrer klassischen Anti-Ausländer- und EU-Feindlichkeit zunehmend soziale Anliegen der ärmeren sozialen Schichten in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Ihr enormer Sieg bei diesen Parlamentswahlen ist noch erstaunlicher, weil die Partei von Marine Le Pen keine Bündnisse mit anderen Kräften eingegangen ist und erstmals bewiesen hat, wie sehr sie landesweit verankert ist. Jetzt erhält sie eine starke Truppe in der Volksvertretung, eine effiziente Bühne und entsprechende Parteienfinanzierung.
 

Die Gefahr der Unregierbarkeit

 
Offiziell haben die ersten schwergewichtigen Vertreter der Macron-Allianz „Ensemble!“ die Losung ausgegeben, der Präsident und seine Regierung müssten jetzt um zu regieren, eben für jedes Gesetzesvorhaben von Fall zu Fall Verbündete und Mehrheiten suchen. Das ist mühsam und kaum vorstellbar. Zumindest vorerst geben sich die unterschiedlichen Kräfte des Linksblocks diesbezüglich absolut ablehnend, auch wenn sie untereinander in vielen Fragen verschiedene Positionen haben (NATO, Ukraine-Krieg, EU, Atomkraft). Die konservativen Républicains waren ihrerseits schon am Wahlabend in zwei Fraktionen gespalten, wobei jene, die „nicht als Krücke“ für Macron einspringen wollen, die Mehrheit stellen. Von der extremen Rechten gar nicht zu reden.
 

Politische Systemkrise

 
In Wirklichkeit hat der gestrige Wahlausgang Frankreich in eine wahrhaftige politische Systemkrise gebracht. Denn die vollkommen auf die zentrale Rolle des Staatspräsidenten ausgerichtete politische Kultur und das absolute Mehrheitswahlrecht haben schon bisher dazu geführt, dass die Regierungsmacht eine relativ schmale Basis in der Bevölkerung hatte – vor allem angesichts der geringen Wahlbeteiligung. Beim fulminanten Sieg Emmanuel Macrons 2017 hatten die absolut herrschenden Macron-Deputierten nur ganze 9 Millionen Stimmen erhalten – von insgesamt 48 Millionen Wahlberechtigten – knappe 20%.  Und auch gestern gingen nur 46% der Berechtigten zu den Urnen, 54% bevorzugten „angeln zu gehen“, wie man in Frankreich sagt.
 
 
Angesichts der starken Polarisierung und Spaltung in drei Lager – radikale Linke, Mitte-Rechts, extreme Rechte – berichtete noch in der Nacht die Zeitung „Le Monde“, dass im Umfeld des Präsidenten schon von einer möglichen Auflösung des Parlaments und Neuwahlen die Rede sei. Allerdings erst in einem Jahr, denn früher erlaubt es die Verfassung nicht nach einer soeben geschlagenen Wahl. Das hieße, dass bis dahin Parlament und Regierung zwischen Blockade und Chaos bestenfalls die nötigsten Geschäfte erledigen könnten.
Die Einführung zumindest einer spürbaren Dosis proportionalen Wahlrechts und eine stärkere institutionelle Einbeziehung der Sozialpartner sowie der Zivilgesellschaft in die politischen Entscheidungen, wurde oft versprochen und wäre wohl ein Muss. Ob das allerdings mit der jetzigen Assemblée Nationale zu machen ist, bleibt dahingestellt.
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Dietmar Nußbaumer Di., 21.06.2022 - 23:31

Frankreich ist die Wiege der demokratischen Republik als Staatsform. Da die Monarchen heute in Konzernen, Banken usw. sitzen, haben die Franzosen verstanden, dass hier versucht wird, das Rad der Geschichte zurückzudrehen (Stichwort: Neoliberalismus).

Di., 21.06.2022 - 23:31 Permalink