Gesellschaft | Forschung

„Nur aus Daten entsteht Wissen“

Professor Stefan Schulz ist Medizininformatiker und als Referent beim Event „Bolzano Summer of Knowledge“ dabei. Sein Blick richtet er auf eine „intelligente“ Zukunft.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Pixabay

Könnten Sie zu Beginn unseres Gesprächs bitte folgende Begriffe einfach erklären: Semantik, Informatik und Ontologie. Und vor allem: Was haben diese Wissenschaften gemeinsam, wie können sie miteinander verbunden werden?

Stefan Schulz: Informatik ist wohl am einfachsten zu erklären. Es ist die Wissenschaft der Verarbeitung von Informationen mit Computern und somit auch Grundlage all der Informationstechnologien, die Teil unseres Alltags geworden sind. Semantik ist die Lehre von der Bedeutung, die hinter sprachlichen Ausdrücken steht. So sind zum Beispiel die Ausdrücke "Die Katze jagt die Maus", "die Maus wird von der Katze gejagt", " Il gatto insegue il topo" oder "the cat chases the mouse" sprachlich sehr verschieden, aber semantisch gleichbedeutend. Die Ontologie, schließlich, versucht, Bedeutungen mit Hilfe der mathematischen Logik zu beschreiben. Sie charakterisiert und klassifiziert Gegenstände eines Fachgebiets nach ihren Eigenschaften, um sie schließlich mit sprachlichen Ausdrücken verschiedener Sprachen zu verbinden.

Sie sind Teamleiter eines Forschungsprojekts an der MedUni Graz. Der Forschungsschwerpunkt liegt dabei in der Semantik und Ontologie in der Medizin. Was forschen Sie da? Welche Ziele verfolgen Sie und Ihr Team?

Die medizinische Dokumentation beruht zu großen Teilen auf Texten. Während eine Ärztin "Appendizitis" schreibt, ihr Kollege "Appendicite", wird der Patient wahrscheinlich sagen "Mein Blinddarm war entzündet". Medizinische Ontologien sind große Kataloge, die diese Bedeutungen sprachübergreifend auf Codes abbilden, so beispielsweise auf den Code 74400008 des medizinischen Ontologiestandards SNOMED CT. Darin steht dann, dass alles, was mit diesem Code abgekürzt wird, auf akute Entzündungen am Wurmfortsatz des Blinddarms verweist.  Das ist nicht viel anders, wie wenn ein zweipoliger Eurostecker im europäischen Standard EN mit dem Code 50075 identifiziert und darin seine Eigenschaften und Abmessungen beschrieben werden.
Wir forschen daran, mit welchen Methoden Inhalte der medizinischen Dokumentation auf Standards abgebildet werden. Dazu braucht man "intelligente" Verfahren, die die Inhalte klinischer Dokumente automatisch analysieren und auf Ontologie- und Informationsstandards abbilden.
 


Ich habe von einem Projekt Ihres Teams gelesen, das den Namen „Vorhersagemodelle für Schlaganfall“ trägt. Um was geht es bei diesem Projekt?

Es geht dabei um das Sammeln von Daten zu verschiedenen Stadien des Schlaganfalls, von Risikofaktoren über die Akutbehandlung bis zur Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die Daten kommen aus unterschiedlichen Ländern und Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen.
 
Wird es in Zukunft also möglich sein, Schlaganfälle vorherzusagen?

Man kann keinen Schlaganfall exakt vorhersagen, aber mit Methoden der Künstlichen Intelligenz kann man Wahrscheinlichkeiten errechnen, dass es zu einem Schlaganfall kommt, oder dass danach ein befriedigendes Rehabilitationsergebnis erreicht wird. Das erfolgt durch Training sogenannter Vorhersagemodelle auf klinischen Daten. Um diese vergleichbar zu machen, müssen sie standardisiert werden, und hier sind wir wieder bei den Ontologien.  

Sie sind im Rahmen der Veranstaltungen „Bolzano Summer of Knowledge“ zurzeit in Südtirol. Zu welchen Themen werden Sie hier in Bozen einen Vortrag halten?

Ich wurde eingeladen, um einen Vortrag zur medizinischen Ontologie SNOMED CT zu halten.

Können Sie das Thema vielleicht kurz erklären?

SNOMED CT enthält Beschreibungen für 350.000 Arten von Gegenständen, die in der Krankenversorgung eine Rolle spielen. Das reicht von der Fußzehe bis zum Kleinhirn, von der Aspirintablette bis zum Herzschrittmacher, vom Asthma bis zum Blutzuckerwert und vom Coronavirus bis zur Bandscheibenoperation. Für alles gibt es einen internationalen SNOMED-Code. In meinem Vortrag diskutiere ich Ansätze, die mathematischen Beschreibungen, sowie die Benennungen dieser Codes präziser zu machen, um somit Fehlinterpretationen durch Mensch und Maschine zu vermeiden.  

Sind Sie der Meinung, dass Ihr Forschungsbereich in der Zeit der Corona-Krise an Wichtigkeit gewonnen hat? Schließlich wurden in dieser Zeitspanne Äpfel und Birnen verglichen, ohne jegliche Gemeinsamkeit zu haben. Was war oder ist Ihre Aufgabe in diesem Bereich?

Genau das ist der Punkt. So lange es keine präzisen Standards gibt oder diese nicht angewandt werden, ist die internationale Vergleichbarkeit medizinischer Daten begrenzt, was die darauf basierenden wissenschaftlichen Untersuchungen, sowie die davon abhängigen politischen Entscheidungen beeinträchtigt. Dabei soll medizinisches Personal sich weiter ihrer Fachsprache bedienen. Der Computer ist dann quasi der Übersetzer in wissenschaftlich auswertbare Kodierungen.  

Wir leben in einem Zeitalter mit immensen Wissensstand. Es gibt Daten, Daten, Daten. Warum ist es so wichtig, diese in ein System zu bringen und vergleichbar zu machen?

Nur aus Daten entsteht Wissen. Das erfordert, Muster in den Daten zu erkennen und zu interpretieren. Solange die Daten nur als sehr individuell geschriebene Texte bestehen, ist das schwierig. Daher kommt der Standardisierung medizinischer Daten diese große Rolle zu, und hierfür müssen Ontologiesysteme präzise Beschreibungen und standardisierte Codes bereitstellen.

Könnten Sie mir Ihre berufliche Laufbahn beschreiben?

Ich habe in Deutschland und Brasilien Medizin studiert, dann mich aber nicht zum Facharzt, sondern zum Medizininformatiker weitergebildet. Als Wissenschaftler der Uni Freiburg habe ich in vielen Forschungsprojekten mit Medizinern, Biologen, Linguisten, Informatikern, Mathematikern und Philosophen zusammengearbeitet. 1990 wurde ich auf eine Professur der Medizinischen Universität Graz berufen. Seit drei Jahren bin ich zudem bei der deutschen Softwarefirma Averbis in Freiburg Koordinator für Forschungskooperationen.
 

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Arne Saknussemm Sa., 25.09.2021 - 01:37

„Nur aus Daten entsteht Wissen“ ... Das ist Blödsinn! Wissen entsteht durch Erfahrung und sonst durch gar nichts! Die Datenhörigkeit heutzutage ist mittlerweile schon eine Religion, eine Diktatur der Statistik. Alles Dinge, die den Menschen von der Realität entfernen!

Sa., 25.09.2021 - 01:37 Permalink
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Mumelter Georg So., 17.10.2021 - 17:12

Antwort auf von Arne Saknussemm

Das ist missverständlich, weil wir persönliches Wissen mit Erfahrung gleichsetzen und Daten als etwas unpersönliches verstehen.

Erfahrung ist aber nichts anderes als empirische Daten. Wenn Wissenschaft gut betrieben ist, dann generiert sie ohne persönliche Gewichtungen (=Meinungen) aus statistisch haltbar vielen Erfahrungsdaten neue Erkenntnisse, stück für stück. Neugierig muss man für Datenanalysen sein.
Saubere Dokumentation und Quellenangaben Pflicht.

So., 17.10.2021 - 17:12 Permalink
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Karl Trojer Fr., 08.10.2021 - 11:46

Würde Wissenschaft nur aus Daten entstehen, gäbe es sie nur sehr beschränkt. Daten sind immer Ergebnisse aus der Vergangenheit. Wissenschaft aber bedarf der Neugierde, der Intuition, der Innovation...

Fr., 08.10.2021 - 11:46 Permalink