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Wiederbelebung in Brixen

Die russische Armee löscht in der Ukraine nicht nur Menschen aus, sondern auch deren Sprache und Kultur. In Brixen trifft ein Stück dieser Kultur auf neue Ohren.
Oksana Sabuschko
Foto: Daniela Radmüller für ZeLT

In den ersten Kriegsmonaten retten einige Freiwillige Bücher aus Bibliotheken, Büchereien und Lagerhäusern im Osten der Ukraine in den damals noch sicheren Westen des Landes. Für die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko: “einer der berührendsten Momente dieser Zeit”. Wie die Freiwilligen in der Ukraine versucht auch sie ein Stück ukrainische Kultur in den Westen zu retten: Im Rahmen einer vom Europäischen Zentrum für Literatur und Übersetzung (ZeLT) veranstalteten Lesereihe zur ukrainischen Literatur liest die Autorin in der Brixner Stadtbibliothek aus ihrem vor kurzem auf deutsch erschienenen Essay “Die längste Buchtour” vor.

 

Buchtour mit ungewissem Ausgang

 

Zwei Kleider, zweimal Unterwäsche und Kontaktlinsen für drei Tage, abgezählt: Am 23. Februar 2022 packt Oksana Sabuschko für was eine kurze Buchpräsentation in Wahrschau werden sollte ihre Koffer. Zwischen Covid-Varianten und Lockdowns die erste Auslandsreise seit Langem, wie sie erzählt. Trotzdem fühlt sie sich irgendwie unwohl. Wäre die Reise im letzten Moment noch abgesagt worden, sie hätte wohl Erleichterung empfunden. 

Aber die Reise findet statt. Und während Oksana Sabuschko am 24. Februar das Land wie geplant gen Westen verlässt, marschieren die russischen Truppen im Osten der Ukraine ein. So werden aus den geplanten drei Tagen im Ausland Monate und aus dem “Katzensprung nach Wahrschau” eine Europareise mit ungewissem Ausgang: Seit Kriegsbeginn tourt Oksana Sabuschko durch Europa, wo sie den Mythos einer historisch gespaltenen Ukraine in den europäischen Köpfen zu durchbrechen sucht.

 

“Hassen sich Ost und West der Ukraine leidenschaftlich?”, stellt sich Oksana Sabuschko in der Brixner Stadtbibliothek selbst die Frage. Die einfache Antwort, die sie in ihrem Essay vertieft, lautet: “Nein”. Aber die Reizlage von Außen sowie die bewusste Manipulation der historischen Narrative vonseiten Russlands hätte die Situation in den Jahren vor und nach Maidan sehr angespannt. Beim Angriff in der Ostukraine sei jedoch ein Wunder geschehen, jenes Wunder, das Oksana Sabuschko heute “das ukrainische Wunder” nennt: “Die nationale ukrainische Identität ist inmitten des Informationskrieges plötzlich erwacht”, so die Autorin.

Auf berührende Art und Weise zieht Oksana Sabuschko in ihrer Lesung in der Stadtbibliothek Brixen einige Meilensteine der ukrainischen Geschichte nach und führt damit ihren ganz eigenen Kampf. Einen Kampf gegen verfestigte Narrative und mit einer Sprache, die Wörter und Bezeichnungen nicht einfach übernimmt, sondern ihren eigenen Weg sucht. Eine Sprache, die von Gernot Howanitz und Yana Lyapova vom Slawistik-Institut der Universität Innsbruck ins Deutsche übersetzt wird und somit auch hier in die Köpfe der Zuhörer:innen dringen kann.

 

Die Lesung von Oksana Sabuschko am 18. Oktober in Brixen war die erste einer von ZeLT veranstalteten Lesereihe zur Sprache und Literatur der Ukraine. Am Mittwoch, dem 30. November wird im selben Rahmen der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow mit seinem “Tagebuch einer Invasion” zu Gast sein. Darin hält Kurkow fest, was es bedeutet im Krieg zu leben, mitten in Europa und in einer seit dreißig Jahren nach Freiheit strebenden Gesellschaft eines westlich orientierten Staates. Er schildert den Alltag im Ausnahmezustand, berichtet von den Gefahren der Flucht und vom Terror der Bombardements. Und er weiß, worum es bei all dem geht: “Die Ukraine wird entweder frei, unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben”.

Wie Sabuschko, zählt auch Kurkow zu den prominentesten ukrainischen Autoren der Jetztzeit.