Gesellschaft | Berlin

“Berlin, lass dich nicht unterkriegen”

Der freie Journalist Pepe Egger lebt seit Jahren in Berlin. Im Interview spricht er über die Geschehnisse vom Montag Abend. Und warnt vor Instrumentalisierungen.
Pepe Egger
Foto: Privat

Pepe Egger lebt als freier Journalist und politischer Analyst in Berlin, wo er über Kultur und Politik, Film und Migration, soziale Bewegungen und Kunst “von Nah-Ost bis Fern-West” schreibt. Salto.bz hat ihn zu den Geschehnissen vom Abend des 19. Dezember, als ein LKW in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedenkkirche raste und dabei 12 Menschen tötete und Dutzende verletzte, am Telefon erreicht.

salto.bz: Herr Egger, wie haben Sie den Abend des 19. Dezember verbracht?
Pepe Egger: Ich war zu Hause und habe versucht zu arbeiten. Daher habe ich auch die Nachrichten nicht verfolgt und von dem Ganzen überhaupt nichts mitgekriegt. Im Übrigen ist es ja als Nachrichtenkonsument völlig frustrierend, wenn so etwas passiert, weil man ja am Anfang gar nichts weiß. Man sitzt vor irgendwelchen Live-Tickern und erfährt überhaupt nichts Neues, dafür viel Unwichtiges, da die Informationen nur ganz spärlich eintrudeln, und vieles, was sich dann eine Stunde später als falsch herausstellt. Heute um 15 Uhr gibt die Polizei eine Pressekonferenz. Erst dann wird man handfeste Aussagen bekommen, die man am Montag Abend einfach noch nicht gehabt hat.

Was ist derzeit über das, was am Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedenkkirche am Montag Abend passiert, bekannt?
Was wohl sehr wahrscheinlich der Fall ist, ist, dass der Täter den LKW gestern (19. Dezember, Anm. d. Red.) Nachmittag geklaut hat. Vom GPS des Fahrzeugs sieht man, dass einige Fahrversuche mit dem LKW durchgeführt wurden. Der Täter konnte es wohl vorher nicht. Der Fahrer des LKW lag wohl im Fahrzeug drin, war aber erschossen. Man weiß nicht, ob ihn die Polizei während des Anschlags erschossen hat oder ob der Täter ihn schon vorher erschossen hat, um ihn auszuschalten und den LKW zu klauen. Nachdem er in den Weihnachtsmarkt gerast ist, ist der Täter aus dem Auto raus und zu Fuß geflohen. Jemand hat das gesehen und ist ihm hinterher, während er die Polizei verständigt hat. Die Verfolgung ging zwei Kilometer durch den Berliner Tiergarten, bis der Flüchtige bei der Siegessäule verhaftet wurde.

Die Weihnachtsmärkte bleiben vorerst geschlossen, allerdings nicht aus Sicherheitsgründen, sondern aus Pietät.

Steht schon fest, wer der Verhaftete ist?
In diesem Fall muss man, glaube ich, wie bei allen Infos, vorsichtig sein. Denn es gibt eine Menge Meldungen, die auch von der deutschen Presseagentur und dem Fernsehen – also nicht irgendwelchen Boulevardmedien, sondern auch von an und für sich seriöser Seite – gebracht wurden, die sich eine Stunde später als falsch herausgestellt haben.

Was weiß man von dem Verhafteten, der unter Verdacht steht, die Tat begangen zu haben?
Was jetzt zumindest berichtet wird, ist, dass es sich dabei um einen 23-jährigen Mann handeln soll, der im Dezember 2015 oder im Januar 2016 nach Deutschland gekommen ist; entweder aus Pakistan oder Afghanistan stammt und wohl vielleicht zuletzt in Berlin in einer Flüchtlingsunterkunft gelebt haben soll. Aber das ist auch nicht gesichert. Der Mann streitet die Tat ja bis jetzt ab, und gerade eben kam die Nachricht, dass die Polizei unsicher ist, ob er wirklich der Täter sein kann.

Am Dienstag Morgen hat es in einer Flüchtlingsunterkunft eine Razzia des Sondereinsatzkommandos der Polizei gegeben, berichten deutsche Medien. Inwieweit steht dieser Einsatz im Zusammenhang mit der Attacke auf den Weihnachtsmarkt?
Dass es einen solchen gibt, ist auch nicht bestätigt. Und es war auch keine Razzia, was dort am Tempelhof stattgefunden hat. Dort, in den Hangars des ehemaligen Berliner Flughafens, waren eine Zeit lang mehrere tausend Flüchtlinge untergebracht. Heute wohnen noch immer hunderte von Kindern und Familie dort und verbringen zum Teil Monate in den Hangars. Es war jedoch keine Razzia im eigentlichen Sinn. Die Polizei ist zwar mit einem Großaufgebot von 200 Polizisten hin, aber eigentlich nur, um mit drei Leuten zu sprechen. Das heißt, es wurde niemand verhaftet und soweit ich weiß auch keine Durchsuchungen durchgeführt. Sondern die Staatsanwaltschaft wollte mit irgendwelchen Leuten dort sprechen – nicht verhören oder festnehmen. Es kann sein, dass der mutmaßliche Täter dort gewohnt hat oder dass ihn dort jemand gekannt hat. Aber das ist alles nicht sicher, ein paar Zeitungen berichten ja inzwischen, dass der Einsatz in Tempelhof gar nichts mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt zu tun hat.

Wir sind im Grunde davon eingeholt worden, dass es auf der Welt eben nicht so friedlich zugeht wie wir es manchmal glauben.

Sie haben es vorher angesprochen: Mit Informationen zu diesem Fall muss vorsichtig umgegangen werden. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Berichterstattung der deutschen Medien seit Montag Abend?
Die Berichte unmittelbar nach dem Vorfall habe ich selbst nicht verfolgt. Aber von dem, was man über die Berichterstattung gehört hat, kann man sagen, dass sie zum Teil tatsächlich sehr vorsichtig war und darauf bedacht, nicht vorschnell Gerüchten und Spekulationen Platz zu geben. Nur, es war am Anfang eben nicht klar, ob es ein Unfall oder ein Anschlag war.

Von der Route des LKWs her hätte es beides sein können?
Dort, wo er in den Weihnachtsmarkt hineingefahren ist, macht die Straße eine scharfe Kurve um dem Markt auszuweichen. Der Täter ist dort geradeaus weitergefahren. Das hätte auch passieren können, wenn jemand zum Beispiel total alkoholisiert gewesen wäre. Mittlerweile scheint das weniger wahrscheinlich, aber weil es anfangs keine Klarheit gab, hat man sich zurückgehalten. Nicht alle, die Mainstream-Medien allerdings zu einem gewissen Teil schon.

Nach und nach werden mehr Details bekannt. Schlägt damit auch der Tonfall in der öffentlichen Debatte um?
Inzwischen wird das Geschehene schon emotionalisiert. Gerade habe etwa ich gelesen: “Katastrophe in Berlin”. Da muss man sich schon fragen, ob “Katastrophe” tatsächlich der richtige Ausdruck ist.

Ist er das für Sie?
Es ist nur der richtige Ausdruck, wenn man davon ausgeht, dass die Welt ein völlig heiler Ort ist, wo alle in Frieden miteinander leben. Aber wir wissen, dass das nicht so ist: Anschläge in Ankara, Istanbul, Bagdad, Kairo, Paris – jetzt ist es hier, in Berlin, auch passiert. Wir sind im Grunde davon eingeholt worden, dass es auf der Welt eben nicht so friedlich zugeht wie wir es manchmal glauben.

Es scheint mir Fall zu sein, dass z.B. die CSU versucht, die Instrumentalisierung dieses Vorfalls nicht allein der extremen Rechten zu überlassen.

Wie ist die Stimmung derzeit in Deutschlands Hauptstadt? Trauen sich die Menschen auf die Straße? Rät die Polizei davon ab, öffentliche Plätze aufzusuchen?
Ich bin bis jetzt noch nicht viel in der Stadt herum gekommen, daher kann nur meine subjektiven Eindrücke teilen. Gestern gab es erhöhte Sicherheitsvorkehrungen und die Polizei hat dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Doch heute geht das Leben weiter. Auch wenn die Weihnachtsmärkte vorerst geschlossen bleiben, allerdings nicht aus Sicherheitsgründen, sondern aus Pietät. In den Schulen werden die Lehrer dazu aufgerufen, das Geschehene mit den Kindern zu besprechen.
Die meisten Menschen in der Stadt sind berührt, aber lassen sich, soweit ich das beurteilen kann, eigentlich nicht aus der Ruhe bringen.

Nach dem Motto, “Das Leben geht weiter”?
Die Stimmung ist schon gedrückt. Aber tatsächlich hat Berlins Innensenator verlauten lassen, dass, wenn man jetzt in Panik ausbrechen würde, man eigentlich nur in das Spiel einsteigen würde.

Können Sie abschätzen, wie sich dieser mutmaßliche Anschlag auf Berlin und auf das Zusammenleben deutschlandweit auswirken wird? Werden Populisten, etwa von der AfD oder PEGIDA neuen Aufwind bekommen?
Dass es Versuche geben wird, das Ganze zu instrumentalisieren, ist klar. Zugleich ist es völlig falsch, was etwa der bayerische Innenminister bereits getan hat. Er hat gesagt, man muss darüber sprechen, dass es in Deutschland eine gewisse Anzahl an Flüchtlingen gibt, was ein Sicherheitsproblem darstellt – als ob man damit einen terroristischen Anschlag erklären könnte. Das ist in meinen Augen glatter Humbug.

In diesem Fall muss man, glaube ich, wie bei allen Infos, vorsichtig sein.

Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik ist für Sie fehl am Platz?
Kritik ist wichtig, aber in diesem Fall scheint es mir mehr der Fall zu sein, dass z.B. die CSU versucht, die Instrumentalisierung dieses Vorfalls nicht allein der extremen Rechten zu überlassen. Sie wissen, dass der Konnex Flüchtlinge-Terrorismus faktisch nicht stimmt, aber sie wissen auch, dass die AfD und andere das trotzdem instrumentalisieren werden, also machen sie es – zynischerweise – gleich selbst. 2007 hat es in Deutschland einen Anschlag gegeben, bei dem fünf deutsche Islam-Konvertiten im Saarland versucht haben, einige Ziele in die Luft zu sprengen. Damals gab es noch gar nicht die Zahlen an Flüchtlingen in Deutschland, die man jetzt als Erklärung heranzieht. Deswegen: Selbst wenn der Täter vom Montag als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist – er hätte ja sonst auch kommen können. Aber logisch wird jetzt genau in diese Kerbe geschlagen. Wobei das bei einer Million Flüchtlinge, die in einem Jahr nach Deutschland gekommen sind, von denen drei etwas anstellen, in meinen Augen faktisch kompletter Humbug ist.

Gehen Sie davon aus, dass die Stimmung gegen Flüchtlinge weiter angeheizt werden könnte?
Ich habe vorhin mit einer Freundin telefoniert, die mir gesagt hat, sie wird in den nächsten Tagen in die Flüchtilngsnotunterkunft Tempelhof gehen und den Leuten, den Flüchtlingen dort zeigen, dass man sie eben nicht verdächtigt, sie unterstützt und sie nach wie vor willkommen sind.

Sie gehen also davon aus, dass sich die Stadt und ihre Bewohner nicht spalten lässt von jenen, die die Situation ausnutzen und Hass säen wollen?
Die AfD und ähnliche Gruppierungen werden es sicher probieren und ihre eigene Klientel damit sicher auch erreichen. Aber ich glaube, dass es beim Großteil der Menschen in Berlin die umgekehrte Reaktion geben wird. Bereits am Montag Abend wurde von vielen das Zitat des norwegischen Premierministers aus dem Jahr 2011 geteilt. Am Tag nach dem Attentat von Anders Breivik auf Utøya hat er gesagt, dass die einzige Antwort darauf sein kann, noch offener, noch solidarischer, noch demokratischer zu sein. Und ich glaube schon, dass in Berlin die meisten Leute eher so denken als umgekehrt.