Gesellschaft | Schule

„Noten sind keineswegs fair“

Ermöglicht das Bewertungssystem unserer Schulen Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu lernen? Antworten von Prof. Simone Seitz.

Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
simone seitz unibz
Foto: (c) unibz

salto.bz: Frau Prof. Seitz, Südtirols Bildungslandesrat Philipp Achammer hat zuletzt Ende Jänner italienweit mit seinem Vorstoß, Noten unter Vier abzuschaffen, für Aufmerksamkeit gesorgt. Noten darunter würden Schüler nämlich lediglich demütigen und hätten keinen pädagogischen Nutzen. Stimmen Sie mit ihm überein?

Simone Seitz: Insgesamt gilt, dass Entmutigung und Beschämung nicht lernförderlich sind. Die Debatte zeigt aber auch die zentralen Probleme der Notengebung insgesamt. Denn anders als vielfach gedacht sind Noten keineswegs fair und zuverlässig. Vielmehr haben umfassende Forschungsarbeiten bereits vor Jahrzehnten gezeigt: Noten sind nicht objektiv, so vergeben etwa verschiedene Lehrpersonen für die gleiche schriftliche Arbeit sehr unterschiedliche Noten- und das selbst in Fächern wie Mathematik, denn hier wird der Rechenweg mitbewertet. Noten sind zudem nicht reliabel, was meint, dass die gleiche Lehrperson für die gleiche Arbeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchaus unterschiedliche Bewertungen vergibt. Notenbasierte Leistungsbewertungen sind somit insgesamt enorm fehleranfällig.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ein typischer Beurteilungsfehler ist der Reihenfehler, der kurz gesagt die Neigung beschreibt, einem Kind, dass einmal mit einer schlechten Zensur bewertet wurde, auch beim nächsten Mal wieder eine eher schwache Zensur zu geben, da sich die Erwartung, auch teilweise unbewusst, an die bereits gezeigte Leistung anpasst. Bei einer Note unterhalb von vier haben Schüler:innen nicht nur rein rechnerisch sondern auch psychologisch eine verschwindend kleine Chance, dies noch mit einer positiven Note auszugleichen, denn diese müsste dann im Bereich von Neun liegen. Vor allem aber sind Noten wenig aussagekräftig, denn sie geben keine inhaltlichen Hinweise auf didaktische Konsequenzen oder Fördermöglichkeiten und das ist natürlich besonders bei schlechten Noten ein Problem. Aus einer Zahl ist es für Lernende und Lehrende, aber auch Eltern, kaum möglich zu erraten, woran es jetzt genau gelegen hat und was zu tun wäre, um beim nächsten Mal eine bessere Bewertung zu erhalten bzw. diese geben zu können.

Kurzum: Leistungsbewertung muss mehr sein als ein Rechenvorgang?

Weit mehr! Sie ist Teil der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen und Teil des didaktischen Arbeitsbündnisses zwischen Lehrpersonen und ihren Klassen. Noten unter vier zeigen somit an, dass etwas in der Zusammenarbeit von Schüler:innen und Lehrpersonen nicht gut läuft, denn sie dokumentieren sehr deutlich einen ausbleibenden Lernerfolg bei den jeweiligen Schüler:innen. In solchen Fällen gilt es also zu fragen, warum der Unterricht nicht alle Schüle:innen erreicht und was eventuell verändert werden kann, um allen erfolgreiches Lernen zu ermöglichen. Da Noten kaum inhaltliche Aussagekraft haben, führt eine sehr schlechte Note häufig dazu, dass dies allein als Versagen des Kindes interpretiert wird und nicht gefragt wird, was dem Kind oder Jugendlichen für ein erfolgreiches Lernen im Weg steht. Alternative Formen der Leistungsbewertung setzen demgegenüber auf einen Dialog über das Lernen zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen und bei den Schüler:innen untereinander.  Das geht am ehesten in einem partizipativ ausgerichteten geöffneten Unterricht.

Auch die Idee des Wettbewerbs untereinander passt nicht zu den Anforderungen an zukunftsfähige Unterrichtskonzepte

 

Das heißt, wenn wir über Noten diskutieren, müssen wir auch Unterrichtsmethoden neu denken?

Unser aktuelles Notensystem beruht auf der Idee traditionellen Unterrichts im „Gleichschritt“, der zufolge alle Kinder mit gleichen Voraussetzungen starten, dann im gleichen Tempo das Gleiche lernen und sich beim abschließenden Prüfen unterschiedliche Lernerfolge der Einzelnen zeigen und sich vergleichen lassen. Diese Idee der Gleichheit von Voraussetzungen ist unzureichend, denn natürlich sind die Lernvoraussetzungen der einzelnen Schüler:innen höchst unterschiedlich.

Auch die Idee des Wettbewerbs untereinander passt nicht zu den Anforderungen an zukunftsfähige Unterrichtskonzepte, denn hier ist die Verschiedenheit des Lernens nicht das Problem, sondern die Lösung. Deshalb sollten offene Unterrichtskonzepte favorisiert werden, in denen sich die Kinder auf unterschiedlichen Lernwegen mit komplexen Fragestellungen befassen, hierüber in Austausch gehen und somit zum Beispiel auch kooperativ Leistungen erbringen können - etwa in Form einer Posterpräsentation in der Kleingruppe zu einer selbstgewählten Erkundung. Zu einem solchen, an Heterogenität und Miteinander ausgerichteten Unterricht passen keine traditionellen Formen der Leistungsbewertung mit Notenskalen und einem am Wettbewerb ausgerichteten sozialen Vergleich untereinander. Es braucht Verfahren, die kooperatives Lernen und Leisten ermöglichen, den Prozess des Lernens fokussieren statt nur ein Ergebnis und die einen Dialog über das Lernen zwischen Schüler:innen und Lehrpersonen ermöglichen.

 

 

Sie haben in einem aktuellen Forschungsprojekt Schülerinnen und Schüler selbst dazu befragt. Was ist deren Position?

Wir haben in einer Studie Kinder im Grundschulalter dazu befragt, was sie unter Leistung verstehen und wie sie Leistungsbewertung wahrnehmen. Dabei haben wir zunächst festgestellt, dass gerade zum Thema Leistungsbewertung Kinder bislang auffallend selten zu ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen gefragt werden. Wir deuten dies so, dass gerade Leistungsbewertung ein Feld ist, in dem die unterschiedlich verteilte Macht zwischen Kindern (Schüler:innen) und Erwachsenen (Lehrpersonen) ganz direkt und deutlich zu Tage tritt. Daher fällt es Lehrpersonen auch in der pädagogisch-didaktischen Praxis besonders schwer, Partizipation von Kindern im Sinne der Mitbestimmung nicht nur im Unterricht, sondern auch bei der Leistungsbewertung zu realisieren.

Kinder lernen besser, wenn die Erwachsenen in ihre Lernfähigkeit vertrauen und ihnen dies auch vermitteln.

 

Unsere Analysen und Auswertungen zu den Beschreibungen der Kinder machen deutlich, dass Kinder über ein überraschend differenziertes, strategisches Wissen zu Rollenerwartungen an sie als „Schulkinder“ verfügen. Konkret gesagt, haben sie bereits im dritten Schulbesuchsjahr ein weit entwickeltes Wissen darüber, dass es in der Institution Schule nicht nur darum geht, Zusammenhänge zu entdecken oder Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, sondern vor allem darum, diese Prozesse sichtbar zu machen, also Lernen zu zeigen. Und dies passiert eben in den unterschiedlichen Verfahren der Leistungsbewertung. Dieses Überdecken des eigentlichen Sinns von Lernen zugunsten des „Vorzeigens“ und „Aufführens“ von Lernen scheint bei Kindern in Klassen, in denen offene Unterrichtsformen praktiziert werden, etwas schwächer ausgeprägt zu sein. Aber auch die pädagogische Beziehung und Vertrauen sind wichtig für ertragreiches Lernen. Kinder lernen besser, wenn die Erwachsenen in ihre Lernfähigkeit vertrauen und ihnen dies auch vermitteln.

Die schulische Bewertung wird auch einer der Schwerpunkt einer zweitätigen Tagung zum Thema Inklusion am 3. und 4. März sein, in dem es einen regen Austausch zwischen Forschung und Praxis geben wird. Welche Alternativen kann die Forschung, was können Sie Lehrkräften und Pädagog*innen zum Thema Leistungsbeurteilung mitgeben?

Veränderte Formen der Leistungsbewertung, die stärker auf Partizipation und Verschiedenheit ausgerichtet sind und auf den Prozess des Lernens fokussieren, wie beispielsweise Lerntagebücher oder Portfolios, machen nur Sinn in einem veränderten Unterricht. Umgekehrt kann sich guter Unterricht besser entwickeln, wenn Lehrpersonen die Möglichkeit haben, solche alternativen Formen der Leistungsrückmeldung einzusetzen. Reformen wie der Verzicht auf Notengebung werden somit nur dann eine nachhaltig verändernde Wirkung haben, wenn sie auch in Schulkulturen eingehen, das heißt, wenn sie mit entsprechenden kollegial geteilten pädagogischen Grundüberzeugungen einhergehen.

Wir brauchen also wirkungsvolle Schulentwicklungsprozesse, in deren Rahmen Lehrpersonen über Unterricht, Lernen und Leistung reflektieren und gemeinsam getragene Leitideen und Konzepte entwickeln können. Dies gehen wir aktuell in Zusammenarbeit mit der Praxis an. Wir möchten dabei mit unserer Forschung einen Beitrag zur Bildungsqualität in den Schulen hier vor Ort leisten, aber auch die realisierte Qualität der Schulen nach außen sichtbar machen. Dem Verhältnis von Leistung und Inklusion kommt dabei eine Schlüsselposition zu.

Bild
Profil für Benutzer △rtim post
△rtim post Mi., 22.02.2023 - 14:55

Viele Punkte, u.a. mit Schuldzuschreibungen, errinern an Schule und Unterricht der Vergangenheit. Mit der Einführung der Kompetenzorientierung hat sich vieles verändert. Auch in der Methodenkompetenz.
Nun gilt es kompetenzorientierten Unterricht umzusetzen und begleitend zu evaluieren.

Mi., 22.02.2023 - 14:55 Permalink