Kultur | Salto weekend

Grüß Göttin

Jenseits stereotyper Vorstellungen öffnet Thea Unteregger den Blick auf die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Weiblichkeit. Ein Beispiel als Gastbeitrag.
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Foto: edition raetia

Fangga

 „Fanggen“ werden in der Sagenwelt der Alpen die wilden Waldfrauen genannt. Sie sind meist ebenso groß und stark wie Riesinnen, behaart und hässlich, mit hängenden Brüsten. Sie stillen ihre Kinder 21 Jahre lang, haben ein tiefes Wissen um die Heilwirkung der Kräuter und gehen allen christlichen Insignien aus dem Weg.
Im Pitztal heißen sie Runzen, in Tirol können die Fanggen auch von kleiner Gestalt sein, aber alle haben ungeheure Kräfte. Wie die griechischen Dryaden sind sie eng mit den Bäumen und den Wäldern verbunden.

Bedeutung des Zeichens

Die Fangga ist all das, was (vor allem) Frauen in unserer Gesellschaft nicht sein dürfen: widerborstig behaart, riesengroß, kräftig und wild, mit Hängebrüsten und einem großen Maul, hässlich und ewig stillend. Ihre übermenschlichen Kräfte verwendet sie nicht, um Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen und dabei noch attraktiv auszusehen, nein, ihre Kraft ist ungebärdig und ungebändigt. Wenn die Fangga in dein Leben tritt, ist es Zeit, die Erwartungen an das Frausein zu erweitern, unabhängig davon, ob du ein Mann oder eine Frau bist.

Stell dir vor, du brauchst dich vor nichts zu fürchten und bist wie Pippi Langstrumpf reich und stark und unbekümmert. Lächle dich an.

In unseren Köpfen spuken Tausende stereotype Frauengestalten aus Filmen und Bilderbüchern, aus Illustrierten und Werbeclips herum: Da sitzen Mütter in weißen Poloshirts mit ihrer Familie beim Mittagessen und geben sich lächelnd zwei Tomaten auf ihren Teller. Frauen stöckeln souverän mit aalglatten Beinen und perfekt gestylt ins Büro, nachdem sie ihre Kinder pünktlich in den Kinderhort gebracht haben. Auch im Alter sind die Frauen gepflegt und fit, als wäre ihr Leben ein kleiner Spaziergang mit viel Zeit zur Nagelpflege gewesen.

 

Wir Frauen bemühen uns so! Wir denken, wenn wir nur schneller, hübscher, organisierter, arbeitsamer, schlanker, ordentlicher wären, könnten wir auch strukturell unmögliche Situationen in Wohlgefallen auflösen.
Es sind die Erwartungen, die uns bei der Stange halten, die uns dazu anregen, es immer und immer wieder zu versuchen und zu glauben, es läge an uns, wenn wir versagen! Die Erwartung, dass mit Multitasking alles zu schaffen sei, zersplittert unsere Aufmerksamkeit, bis wir uns nicht mehr spüren. Die Erwartung, dass wir beruflichen Erfolg, Familie, Selbstverwirklichung, Gesundheit und Erleuchtung zugleich erreichen können, wenn wir unser Leben nur effizient genug organisieren, hält uns beschäftigt. Die Annahme, dass wir Bedingungen erfüllen müssen, um überhaupt existieren zu dürfen, schürt unsere Verbissenheit und Angst und lässt uns vor Loyalität zerfließen, wenn uns endlich jemand etwas Anerkennung für unsere Leistungen zollt.
Fangga lacht aus ihrem breiten Mund und sagt: „Fallt nicht mehr auf die Erwartungen herein! Seid wie ein Hund und schüttelt euch das ,Zu-Wort‘ wie Wasser aus dem Fell: Ich bin zu groß, ich bin zu mager, ich bin zu hässlich, ich bin zu schüchtern, ich bin zu laut, ich bin zu langsam.“  … Alle „Zu-Sätze“ sind innerlich schnell dahingesagt und dazu geeignet, uns selbst anzugreifen, einen anderen Zweck haben sie meistens nicht.
Fangga krault sich ihren Pelz und antwortet „Na und?“. „Mit so viel Körpergewicht fühle ich mich einfach nicht mehr wohl!“ „Na und?“ „Ich möchte schon bei den Kindern zu Hause bleiben, aber dann bekomme ich keine Rente!“ „Na und?“ „Mein Mann möchte öfter mit mir ins Bett, aber ich habe Schwierigkeiten, nach einem anstrengenden Tag so schnell Nähe aufzubauen!“ „Na und?“ Fangga reißt mit dieser Frage deine gut in Logik eingebetteten Sätze heraus und benutzt sie als Zahnstocher.
Sie fordert dich auf, dich zu deiner vollen Größe aufzurichten, dich auszudehnen weit über das hinaus, was du für deine Grenze gehalten hast. Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du dich klein und niedlich machst. Sei riesengroß! Fühle, dass alle Erwar- tungen und Gefahren wie tote Schuppen von dir abfallen, sobald du innerlich wächst.
Deine größte Stärke ist deine Vorstellungskraft, alles beginnt und endet mit ihr. Wahrscheinlich hast du zu hören bekommen, dass etwas „nur“ Fantasie sei, doch die Vorstellung ist eine Kraft, deren Stimme laut ruft, und die Veränderungen folgen ihr.
Was bist du bereit dir vorzustellen? Wie weit dürfen deine Gedanken gehen? Kannst du den Gedanken ertragen, genau so, wie du jetzt bist, wunderschön zu sein? Ist es in deiner Vorstellung möglich, dass du einfach so glücklich bist, ohne etwas dafür tun zu müssen? Schafft es deine Fantasie, eine Welt zu denken, in der du in Frieden bist mit allen, die dich verletzt haben? Wie wäre es, die volle Verantwortung für dich selbst zu haben? Wie wäre es, dich völlig anders zu denken?
Fangga setzt sich bequem auf den höchsten Grat und lässt ihre haarigen Beine baumeln. Wie weit lässt du deine Ideen von der Leine? Wie groß darf deine Schöpferkraft sein? Wir sind in einer Zeit angelangt, in der unser Wirtschaftssystem, unser Verhältnis zur Natur und der Umgang mit unseren Mitmenschen an einem Wendepunkt angelangt sind. Wir brauchen dringend Gedanken und Ideen, die über die Art hinausgehen, wie wir die Welt bisher gesehen haben. Wir brauchen unsere Schöpferkraft als Riesinnen und Riesen: groß, ungebändigt, ursprünglich.
Fangga steht dir bei, wenn du große Ideen brauchst, wenn du vor besonderen Herausforderungen stehst oder deine Situation aus einer anderen Perspektive betrachten möchtest. Lass dich nicht von dem ablenken, was angeblich möglich ist oder nicht möglich ist, lass dich nicht davon einschüchtern, dass es etwas bisher noch nicht gab, öffne deine Gedanken wie einen riesigen Fächer und entdecke unzählige neue Möglichkeiten und Verbindungen. Fühle, wie deine großen Füße fest auf der Erde ruhen, während du in die Sterne wächst.


Anregungen

Wie ich nie sein möchte
Suche in Büchern und Filmen nach Menschen, die anders sind und nicht deinen Vorstellungen entsprechen. Sie zeigen das, was du nicht akzeptieren möchtest. Vielleicht rasieren sie sich ihre Körperhaare nicht? Vielleicht sind sie immer perfekt gestylt und tragen ihre Schminke wie eine Maske? Vielleicht sind sie eingeölte Bodybuilderinnen oder so dick, dass dir das kalte Grausen kommt? Bemerke, wie eine Frau oder ein Mann in deiner Welt nicht sein darf. Dann taste dich vorsichtig an das heran, was für dich tabu ist, was nicht infrage kommt: Darfst du dir nicht helfen lassen, weil man besser allein ist als in schlechter Gesellschaft? Darfst du dich nicht vergnügen, weil zuerst die Arbeit kommt? Finde eine Tabuzone und verkleinere sie ein klein wenig, indem du heute etwas ausprobierst, das in Richtung Tabu geht, egal, ob du das äußerlich oder innerlich machst. Schminke dich, wenn du es normalerweise nie tust. Ruf einen Freund an und bitte um Hilfe, statt die Sache alleine durchzuziehen. Stecke deine Haare hoch, wenn du glaubst, mit offenen Haaren am hübschesten zu sein. Zieh einen Pulli an, von dem du glaubst, dass er dir nicht steht. Trödle, wenn dein Tag sonst immer durchgeplant ist. Erfülle in einem kleinen Teilbereich deine Erwartungen nicht. Wie fühlt sich das an?

„Na und?“
Schreibe mindestens zehn  Sätze auf, wie du sein sollst. Schreibe dann zehn Sätze dazu, wie du leider nicht bist, wo du den Erwartungen nicht entsprichst. Nimm eine andere Farbe, lies dir den Satz vor, kreise ihn ein und schreibe darüber „Na und?“. Zucke dabei mit den Schultern. Stell dir vor, du brauchst dich vor nichts zu fürchten und bist wie Pippi Langstrumpf reich und stark und unbekümmert. Lächle dich an.

(Außerdem begleiten drei Farben das Buch: Weiß steht für den Beginn, Rot für die Reife und Schwarz steht für die Regeneration und die Wandlung. Diese Farben haben seit der Antike Tradition, so wurde zum Beispiel die ägyptische Isis als Jungfrau, als Mutter und als Alte verehrt und auch bei den europäischen Mythen sind die drei Göttinnenfarben zu finden, denken wir nur an Schneewittchen mit der weißen Haut, dem schwarzen Haar und den roten Lippen. Die Farben bilden eine Einladung, Erlebnisse und Geschichten neu zu lesen.)

Weiße Fangga: Schüttle die Vorstellungen und Erwartungen, wie du zu sein hast, wie Wasser aus einem Fell ab. Richte dich auf und entdecke, wer du bist.

Rota Fangga: Dehne dich zu deiner vollen Größe aus. Wahrscheinlich bist du grö- ßer als dein Haus oder größer als dein Wohnort. Lass auch deine Ideen wachsen. Wie groß dürfen deine Gedanken sein?

Schwarze Fangga: Welche Erwartung schränkt dich zu Zeit am meisten ein? Schlüpfe aus der Situation heraus und betrachte sie belustigt von außen. Wenn du die Situation siehst, ohne die Ängste und Schmerzen zu spüren, sieht es fast aus wie ein Kabarett. Öffne deine Schöpferkraft und gestalte das Stück um, weil du es verändern kannst.