Wirtschaft | Leere Dorfplätze

Nichts wie weg hier!

So viele Entscheidungen werden bei uns getroffen, nur um den Touristen einen Gefallen zu tun, was dabei kaputt geht? Unsere Einzigartigkeit, unsere Geschichte.
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Foto: costa

Der Winter hat noch nicht einmal begonnen – die touristische Wintersaison, meine ich – und doch ist auf den Straßen in unserem Tal viel los. Ein gutes Zeichen, sagen die Leute. Die Wirtschaft boomt. In den Monaten zwischen Sommer- und Wintersaison haben wir die Arbeitssaison. Überall wird gemacht und getan, abgerissen und neu gebaut.

Von diesem alten Stadel da drüben ist nur noch Schutt geblieben. Offenbar hat er niemandem mehr genutzt. Lassen wir ihn halt einstürzen. Und was ist diese alte pilzförmige Behausung dort schon wert, der Stolz unserer Vorfahren? Ist doch bloß unterste Kategorie in Sachen Klimaeffizienz – und gar nichts wert. Was zählt, ist Kubatur! Und was ist mit der Wiese, auf der wir als Kinder gespielt haben? Da graben wir eine Tiefgarage hinein und stellen oben drauf noch einen schönen Apartmentblock, die kann man immer gut verkaufen. Und die Vogelbeerbäume vor dem Kirchlein? Die lassen wir besser fällen. Dann kann man da besser parken. Das Beet da hinten verkleinern wir auch, genauso wie die kleine Grünanlage mit dem Dorfbrunnen. Da bauen wir stattdessen einen Bürgersteig. Doch was hier wirklich kaputtgeht, ist unsere Einzigartigkeit, unsere Geschichte, das was unserer Gemeinschaft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit geschenkt hat. Ich sehe die Ruinen unseres Gewissens. Sie bleiben Ruinen unserer Achtsamkeit.

So viele Entscheidungen werden bei uns getroffen, nur um den Touristen einen Gefallen zu tun. Entscheidungen, die das, was uns aus der Vergangenheit erhalten war, kurzsichtig durch etwas ersetzt haben, was auf den ersten Blick praktischer wirkt. Tourismusorte brauchen Innovation, Fortschritt, Hotels, Bequemlichkeit, breite Straßen. Doch kann der Urlaubsspaß das ersetzen, was früher einmal lebensnotwendig war?

30 Millionen Übernachtungen in Südtirol Alto Adige. Immer verstopftere Straßen, ewiger Verkehr. Etwas gärt da. Aber wenn nicht gerade Feriensaison ist, hat der Metzger zu. Du willst einen Kaffee? Auch die Bars haben zu, guck mal, wir haben jetzt eine Kaffeemaschinen mit den bequemen Kapseln! Früher, gar nicht allzu lange her, ging man mit den alten Männern aus dem Dorf zum Kartenspielen, wenn die Saison vorbei war. Aber jetzt brauchen wir Erholung, und zwar möglichst weit weg. Wir müssen neue Energie tanken, so sagt man jetzt, stimmt’s? Also nichts wie weg hier! Zum High Life nach Ibiza oder in ein Resort auf einem unberührten Atoll in den Malediven. Unberührt? Eine Redensart, nichts weiter. Auch das Great Barrier Reef in Australien ist nur noch auf Postkarten so schön bunt. Bei uns dagegen hat der Dorfplatz schon lange zu existieren aufgehört. Der Dorfplatz, das Herz unserer Gemeinschaft! Ein Ort, an dem man sich traf, sich grüßte, sich zugehörig fühlte, seine Meinung sagte: Renzi oder Grillo! Nein, Savini wirklich nicht, tut mir Leid.

Es ist das Schicksal vieler Tourismusorte. Der Dorfplatz verschwindet und auch das Leben. Das kleine Kirchlein, diese Schatztruhe für die Seele, mit ihrem Friedhof, der eine Ode an die Ewigkeit war... dieses Kirchlein, in das ich als kleiner Bub noch täglich zur Messe ging, was ist es heute? Etwas, das stört, nicht passt, vielleicht sogar ärgert. Messen werden hier nicht mehr gefeiert, schließlich gibt es jetzt die neue Kirche, die große, beheizbare, mächtige, hässliche. Klar, sie ist geräumig und bequem. Aber brauchen wir, tief in unserem Inneren, wirklich immer das Geräumige, Bequeme, Komfortable, möglichst Große? Sind wir in unserer Verehrung des Konsumgotts vielleicht zu sehr verweichlicht worden? Ich wünschte mir, wir könnten einmal innehalten. Doch würde ich das überhaupt verkraften?

Und noch etwas. Es gibt Menschen, die keine Kirche mehr haben, weil sie eingestürzt ist. Die nicht jammern, dass ein Stück Wiese verschwindet, weil es ihnen nämlich gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Wir beschweren uns über einen alten Stadel, der nichts mehr taugt, während anderswo ganze Ställe zusammengebrochen sind. Wenn selbst ich mich schon fast wie ein „Heimatvertriebener“ fühle, weil immer nur die Bequemlichkeit des Touristen im Vordergrund steht, was sollen dann diejenigen sagen, die gezwungen waren, ihr Heim Hals über Kopf zu verlassen? Wir haben Glück gehabt; zerstörerische Erdbeben, gegen die man nichts tun kann, hat es bei uns nie gegeben. Wir haben Glück, denn die kleinen Erdbeben, die trotzdem unser Leben beeinflussen, die schaffen wir uns selbst. Glück haben wir, die wir so unauflöslich mit unserer monotouristischen Kultur verbunden sind, wenn nur ein paar hundert Kilometer entfernt romanische Kirchen und uralte Kulturen in wenigen Minuten zu Staub verfallen sind. Was der Mensch geschaffen hat, ist Teil der Geschichte. Und diese Geschichte wird über die Jahrhunderte zur schützenswerten Identität. Doch wenn diese Geschichte zerstört wird, weil es das Schicksal oder die menschliche Kurzsichtigkeit so wollen, was bleibt dann übrig? Wenn schon ich in meinem Egoismus und meiner Eitelkeit mich verwirrt fühle und in meiner Identität getroffen, die ich geerbt habe und weitervererben will, was sollen dann erst diejenigen sagen, die jetzt in Zelten schlafen müssen? Wir haben Glück, denn wir müssen nicht fliehen. Ich hebe die Augen zum Himmel und danke ihm. Ich lebe hier, zwischen diesen Bergen. Atolle, die die Wolken durchstechen. Gedanken, die an diesen Felsnadeln hoch- und herunterklettern. Tief atme ich durch und schließe die Augen. Dann öffne ich sie wieder. Ich flehe Mutter und Vater Erde an, meine Heimat, ein Land, in dem ich nicht nur lebe, aber das ich auch umsorgen möchte. Ich flehe Mutter Natur an, die milde und barmherzige. Und bin voller Dank. Voller Dank. Und noch einmal voller Dank.