Gesellschaft | Corona Home Story

“Covid-19 ist nicht ISIS”

Christian Giacomuzzi kriegt in Paris die Auswirkungen der Corona-Krise hautnah zu spüren. “An den 12. März wird sich jeder in Frankreich erinnern.”
Christian Giacomuzzi
Foto: Privat

Wie (er-)leben Menschen anderswo die Corona-Krisensituation? Wir haben nachgefragt. Heute: Christian Giacomuzzi aus Paris. Der gebürtige Bozner, Jahrgang 1966, hat nach dem Jusstudium in Florenz und Innsbruck seine Tätigkeit als Berufsjournalist 1991 bei der Bozner Redaktion der Nachrichtenagentur ANSA begonnen. Von 1995 bis 2013 war er Frankreich-Korrespondent der österreichischen Nachrichtenagentur APA. 2014 gründete er die Agentur für Stadt- und Museumsbesuche My Super Paris, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau Kristina leitet. Er unterrichtet Politikwissenschaft und Journalismus an der HEIP (Hautes Études Internationales & Politiques) in Paris.

 

Es wird wohl einer jener Tage bleiben, von denen sich jeder in Frankreich erinnert, wo er zu dem Zeitpunkt war. Ich hielt an jenem 12. März gerade eine Vorlesung an der Uni, als einer der Studenten mir kurz nach 20 Uhr sagte, dass wir uns das nächste Mal wohl nicht mehr sehen würden. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte in einer TV-Ansprache in vereinten Kanälen gerade angekündigt, dass wegen der Coronavirus-Pandemie ab 16. März alle Kindergärten, Schulen und Universitäten geschlossen bleiben. Kaum war der Stichtag da, als Macron schon eine zweite Schicht drauflegte: Seit dem 17. März um 12 Uhr darf niemand mehr seine Wohnung verlassen, außer wenn es seine Arbeit erfordert, wenn man Lebensmittel oder Medizinen einkauft, oder wenn man einen Einzelsport in unmittelbarer Nähe seines Wohnorts betreibt (sprich Jogging). Geöffnet bleiben nur noch Supermärkte, Apotheken, Banken, Postämter, öffentliche Verkehrsmittel und Tabakläden.

Alle hatten es geahnt, niemand wollte daran glauben: Nun hatten wir, was die Menschen in Frankreich eine Situation à l’italienne nennen: Eine generelle Ausgangssperre trat in Kraft. Was es bedeutet, eine Millionenstadt dicht zu machen, das hatten uns schon vordem die Beispiele in Wuhan und Mailand gezeigt. Aber was es bedeutet, zwölf Millionen Bürger der Pariser Region Ile-de-France in die eigenen vier Wände zu zwingen, das war eine große Unbekannte.

Die seit Langem andauernde Einschränkung der Bewegungsfreiheit wegen Terrorismus und Sozialprotesten erklärt wohl auch die zaghafte und teilweise rebellische Reaktion auf die Ausgangssperre.

Wir Pariser (ich zähle mich als ein seit 25 Jahren hier Lebender dazu) sind schon seit Jahren mit großen Mobilitätsproblemen konfrontiert. Es begann am 7. Jänner 2015 mit der Terrorattacke auf die satirische Zeitschrift „Charlie Hebdo“, bei der zwölf Personen, meist Journalisten, getötet wurden. Am 13. November 2015 folgte die Terrorattacke auf den Konzertsaal Bataclan und die umliegenden Lokale, die insgesamt 130 Menschenleben forderte. Die Liste der islamistischen Anschläge in der Seine-Metropole setzte sich bis zum vergangenen Oktober fort, als ein zum Islam konvertierter Polizeibeamte im Hauptquartier der Präfektur vier Kollegen mit einem Messer tötete.
Zur Terrorwelle gesellten sich schon bald die sozialen Proteste. Ausgelöst durch eine geplante Anhebung der Dieselpreise im Oktober 2018, hat die spontane Bürgerbewegung „Gelbe Westen“ Monate lang jeden Samstag Frankreich und insbesondere Paris blockiert: geschlossene Geschäfte und Restaurants, geschlossene U-Bahn, Vandalenakte und Massenplünderung in den Kaufhäusern. Als die Bewegung im vergangenen Herbst langsam abzuflauen begann, wurde sie durch einen Generalstreik gegen die von Präsident Macron geplante Altersrentenreform abgelöst. Von Anfang Dezember 2019 bis Mitte Jänner 2020 mussten die Franzosen wieder mal ohne Eisenbahn leben und die Pariser auch noch ohne öffentliche Nahverkehrsmittel.

Die soziale Lage hatte sich gerade etwas beruhigt, als am 24. Jänner die ersten drei Coronavirus-Fälle in Frankreich gemeldet wurden. Der erste Todesfall betraf einen 80-jährigen chinesischen Touristen, der im Pariser Krankenhaus Bichat ablebte. Man hätte noch denken können, dass alle Fälle „importiert“ seien, aber dann erlosch auch diese Hoffnung: Am 25. Februar starb nach Angaben des französischen Gesundheitsministeriums der erste mit Covid-19 infizierte Franzose, ein 60-jähriger Lehrer. Mittlerweile wurden in Frankreich etwas mehr als 16.000 Personen infiziert, 674 Patienten verstarben seit Beginn der Epidemie.     

Unsere Firma hat seit Ende Februar keine neue Rechnung mehr ausgestellt.  

Die seit Langem andauernde Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Frankreich und in Paris wegen Terrorismus und Sozialprotesten erklärt wohl auch die zaghafte und teilweise rebellische Reaktion auf die Ausgangssperre. An sonnigen Tagen füllten sich die Parks der französischen Hauptstadt und die Promenaden am Seine-Ufer mit zahllosen Spaziergängern, Familien-Picknicks wurden auf den grünenden Wiesen unter den Knospen der Kirschbäume organisiert, die Märkte waren gleich voll wie die Supermärkte und auf den Champs-Élysées flanierten die Pariser wie immer im Frühjahr mit besonderer Vorliebe. Man musste den Menschen erst mal zu Bewusstsein bringen, dass der Virus kein Terrorist ist. Gegen ISIS kann man Widerstand machen, indem man „normal“ weiterlebt und zeigt, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Covid-19 ist der psychologische Widerstand egal und hat als einziges Ergebnis eine Zunahme der Ansteckungen. Was die Regierung als eine Schutzmaßnahme verstanden wissen wollte, interpretierten die Pariser zunächst als Einschränkung des Freiheitsrechts.

Daher die Entscheidung der Behörden, immer härter durchzugreifen. Zwischen 130 und 1.500 Euro Strafe für jeden Bürger, der ohne Grund und ohne ausgedruckter Selbstbescheinigung auf offener Straße ertappt wird. Bis Sonntagabend erhielten mehr als 91.000 Bürger ein solches Strafgeld. Für Wiederholungstäter sind bis zu sechs Monate Haft vorgesehen. Geschlossen sind in Paris nunmehr Parks, Promenaden, Spielplätze und natürlich alle öffentlichen Lokale. Nach und nach fielen die Pariser Wahrzeichen ins Netz der Verbote: Das Louvre – mit etwa zehn Millionen Eintritten pro Jahr das meistbesuchte Museum der Welt – schloss seine Tore gleich wie der Eiffelturm für eine „unbefristete Dauer“. Als dann auch noch die Schließung der externen Grenzen der Schengen-Zone dazu kam, bedeutete dies das Aus für den Tourismus in Paris. Als Betreiber der Tourismus-Agentur für Stadt- und Museumsbesuche „My Super Paris“ kann ich ein Lied davon singen. Fast alle Reservierungen von März bis Juni wurden storniert, nur 5 Prozent der Kunden verlegten die Buchung. Unsere zwölf Mitarbeiter sind im „chômage technique“, eine temporäre Form der Arbeitslosigkeit, bei welcher der Staat 84% des Lohns garantiert. Die kategoriellen Arbeitgeber-Organisationen haben Solidaritätsfonds für jene unabhängigen Werktätigen eingeführt, die kein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben. Aber die Aussichten sind sehr schwarz: Unsere Firma etwa hat seit Ende Februar keine neue Rechnung mehr ausgestellt. Der Staat wird uns im April 1.500 Euro geben, wenn unser Umsatz im März 70 Prozent geringer war als in der Vergleichsperiode des Vorjahrs. Ein Tropfen ins Meer, kritisierten die Unternehmerverbände.  

Der 12. März wird wohl einer jener Tage bleiben, von denen sich jeder in Frankreich erinnert, wo er zu dem Zeitpunkt war.

Nach Angaben des Fremdenverkehrsamtes wurden im Pariser Großraum 2017 mehr als 41 Millionen Touristen empfangen. 9,2 Prozent der Lohnempfänger in der Seine-Metropole arbeiten nach den Angaben im Fremdenverkehrssektor. Der Gesamtumsatz im Gastgewerbe erreichte 3,2 Milliarden Euro. Laut Statistikamt INSEE betrafen 49% der Nächtigungen Ausländer. Paris zählt 191 Museen, 29 Cabarets (allen voran Moulin Rouge und Lido de Paris) und drei Opern, die zum großen Teil von Touristen leben und derzeit alle geschlossen sind, gleich wie die 750 Kinos und mehr als 10.000 Restaurants. Was das genau für die Pariser Wirtschaft in Zahlen bedeutet, an eine solche Schätzung hat sich bislang noch niemand herangewagt.