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Magazine und Klopapier

Corona ist eine Zäsur, beobachtet Anton Rainer in Hamburg. In den vergangenen Wochen hat er in Parallelwelten gelebt – und sein Bild von den Deutschen geändert.
Anton Rainer
Foto: Privat

Wie (er-)leben Menschen anderswo die Corona-Krisensituation? Wir haben nachgefragt. Heute: Anton Rainer aus Deutschlands Norden. Der 28-jährige gebürtige Brixner Journalist und ehemalige Redakteur der Wochenzeitung FF schreibt seit 2019 für das Wirtschaftsressort des SPIEGEL in Hamburg.

 

Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Deutschen immer für ein häusliches Volk gehalten. Nirgendwo sonst wird das heimische Sofa derart verklärt. Nirgendwo sonst kauft man so hochgezüchtete Kaffee-Vollautomaten für den perfekten Coffee to stay. Nirgendwo sonst muss Google Maps so viele Fassaden verpixeln, weil das Volk seine Wintergärten vor fremden Blicken schützen will. Ein Volk der Stubenhocker, dachte ich. Jetzt, in Krisenzeiten, stelle ich fest, dass ich mich geirrt habe.

In den vergangenen Wochen habe ich in Parallelwelten gelebt. Die eine fand auf Bildschirmen statt, sie liefen in Dauerschleife in meiner Hamburger 52-Quadratmeter-Wohnung: im Fernsehen atemlose Pressekonferenzen von italienischen und österreichischen Politiker*innen, in den sozialen Medien die Südtiroler Freund*innen und ihre Balkonmusik. Alle Zeichen auf Notstand, oder wie meine Oma mir am Telefon sagte: „Auch nicht besser als im Krieg“.

Viele „Spiegel“-Leute laufen jetzt zu Hochform auf, in Krisenlagen spüren Journalist*innen, dass man sie braucht.

Und dann war da die Welt der Deutschen, sie passierte live unter meinem Fenster. Ich sah volle Restaurants, gut bevölkerte Bars, vor Eisdielen anstehende Hipster*innen und eine plötzliche Begeisterung für den nachmittäglichen Espresso außer Haus. Hätte ich nicht vier Versuche gebraucht, um bei Aldi ein paar Rollen Klopapier zu ergattern – ich hätte von der angeblichen Angst der Deutschen vor dem Virus nix mitbekommen.

Seit vergangenem Freitag ist das anders. Endlich diskutiert auch Hamburg über Maßnahmen, die in Südtirol seit Wochen gelten: Restaurant-Schließungen, Ausgangssperren, Bad-Cop-Bürgermeister. Die Gründe sind offensichtlich: In keinem deutschen Bundesland gibt es mehr Corona-Fälle im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte. Und in keinem deutschen Bundesland gibt es sogenannte „Skiferien“, eine Hamburger Spezialität wie Fischbrötchen und Labskaus (sehr lecker, aber bitte keine Bilder googeln). Während der Rest des Landes brav arbeitet, fahren und fliegen Elbbewohner*innen seit über einem halben Jahrhundert im März in die Alpen, um im Sessellift „Moin, na?“ zu rufen und sich dann die Haxen zu brechen. Nun haben sie eben mehr von dort mitgebracht als ein paar kaputte Knochen.

 

Die Redaktion, in der ich arbeite, hat den Zusammenhang zwischen Ski- und Corona-Fieber schon etwas länger geschnallt als der Rest der Stadt. Seit dem 13. März arbeiten meine Kolleg*innen und ich im Home-Office. Das bedeutet, dass das „Spiegel“-Haus mit seinen hunderten Mitarbeiter*innen derzeit nahezu verwaist ist. Der Mensa-Chef, ein eleganter Herr mit dem klingenden Nachnamen „Freeman“, lädt im Intranet zum Nachkochen bekannter Kantinengerichte in den eigenen vier Wänden ein. Meine Vorgesetzten schicken Durchhalteparolen („In den Supermärkten werden unsere Hefte fast so stark nachgefragt wie Klopapier“) per Mail. Und viele „Spiegel“-Leute laufen jetzt zu Hochform auf, in Krisenlagen spüren Journalist*innen, dass man sie braucht. Monothematische Hefte, wie wir sie derzeit schreiben, gab es bisher nur dreimal in der Geschichte des Magazins: Nach der Verhaftung Rudolf Augsteins 1962, nach dem Mauerfall 1989 und nach dem 11. September 2001. Corona ist eine Zäsur, auch in der deutschen Pressegeschichte.

Elbbewohner*innen fahren und fliegen seit über einem halben Jahrhundert im März in die Alpen, um im Sessellift „Moin, na?“ zu rufen und sich dann die Haxen zu brechen. Nun haben sie eben mehr von dort mitgebracht als ein paar kaputte Knochen.

Die Krankheit prägt dazu das Bild, das Hamburgs Bevölkerung von den Alpen hat. Im Moment fällt es schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der man hier wieder entspannt in die Skiferien fährt. Als (Süd)-Tiroler waren wir den Hamburger Ureinwohner*innen bisher sofort sympathisch, die meisten können Geschichten aus ihrer Jugend erzählen, vom ersten Pistenschwung, vom „Anton aus Tirol“, vom Rausch beim Après-Ski. Das war mal, der Blick durch die rosarote Skibrille ist jetzt getrübt. Die Berichte aus den verseuchten Party-Bars in Ischgl haben das schunkelige Bild von Nordtirol gestört, die harsche Kritik am Robert-Koch-Institut jenes von Südtirol. Man will sich gar nicht vorstellen, was in beiden Regionen los ist, wenn die Deutschen in Zukunft tatsächlich zu jenem häuslichen Volk mutieren, für das ich sie immer hielt – und ihre vier Wände einfach nicht mehr verlassen. Genügend Klopapier hätten sie dafür.

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Christoph Moar Do., 26.03.2020 - 16:23

Herr Rufer,
bei allem geduldigen Verständnis für Vielkommentatoren (und, zu diesem Thema, sind sie einer), aber jetzt verstehe ich langsam auch nicht mehr ihren Punkt. Wie genau ist uns der Virus zwei Wochen voraus, was soll der Satz eigentlich aussagen? Was tut der Virus heute, und wieso sind wir zwei Wochen hinten? Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht die Aussage hinter Ihrer einleitenden Bemerkung.

Und im Allgemeinen möchte ich hinzufügen - ohne Ihnen allzu nahe zu treten (was wir grade eh nicht sollten) - dass der Ton Ihrer Kommentare in meinen Augen schwer untergangsprophetisch wirkt: So kurze negative Stakkati wie Ihr Kommentar hier oben wirken auf mich auf Dauer etwas deprimierend. Man wäre geneigt hinzuzufügen "ja, und, was ist jetzt Ihr Vorschlag in dieser Situation?"

Do., 26.03.2020 - 16:23 Permalink
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Hartmuth Staffler Do., 26.03.2020 - 23:09

Das Wesentliche an diesem interessanten Beitrag von Anton Rainer ist doch, dass man auch in Hamburg mitbekommen hat, was in Südtirol schief gelaufen ist. Anstatt die Warnung des Robert-Koch-Institutes ernst zu nehmen, hat man dagegen protestiert. Darüber sollte man sich in Südtirol selbstkritische Gedanken machen.

Do., 26.03.2020 - 23:09 Permalink