Politik | Frankreich Wahl 2017

Hochspannung und Ungewissheit

Formal werden am Sonntag zwei Kandidaten für die Stichwahl gewählt, de facto aber schon der neue Präsident. Der Anschlag in Paris macht den Ausgang noch unvorhersehbarer.
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Foto: upi
Aus der Psychologie wissen wir, dass tiefe seelische Wunden äußerst schwierig zu verarbeiten sind, dass es dazu viel Zeit braucht und dass diese Traumata durch äußere Geschehnisse augenblicklich wieder „geweckt“ werden können. Die französische Bevölkerung hatte weder Zeit noch wirksame Therapien, um die Schrecken des Terrors der jüngsten Zeit – 239 Tote und Hunderte Verletzte in zwei Jahren - zu verarbeiten. Die Auswirkungen des Attentats auf den Champs-Élysées sind deshalb nicht zu unterschätzen, die Angst ist zurück. Aber wie sehr kann und wird diese Angst das Verhalten der Wähler beeinflussen? Schwer zu sagen. Fest steht jedenfalls, dass die Themen Sicherheit, Terror, Islamismus und Migration wieder ins Zentrum aller Debatten gerückt sind. Im bisherigen Wahlkampf waren lediglich Marine Le Pen und in abgeschwächter Form der konservative Francois Fillon darauf fokussiert, die linken Kandidaten widmeten sich primär den Themen, Wirtschaft, Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Umwelt.
 

Starke Frau oder starker Mann?

 
Dementsprechend nützten sowohl Le Pen als Fillon den neuerlichen Anschlag, um ihre Positionen noch einmal in verschärftem Ton zu verkünden. So würde die Chefin des Front National als Präsidentin sofort die Schließung der französischen Grenzen anordnen. Sämtliche Nicht-Staatsbürger, die in der rund zehntausend Namen umfassenden Kartei der Sicherheitsbehörden mit „S“ - als zu beobachtende und überwachende Gefährder – aufscheinen, würde sie unverzüglich abschieben, ebenso sämtliche straffällig gewordenen Ausländer (wohin sagt sie nicht). Zudem sollten alle Moscheen, Gebetshäuser und Vereine, die im Ruf stehen Salafisten und Islamisten nahe zu stehen, verboten werden.
 
Der rechte Fillon fordert ebenso ein noch härteres Durchgreifen des Staates als es im derzeit geltenden Ausnahmezustand ohnehin praktiziert wird. Und Le Pen sogar übertroffen hat der profiliert konservative Katholik in seiner Anklage des Islamismus, wobei er auch eine stärkere militärische Beteiligung am „Krieg gegen den islamischen Terror“ vom Nahen Osten bis nach Afrika fordert. Bleibt abzuwarten, wer bei verängstigten Wählern in diesem Sicherheitswettlauf glaubwürdiger abschneidet, die starke Frau oder der regierungserfahrene starke Mann. Die linken Kandidaten geben sich zwar auch entschlossen und staatstragend, sind aber hauptsächlich bemüht, die Menschen mit Appellen gegen Hysterie und Panikmache zu beruhigen.
 

Vierkampf im Zeichen der Polarisierung

 
Aber auch wenn sich jetzt der Terror sozusagen selbst in den Wahlkampf „eingeladen“ hat, wurden in den vergangenen Monaten schon zwei Tendenzen klar. Zum einen wurden die traditionellen Parteien zutiefst erschüttert. Alle fünf Kandidaten, die ursprünglich zumindest Aussichten auf den Einzug in die Stichwahl haben konnten, sind entweder Außenseiter der etablierten Parteien oder haben sich von diesen losgesagt. Zum anderen ist es sowohl im linken wie im rechten Lager zu einer deutlichen Zuspitzung und Radikalisierung gekommen. Bei den Vorwahlen der Konservativen hat der radikal thatcheristische Francois Fillon die üblichen Parteigranden ins out gedrängt. Dann hat er die Partei durch den Skandal um die Scheinbeschäftigung seiner Frau auf Kosten der Steuerzahler schwer diskreditiert.
Die Linke hat sich im Streit über Personen und Ausrichtung der Politik zerfleischt. Der scheidende Präsident Francois Hollande verzichtete aufgrund des absoluten Popularitätstiefs konsequenterweise auf eine neuerliche Kandidatur. Bei den Vorwahlen seiner regierenden Sozialdemokraten kürte die Parteibasis von acht Kandidaten den radikalen Öko-Linken Benoit Hamon mit seinen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, der 32-Stunden-Arbeitswoche und hoher Besteuerung von Superprofiten. Mit knapp 8% in den Umfragen ist die Regierungspartei aus dem Spiel.
 
Stattdessen stieg der weit radikalere und rhetorisch volksnahe Kandidat der Linksfront Jean-Luc Mélenchon in wenigen Wochen in den Umfragen von 12 auf 19-20%. Die von ihm geforderte Wende hat schon eher was von Revolution: 200 Milliarden Euro vom Staat zur Ankurbelung der Konjunktur, Pensionsrecht wieder mit 60 statt 62 Jahren, höhere Mindestlöhne und stärkere progressive Besteuerung – bis hin zu 90% für Einkommensteile über 400.000€ im Jahr; Neuverhandlung der EU-Verträge und Ausstieg aus der Nato, Dialog mit Putin.
Favorit sämtlicher Umfragen bleibt mit 23-24% jedoch das liberale Mitte-Links-Wunderkind der französischen Politik Emmanuel Macron. Absolvent der Eliteschulen, Investmentbanker und Finanzminister Hollandes, steht Macron mit seiner wie ein start-up gegründeten Bewegung „En marche!“ für ein begeistertes Ja zur EU. Rechts und Links will er zugunsten einer „neuen Mitte“ überwinden. Flexibilisierung der Wirtschaft, mehr Mobilität und Offenheit seien das Gebot in Zeiten der Globalisierung – natürlich sozial abgefedert.
 

Prognosen und Szenarien

 
Aber was ist, wenn…? Über diese Fragen diskutieren nicht nur Meinungsforscher, Politologen, Wahlkampfstrategen und Journalisten, sondern auch die Leute im Bistrot oder in der Familie.
Was ist, wenn infolge des neuerlichen Terrors noch weniger Leute zu den Urnen gehen als ohnedies befürchtet? Was, wenn viele Unentschlossene (an die 25%) sich doch von den Anti-Islam-Parolen Marine Le Pens und Fillons stärker angezogen fühlen als von den Globalisierungs-Kritiken der Linken? Was, wenn der zwar charismatische Medienliebling, aber doch sehr junge und unerfahrene Macron vielen in einer solchen Krisenstimmung nicht genug „starker Mann“ ist?
 
Ja, was ist wenn nicht – wie von allen Umfragen seit Wochen prognostiziert – das Duell in der Stichwahl Le Pen – Macron lautet, sondern Fillon-Macron? Immerhin trennen Le Pen und Fillon in den letzten Umfragen nur mehr 3%? Und was, wenn überraschenderweise Mélenchon der Marine gegenüber stehen würde? Würden dann die konservativen Wähler wirklich für den Linksaußen stimmen, oder einfach zuhause bleiben?
Trotz aller Ungewissheiten sagen sämtliche Umfragen auch für diesen unwahrscheinlichen Fall eine Niederlage Le Pens voraus. Insofern kann man davon ausgehen, dass schon am Sonntag und nicht erst am 7. Mai der nächste französische Präsident feststeht, egal ob er Macron, Fillon oder gar Mélenchon heißen wird.