Gesellschaft | Gastkommentar

Aus dem Land der vergessenen Familien

Von Delfinen in Venedig, inneren Konflikten einer Frau, Mutter, Partnerin, Lehrerin und dem Schrei nach Normalität!
Familie
Foto: Sandy Millar on Unsplash

Es ist 9.03 Uhr. Mein 2,5-jähriger Sohn duscht und ich nutze die Gunst der Stunde. 10 Minuten, in denen ich das tun kann, wonach mir gerade ist. Ich sitze vor dem PC und muss meine Gedanken einfach zu Papier bringen, denn in meinem Kopf stauen sie sich an. Sie überfluten mich regelrecht. Seit 7 Wochen leben wir im Ausnahmezustand. Ich möchte das V. Wort nicht in den Mund nehmen, denn schon lange ist dieses V. nicht mehr mein Hauptproblem.

Mein Leben habe ich bis jetzt immer selbstbestimmt geführt. Ich habe mich bewusst für ein Studium entschieden, ich bin bewusst gereist, ich habe mich bewusst für einen wunderbaren Job entschieden und anschließend bewusst ein Kind in die Welt gesetzt. Schon immer war es mir wichtig, Familie und Beruf wertvoll miteinander zu verbinden. Einerseits weil ich mich als Frau entfalten möchte, andererseits weil ich bewusst einen wundervollen Mann gewählt habe, der diese Ideologie mit mir teilt.

Ich weiß, dass meine Gedanken dem Segment „Luxusprobleme“ zugeordnet werden können. Doch das ist mir egal, denn das sind meine Gedanken und diese darf mir niemand nehmen.

Heute, 22. April, sieht die Situation folgendermaßen aus: Mein Mann arbeitet seit dieser Woche wieder 12 Stunden pro Tag auf der Baustelle. Er darf raus! Darf seinem Job nachgehen, sich mit Erwachsenen unterhalten und dafür beneide ich ihn. Ich bin ihm nicht böse, aber ich beneide ihn. Gestern Abend erzählte er mir mit einem Lächeln auf dem Gesicht davon, dass Frauen Pausenboxen für die Männer vorbereiten, die in kein Restaurant dürfen und sie sich anschließend überraschen lassen, was sich darin befindet. Er sieht mich an, ich schüttle mit dem Kopf und er weiß, was ich gerade denke. Im nächsten Moment ertappe ich mich dabei, wie ich im die Brote für den Tag danach schmiere. Was ist mit mir passiert? Schon diese Tatsache bringt mich in einen inneren Konflikt. Um 9.00 Uhr habe ich mit meinem Sohn bereits 4 Mal Lotti Karotti gespielt, ihm Frühstück gemacht und die Wäsche gemacht. Nun wartet mein Job auf mich. Ich bin Lehrerin. Eine Debatte darüber möchte ich gar nicht führen. Seit Wochen zirkulieren Hasstiraden auf sozialen Netzwerken. Es wird um Solidarität gebeten, doch leider erfahren wir wenig Solidarität. Viele von uns bemühen sich, sitzen stundenlang vor PC, Handy und Videokonferenzen. Viele von uns versuchen Eltern und Schüler*innen gerecht zu werden. Und viele vergessen dabei, dass auch wir kleine Kinder und arbeitende Partner zu Hause haben. Der nächste innere Konflikt: Wie werde ich einer Situation gerecht, die nicht gerecht ist? Unterschiedliche Realitäten mit unterschiedlichen Voraussetzungen und mit jeder Woche, die verstreicht, stehen Familien vor größeren Scherbenhaufen. Der Staat ignoriert das Problem Kinderbetreuung, das Land versucht, aber darf/kann nicht. Wir diskutieren darüber, was im Sommer passieren soll, doch was machen wir bis zum Sommer? Der nächste innere Konflikt: Warum ist Familienpolitik weniger Wert als die wirtschaftlichen Interessen? Warum haben Familien keine Lobby, die für deren Rechte einsteht? Warum müssen wir diese Debatte im 21. Jahrhundert eigentlich führen?

Im nächsten Moment ertappe ich mich dabei, wie ich im die Brote für den Tag danach schmiere. Was ist mit mir passiert?

Meine Familie steht für Gleichstellung. Wir haben diese gelebt, wir haben uns Rahmenbedingungen geschaffen wo sich jeder frei entfalten darf und wir dennoch wertvolle Zeit zu dritt haben. Nun leben wir ein Rollenbild aus vergangener Zeit. Und ich kann nur sagen: Es gefällt und erfüllt mich nicht. Ich werde meinen Ansprüchen nicht mehr gerecht, mein Alltag ist geprägt von Wut, Starre, Hoffnung und Resignation. Nein, wir haben keine finanziellen Sorgen und ja, ich weiß, dass meine Gedanken dem Segment „Luxusprobleme“ zugeordnet werden können. Doch das ist mir egal, denn das sind meine Gedanken und diese darf mir niemand nehmen. Ganz nebenbei ist es mir auch egal, dass Delfine in Neapel und Quallen in Venedig gesichtet wurden.

Wie werde ich einer Situation gerecht, die nicht gerecht ist?

Die Duschzeit ist vorbei, mein Sohn ruft und um 9.30 Uhr beginnt meine Videokonferenz mit meinen Schüler*innen, auf die ich mich sehr freue. Wie ich das mache? Der pinke Panther im Fernsehen springt als Babysitter ein (er fällt nämlich in die Kriterien des 600-Euro-Babysitter-Bonus) und lässt mich abschließend zum wohl letzten inneren Konflikt kommen. Nämlich dem Umgehen von Erziehungsprinzipien, die ich bis dato sehr wohl hatte und konsequent verfolgt habe. Es ist 9.29 Uhr und ich hoffe inständig darauf, dass dies alles nur ein Traum ist, woraus ich schnell wieder erwache.

 

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Michael Bockhorni Do., 23.04.2020 - 11:04

die Allianz für Familie bemüht sich gemeinsam mit dem KFS in den letzten Wochen intensiv diesbezüglich Bewegung in die Politik zu bringen. In den letzten Gesprächen mit LR Deeg und LR Achammer wurde ein Corona- Familien-Krisenkatalog (CFK) mit Lösungsvorschlägen übergeben. Einige Punkte sind schon in Umsetzung, u.a. auch ein "Krisenstab Familie": https://www.forum-p.it/de/familien-brauchen-schnelle-loesungen--1-3079…

Do., 23.04.2020 - 11:04 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Do., 23.04.2020 - 12:56

>Nun leben wir ein Rollenbild aus vergangener Zeit. Und ich kann nur sagen: Es gefällt und erfüllt mich nicht<
Ich verstehe, dass Sie sich nicht gerade in Ihrem Element fühlen, aber das geht einige Wochen, vielleicht Monate, aber doch nicht für länger, oder sogar für immer. Also cool bleiben, und wenn das Ihr einziges Problem ist, sich auf die Zukunft freuen, das wird schon.

Do., 23.04.2020 - 12:56 Permalink
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Profil für Benutzer Sepp.Bacher
Sepp.Bacher Do., 23.04.2020 - 14:22

"Die Umwelt- und Familienpolitik spielt eine untergeordnete Rolle......" Diese Liste ließe sich fortsetzen: Senioren, Alleinerziehende, Gastarbeiter, Diverse, usw. es gibt so viele Gesellschaftsgruppen, denen kein oder nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien!
Heute habe ich im Radio wieder von den Forderungen des HGV gehört. Logisch sind ihre Forderungen aus ihrer Sicht gerecht; aber warum kümmert sich kaum jemand - zumindest nicht mit "lauter Stimme" - für die Probleme der Angestellten im Gastgewerbe und andere Gruppen von Lohnabhängigen, welche auch eine schwierige Fase haben. Wahrscheinlich sind viele nicht gewerkschaftlich organisiert, aber auch von den Gewerkschaften fehlt die "laute Stimme"! Auch politisch haben die Werktätigen kaum eine Stimme. Nicht einmal in den Oppositionsparteien!

Do., 23.04.2020 - 14:22 Permalink