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Studentische Gewalt

Der Historiker Martin Göllnitz referierte in Bozen über "Studentische Gewalt" nach dem Ersten Weltkrieg. Grund genug für ein friedliches Gespräch mit ihm.
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Foto: Salto.bz

salto.bz: Sie haben das jüngste Heft der Zeitschrift „Geschichte und Region / Storia e regione“ zum Thema „Studentische Gewalt“ herausgegeben, haben die aktuelle Ausgabe nun in Bozen vorgestellt, sowie eine Einleitung der Ausgabe vorangestellt. Welche Einblicke bieten die verschiedenen Beiträge?

Martin Göllnitz: Die verschiedenen Beiträge beleuchten ganz unterschiedliche Formen studentischer Gewalt in Italien, Deutschland und Mazedonien, wobei zweierlei deutlich wird: Zum einen war die Gewalt vorwiegend männlich geprägt, wenn auch nicht ausschließlich. So haben in Mazedonien auch Frauen zu den Waffen gegriffen und sind mit brutaler Härte für ihre Überzeugungen eingetreten. Zum anderen wird am Beispiel ausgewählter Regionen sichtbar, dass Gewalthandlungen vor allem in ländlichen Bereichen wie dem norddeutschen Rostock oder dem norditalienischen Trient in hohem Maße an der Tagesordnung waren, wobei vielfach die extreme Rechte als Aggressor auftrat.

Woher rührt Ihr Interesse für die Thematik Gewalt?

Als Historiker stellt man sich ja ganz automatisch immer auch die Frage nach der eigenen akademischen Herkunft. Gerade die Kieler Universität, wo ich studiert habe und promoviert wurde, galt lange Zeit als nationalsozialistische „Musteruniversität“, deren Studierende besonders radikal und militant waren. Ich fand es daher spannend zu fragen, ob das stimmt und warum Kiel eine besondere Rolle einnahm. Meine Recherchen haben dann aber gezeigt, dass wir dieses Verhalten eigentlich an allen deutschen Hochschulen in der Zwischenkriegszeit und darüber hinaus auch in Italien, Österreich und den osteuropäischen Staaten finden.

 

In Ihrer Forschung sprechen Sie von der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“, die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg durch eine erhöhte Gewaltbereitschaft auffällt. Woher kam der Hass und gegen wen richtete er sich?

Diese erhöhte Gewaltaffinität lässt sich nicht monokausal erklären, sondern rührt aus ganz unterschiedlichen Ursachen. Da wären natürlich zuerst die Kriegsniederlage und der Versailler Vertrag zu nennen, der von der Jugend als „Schandfrieden“ und „Diktat“ der Siegermächte betrachtet wurde. Auch der Zusammenbruch der Ordnung, die Schmach der französischen Besatzung im Rheinland und der Aufstand der Massen, sinnbildlich durch die von Arbeitern und Matrosen getragene Revolution verkörpert, spielten dabei eine Rolle. Viele gebildete Angehörige der Kriegsjugendgeneration, die den Krieg nur aus der Ferne kannten, fühlten sich um ihre Zukunft betrogen und fürchteten, ihr Vaterland könnte bald dem Bolschewismus zum Opfer fallen. Eine surreale Angst, die in weiten Teilen Europas greifbar wird. Das erklärt auch, warum in erster Linie Kommunisten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht oder jüdische Politiker wie Walter Rathenau das Ziel rechtsterroristischer Attentate wurden. Sie verkörperten aus Sicht des völkisch-nationalen Lagers die Bedrohung einer „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“.

Wer radikalisierte die Studentenschaft? Welche Rolle spielten Medien, welche Rolle Burschenschaften?

Es gehört zu den Besonderheiten der studentischen Gewalttäter, dass sie gar nicht erst „von oben“ gesteuert oder radikalisiert werden mussten, sondern sich quasi selbst radikalisierten und für ihre völkisch-nationalen bzw. faschistischen Weltanschauungen mobilisierten. Hier hatten sie getreu dem Motto der Hitlerjugend, „Jugend führt Jugend“, das Gefühl, endlich Gehör zu finden und die Tagespolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wie auch zu anderen Zeiten und in verschiedenen Gesellschaften besaßen Medien als „Meinungsmacher“ in diesem Zusammenhang freilich eine enorm wichtige Funktion, da sie die Aktionen der Studierenden propagandistisch begleiteten, fokussierten und im Nachgang von Gewalthandlungen auch verteidigten. Welche Rolle die Korporationen und Verbindungen, wozu ja die Burschenschaften gehören, in diesem Prozess einnahmen, ist noch nicht gänzlich geklärt. Natürlich waren viele Gewalttäter der Zwischenkriegszeit Mitglied in einer solchen Organisation, aber das verwundert eben nicht wirklich, da etwa die Hälfte der deutschen und österreichischen männlichen Studenten zu dieser Zeit einer Korporation angehörten. Daneben beteiligen sich außerdem sehr viele Freistudenten, die in keiner Verbindung waren, an den terroristischen Handlungen, etwa die Mörder des deutschen Außenministers Walter Rathenau.

 

Sie haben in Ihrem Vortrag auch ein gewaltbereites Beispiel aus Innsbruck erläutert…

Gerade in Innsbruck finden wir ein sehr aufschlussreiches Beispiel für grenzüberschreitende Gewaltmobilität in der frühen Nachkriegszeit. Etwa 40 Studenten der Innsbrucker Universität hatten sich im Mai 1921 dem Freikorps Oberland angeschlossen, um sich in Oberschlesien an den Kämpfen gegen polnische Aufständische zu beteiligen. Zu ihnen gehörte auch der bekannte österreichische Heimwehrführer und Student der Nationalökonomie Ernst Rüdiger Starhemberg. In seinen Lebenserinnerungen schildert er detailliert die Nachkriegssituation in Tirol und Innsbruck, wo eine großdeutsche Stimmung unter der Bevölkerung überwog, weshalb der tägliche Anblick der dort stationierten italienischen Soldaten „als brennende Schmach“ empfunden wurde, die das „vaterländische Selbstbewußtsein in hohem Maße aufrüttelte“. Den Aufruf des Freikorps Oberland zum Einsatz in den oberschlesischen Gebieten verstanden er und seine Kommilitonen offenbar als nationale Pflicht. So schlugen die Tiroler Studenten am 2. und 3. Juni bei Licinia eine polnische Übermacht zurück und eroberten wenige Tage später, am 5. Juni, nach erbitterten Straßenkämpfen die Stadt Kandrzin, wobei zumindest ein Student ums Leben kam.

1922 wurde der Lehrer Franz Innerhofer von Faschisten in Bozen ermordet. Steht diese Gewalttat im Kontext zu vielen anderen faschistisch motivierten Gewaltverbrechen dieser Zeit?

Das ist schwer zu sagen, da die faschistische bzw. nationalsozialistische Gewalt sich stetig radikalisierte und an Brutalität im Laufe der Zeit erst zunahm. Blicken wir zum Beispiel auf das Verhalten der nationalsozialistischen Sturmabteilung zwischen 1925 und 1933, so fällt auf, dass das Ziel der Gewalt nicht die physische Eliminierung des Gegners war. Vielmehr sollten provisorische Waffen wie Stuhlbeine, Zaunlatten oder auch Gummiknüppel die eigene Stärke betonen und den Feind einschüchtern. Die eingesetzte Gewalt war daher zumeist begrenzt und forderte selten Todesopfer. Wenn wir dagegen die Jahre 1919-21 betrachten, dann haben wir es mit durchaus ähnlichen Gewaltaktionen bei den nationalistischen Freikorps zu tun, die den bolschewistischen Gegner enthumanisierten und ihre Gegner äußerst grausam behandelten. Insbesondere die bestialische Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verdeutlicht dies.

Wie lassen sich die Gewaltphänomene im deutschsprachigen Raum der Nachkriegsjahre mit anderen Ländern vergleichen?

Es ist interessant zu sehen, dass die Gewalt vielfach transnational motiviert war und auch umgesetzt wurde. Die einzelnen Gewalttäter, unabhängig ob sie nun aus Italien, Mazedonien, dem Baltikum oder den deutschsprachigen Ländern kamen, waren bestens miteinander vernetzt und agierten teilweise auch gemeinsam. Sie profitierten von ihren Erfahrungen und unterstützten sich gegenseitig, beispielsweise wenn jemand nach einem Anschlag ins Ausland fliehen musste. Ansonsten gibt es kaum maßgebliche Unterschiede, wie der Fall des armenischen Studenten Soghomon Tehlirian zeigt, der am 15. März 1921 den ehemaligen Innenminister des Osmanischen Reiches, Talat Patscha, in Berlin erschoss. Als transnationales und globales Phänomen lebt der Terrorismus ja bekanntlich davon, dass er praktisch überall anwendbar ist, unabhängig ob er nun religiös, politisch oder ökologisch motiviert ist.

 

Wie ist es zu erklären, dass nach den vielen Toten im Ersten Weltkrieg, der gewaltbereite Faschismus in vielen Dörfern und Städten Anklang findet?

Weil der Faschismus, so unangenehm es klingt, damals für viele schlicht attraktiv war. Er stellte ein alternatives politisches Ordnungsmodell dar, das in Zeiten der beginnenden Gleichstellung von Frauen, einer unklaren Zukunft und angeblich demokratischer Gleichmacherei die angeblich heile Welt eines virilen Männerstaates versprach, der überwiegend von charismatischen und jungen Männern, die lieber handelten als debattierten, geführt wurde. Hitler und Mussolini ließen sich in der Propaganda ja auch gerne als „Männer der Tat“ porträtieren, die Schreiberseelen verachteten. Wir haben es hier also mit einem Generationenkonflikt zu tun: Jung gegen Alt, radikal gegen konservativ, national gegen republikanisch.

Die linken Intellektuellen und Studenten gehen in den 1920er Jahren gern zu Boxveranstaltungen oder steigen selbst in den Ring. Weshalb ist die Gewaltbereitschaft auf der Straße besonders am politisch rechten Rand dermaßen ausgeprägt? Wer keine Argumente hat, bedient sich der Gewalt...

So strikt können wir hier gar nicht trennen. Denn im Gegensatz zu den Kommunisten respektierten die Nationalsozialisten die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit während der Weimarer Republik zumeist, wohingegen ihre Gegner sich über diese wiederholt hinwegsetzten und dabei der Polizei erheblichen Widerstand leisteten. So erschienen die Kommunisten in der bürgerlichen Öffentlichkeit dann auch als gefährliche Unruhestifter. Dagegen avancierten die Nationalsozialisten zum „Bollwerk bürgerlicher Respektabilität“, die gegen den inneren Feind bereitwillig ihr Leben opferten und die im gewaltsamen Konflikt mit dem verhassten kommunistischen Gegner ihren Teil zur Rehabilitierung der durch Kriegsniederlage, Novemberrevolution und Versailler Vertrag gedemütigten deutschen Nation beitrugen. Die „Politik der Straße“, d.h. die Gewalt im öffentlichen Raum, war während der Zwischenkriegszeit zudem ein legitimes Mittel der politischen Meinungsäußerung. Sämtliche Parteien verfügten bekanntlich über eigene Kampfverbände, nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die Kommunisten und Sozialdemokraten. Letztlich war die Faust im Gesicht des politischen Gegners ein fast unschlagbares Argument, wenn es darum ging, den eigenen Machtanspruch zu vertreten.