Gesellschaft | Gastkommentar

Niemanden zurücklassen!

Wer liegt bei uns in Südtirol am weitesten zurück und wer in Europa? Für diese Menschen möchte ich eine verpflichtende Solidarität einfordern.
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Foto: Bozen solidale

Was ist das Gegenteil von Konkurrenz? Richtig, die Solidarität. Jene solide Haltung und Verbundenheit mit Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Und die Solidarität impliziert ein Prinzip der Mitmenschlichkeit, äußert sich in gegenseitiger Hilfe und dem Eintreten füreinander. Und die Solidarität, ob fehlende oder gelebte, bleibt weiterhin Drehangelpunkt unserer Gesellschaft. Und in diesem abgelaufenen und ganz besonderen Jahr, hieß es mehr denn je Rücksicht nehmen auf die Schwächeren unter uns, sie vor schwerem Krankheitsverlauf oder gar frühzeitigem Tod zu schützen, uns zurückzunehmen in unseren Festen und Aktivitäten, auf Konsum und Gewinn zu verzichten, der Bescheidenheit Einkehr zu gewähren, auf unsere Gesundheit zu achten und dankbar zu sein, den Regierenden gegenüber, die uns mutige Einschränkungen auferlegten, um aus dieser Krise herauszukommen. Und für den unermüdlichen Einsatz unserer Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, haben wir ein herzliches Vergelt'sgott auszusprechen. Und in diesem Jahr galt es auch immer wieder einen ruhigen Kopf zu bewahren, um besonnen den Unkenrufen und der Angstmacherei trotzen zu können. Wie wir uns ans Maskentragen gewöhnt haben, so werden wir uns auch mit der Anticovid-Impfung anfreunden können, ganz im Sinne der Solidarität.

Und wir haben uns schon daran gewöhnt, dass unsere Weltanschauung ins Wanken geraten ist. Das Virus wird uns weiter begleiten, uns das Wesentliche für uns erkennen lassen. Mauern werden aufbrechen, neues Licht wird eindringen.

In diesem abgelaufenen und ganz besonderen Jahr, hieß es mehr denn je Rücksicht nehmen auf die Schwächeren unter uns

Aber wie steht es um das Camp Kara Tape auf Lesbos, wo noch immer 7.000 Menschen darauf warten, nach Europa geholt zu werden? Die schwedische EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johanssen, forderte im September nach dem Brand in Moria, die Mitgliedsstaaten bei der geplanten Asylreform zu Solidarität zu verpflichten, und zwar gegenüber Hauptankunftsländern von Flüchtlingen an den Außengrenzen. Und Johanssen sagte dem „Spiegel“: „Die EU-Länder müssen sich darauf verlassen können, dass ihnen andere EU-Länder im Notfall Flüchtlinge aufnehmen. Solidarität könne zwar auf unterschiedliche Weise geleistet werden. Um aber auch das klar zu sagen: Damit, ein paar warme Decken zu verteilen, wird es in keinem Fall getan sein.“

Und wenn wir die Problematik der mangelnden Solidarität der EU-Mitgliedsländer auf unser Land herunterbrechen, so sei daran erinnert, dass auch der Bozner Bürgermeister Renzo Caramaschi schon lange Solidarität anderer Südtiroler Gemeinden mit unserer Landeshauptstadt einfordert, insbesondere was das Thema Aufnahme von Flüchtlingen und Obdachlosen betrifft.

Die öffentliche Hand darf nicht weiter wegschauen und nicht alles auf die Schultern der Freiwilligen abladen

Auf Lesbos wie in Bozen zeigt der Wintereinbruch traurige und menschenunwürdige Bilder. In Kara Tape und in anderen Flüchtlingslagern sind es vor allem Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige, die eines positiven Asylbescheides harren. Im Bozner Zeltlager unter den Brücken leben verzweifelte Männer, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, nachdem ihre Anträge oft abgewiesen oder sie selbst bereits aus anderen Ländern abgeschoben worden sind. Und weil ohne passende Dokumente für das System, werden die meist jungen Leute wohl auch in diesem Winter ohne Schlafplatz in den viel zu spät errichteten Notschlafstellen auskommen müssen. Für diese Menschen möchte ich eine verpflichtende Solidarität einfordern, mit einem Gutschein für drei Mahlzeiten in dieser Weihnachtszeit und ein paar dicker Socken wird es auch hier in keinem Fall getan sein.

Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt, um es mit den Worten des deutschen Politikers Gustav Heinemann zu sagen. Seit Jahren schon kümmert sich die Zivilbevölkerung in Südtirol, allen voran in Bozen, vorbildhaft um obdachlose und geflüchtete Menschen. Es ist schön, diese Empathie und die Warmherzigkeit der Südtiroler*innen zu spüren und diese schafft Zuversicht und Hoffnung. Aber die öffentliche Hand in Stadt und Land darf nicht weiter wegschauen und nicht alles auf die Schultern der Freiwilligen abladen.

Bleibt abzuwarten, ob nicht doch unser Bischof Ivo Muser einen solidarischen Lokalaugenschein unter Bozens Brücken vornehmen möchte

Leave no one behind! Niemanden zurücklassen! Dieser Leitgedanke ist das zentrale Stück der UN-Agenda 2030, die unter anderem folgendes Versprechen abringt: „Wir verpflichten uns, niemanden zurückzulassen. Im Bewusstsein der grundlegenden Bedeutung der Würde des Menschen, ist es unser Wunsch, dass alle Ziele und Zielvorgaben für alle Nationen und Völker und für alle Teile der Gesellschaft erfüllt werden, und wir werden uns bemühen, diejenigen zuerst zu erreichen, die am weitesten zurückliegen.“  

Und wer liegt bei uns in Südtirol am weitesten zurück und wer in Europa? In Bozen sind es wohl die Menschen, die unter den Brücken leben, die wir bei der Hand nehmen und in ein warmes Heim bringen sollen. In Europa sind es wohl die Geflüchteten auf Lesbos, die wir aus dem Elend herausholen sollen.

Erst vor wenigen Tagen war der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler auf einem Lokalaugenschein im Camp Kare Tape: „Viele Menschen auf Lesbos haben entsetzliche Fluchtwege hinter sich“, sagt Bischof Glettler später zu „Kathpress“. Er wolle künftig weniger von „den Flüchtlingen“ sprechen, sondern von „Menschen, die dramatische Fluchtwege hinter sich haben. Niemand ist mit einem Flugzeug auf die Insel gekommen“, meint Bischof Glettler, der schon mehrmals die Bundesregierung in Wien aufgefordert hatte, Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen. Sein Besuch vor Ort sei kein politischer Aktivismus gewesen, „sondern ein bewusstes Hinschauen auf einen der größten humanitären Katastrophenschauplätze Europas“. Er wolle, wie auch viele andere engagierte Helfer, „beim Wegschauen und Verdrängen nicht mehr dabei sein“. Und um wieder den Fokus auf die Misere in Bozen zu legen, bleibt abzuwarten, ob nicht doch unser Bischof Ivo Muser einen solidarischen Lokalaugenschein unter Bozens Brücken vornehmen möchte. Dem Anliegen wäre sehr gedient.

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Profil für Benutzer △rtim post
△rtim post Do., 24.12.2020 - 18:59

Wenn die links-grüne Bozner Gemeindepolitik es in Bozen nicht mal schafft, die Obdach- und Wohnungslosen notdürftig unterzubringen, dann sind wohl all die Damen und Herren persönlich gefragt. Manch andere Bürger-innen wollen vielleicht auch helfen:

https://www.salto.bz/de/comment/86059#comment-86059

Warum zumindest nicht all die christlichen Einrichtungen all ihre ihre Pforten weit öffnen, wie z.B. Hl. Ägidius in Bologna

https://scontent-otp1-1.xx.fbcdn.net/v/t1.0-9/fr/cp0/e15/q65/131976677_…

ist wohl nicht nur den Wohnungs- und Obdachlosen unverständlich.

Frohe Weihnachten!

Do., 24.12.2020 - 18:59 Permalink