Gesellschaft | Thailand-Südtirol

Ians Schlussstrich

Es ist “das Gefühl, frei zu sein”, was Ian Gerstgrasser nach der Haft in Thailand heute am meisten schätzt. In Meran sprach er über “die schlimmste Zeit meines Lebens”.
La Lampada Verde
Foto: Laurin Mayer

“Ich habe kein Problem, zu dem, was ich getan habe, zu stehen.” Was Ian Gerstgrasser getan hat, weiß das ganze Land. Wie es ihm heute geht, darüber wollte der junge Naturnser bisher nicht reden. Einen Monat nach seiner Entlassung aus der Haft in Thailand und der Rückkehr nach Hause hat sich Gerstgrasser entschieden, sein Schweigen zu brechen. Nach einer ausführlichen Stellungnahme auf Facebook hat er am Mittwoch Abend sein Gesicht gezeigt – und Klartext gesprochen: “Damit will ich die Sache endgültig abschließen und hoffe, nun in Ruhe gelassen zu werden.”

Bevor es soweit sein sollte, hatte Ian Gerstgrasser zwei Stunden lang Zeit, um die Geschehnisse in Thailand – Fahnen-Vorfall, Gefängnis, Freilassung – Revue passieren zu lassen und dem Publikum im Ost West Club in Meran zu schildern, wie er die Tage nach seiner Heimkehr erlebt hat. Ja, er habe sich hingesetzt und die Kommentare, die im Internet über ihn und seinen Reisebegleiter Tobias Gamper geschrieben worden sind, gelesen. Auch die bösesten und hetzerischsten. “Ich muss zugeben, ich habe ein paar Mal gelacht, denn vieles war einfach lachhaft”, sagt der 18-Jährige. Gelacht wurde auch am Mittwoch Abend einige Male. Und am Ende gab es Applaus. Für Ian Gerstgrasser, der sich entspannt, aber durchaus überlegt den Fragen stellte – und Gabriele Di Luca, dem Moderator der Diskussionsreihe “La lampada verde”, dem es mithilfe der fachlichen Kompetenz der Ansa-Journalistin Lissi Mair gelang, die Neugierde der Anwesenden zu befriedigen. Ein für alle Mal, hoffen Gerstgrasser und seine Mutter, die in der ersten Reihe saß, zusammen mit einigen Freunden, die ihren Sohn seit der Kindheit kennen.

Die Fahne

“Als wir an jenem Abend in unser Hotel zurückkehrten, fielen uns gleich die Polizeiautos und die etwa 20 Polizisten auf, die mit Maschinengewehren vor dem Hotel standen. ‘Was hat da wohl einer angestellt?’, habe ich mich gefragt.” Dass die Polizeibeamten auf ihn und seinen Freund warten könnten, fiel Gerstgrasser nicht im Traum ein. Ebensowenig war ihm klar, dass das Beschädigen der Nationalflagge in Thailand kein Kavaliersdelikt ist, sondern mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden kann.

Nach und nach dämmerte es dem Naturnser, der im heurigen Jänner bereits zum zweiten Mal Thailand nach Thailand gereist war. “Die Polizisten verstanden, dass wir keinerlei böswilligen Absichten hatten und zeigten am Ende Mitleid. Sie rieten uns, uns mit einer Videobotschaft bei der thailändischen Bevölkerung zu entschuldigen.” Gesagt, getan. Zeit, sich einen Text vorzubereiten, ließ man den beiden nicht. “Wir standen unter enormen Stress, hatten Angst und haben eiligst improvisieren müssen.” So kam es auch, dass der Satz “In unserem Land ist die Fahne nicht so wichtig” fiel. Der Auftakt für einen Shitstorm, der vor allem in den sozialen Medien über die beiden Naturnser hinweg fegte. Manch einer fühlte sich beleidigt, wünschte den beiden, dass ihnen im thailändischen Gefängnis eine Lektion erteilt werde. “Ich wünsche niemandem, das mitzumachen, was wir erlebt haben”, sagt Ian Gerstgrasser. “Es war die bisher schlimmste Zeit in meinem Leben.”

Das Gefängnis

Eine Woche auf 20 Quadratmetern, gemeinsam mit 20 anderen Insassen. Genug Essen, aber kaum Trinken. “Innerhalb von 16 Stunden hat man uns 150 Milliliter Wasser gegeben”, erinnert sich Gerstgrasser. Ebenso wie an die körperlichen Folgen: Dehydriert, benommen, kraftlos sei er gewesen. “Wir schafften es kaum, klar zu denken, hatten Angst um unsere Freiheit.” Die schlimmsten Gedanken, die einem während so einer Zeit kommen, sind: “Vielleicht sehe ich meine Heimat, meine Familie und Freunde nie wieder.” Kein Ausgang, nur wenige Minuten, um mit Zuhause zu sprechen, schlafen auf Betonboden. Polizisten, die bei der Verhaftung Selfies schießen, sind da noch das kleinere Übel. “Wir haben in einer Zelle in der Polizeistation von Krabi auf unser Urteil gewartet. Wären wir in eines der berüchtigten Militärgefängnisse überstellt worden, wäre das wahrscheinlich unser Todesurteil gewesen.” Körperliche Gewalt vonseiten der Polizisten oder anderer Insassen haben die beiden nicht erfahren: “Eigentlich waren alle ganz nett.” Auch die Freundschaft zu Tobias Gamper habe unter den Geschehnissen nicht gelitten, im Gegenteil: “Im Gefängnis haben wir uns gegenseitig Mut gemacht. Alleine wäre es sicher doppelt so schlimm gewesen. Und die Geschichte hat uns noch enger zusammengeschweißt.”

Das Urteil des Militärgerichts – sieben Monate bedingte Haft und eine Geldstrafe – wurde Gerstgrasser und Gamper nach wenigen Tagen von einer Richterin von einen Bildschirm herab verlesen. Noch ein paar Tage vergingen, bis sie mit dem Flugzeug nach Italien ausreisen durften. “Unsere Reisepässe haben wir in Rom zurückbekommen, erst dann waren wir wieder frei.”

Die Heimkehr

Das erste, was Gerstgrasser nach seiner Rückkehr nach Naturns gemacht hat, war, so nennt er es, ein “Freiheitsspaziergang in der Natur”. Sich zurückzuziehen kam für ihn nicht in Frage. “Im Dorf hat sich eigentlich nichts geändert – außer dass uns jetzt halt jeder kennt”, meint er schmunzelnd. Von dem virtuellen Hass ist im “wahren” Leben kaum etwas zu spüren: “Die Menschen, denen ich begegne, sind vor allem froh, dass wir wieder zurück sind. Manche sagen auch, dass es eine Schweinerei war, wie man mit uns umgegangen ist.” Damit spricht er ein Thema an, das auch seiner Mutter – neben den großen Sorgen um den Sohn und seinen Freund – zu schaffen gemacht hat. “Wir waren einem regelrechten Telefonterror ausgesetzt, die ganze Zeit fragten Journalisten bei uns an – bis heute”, berichtet Gerstgrassers Mutter. Als sie ihren Sohn vom Mailänder Flughafen heim brachte, wurde ihr Haus in Naturns regelrecht belagert. “Zwei Stunden lang haben die Journalisten im Auto vor unserem Haus gewartet”, so die Mutter.

Aber neben den “vielen hässlichen Sachen” habe es “ganz ganz viel Positives” gegeben. Vielleicht ist es gerade diese Tatsache, die es Ian Gerstgrasser und seiner Familie einfacher macht, mit dem Geschehenen umzugehen – und abzuschließen. Der Hass im Netz ist eine Realität, die Solidarität, Unterstützung und Hilfe, als es darauf ankam, eine andere. Und es ist das, was für Ian Gerstgrasser zählt: “Dass ich frei bin, heil zu Hause angekommen und meine Lektion sicher gelernt habe.”