Kultur | Nachruf

Dein roter Schal

Der Südtiroler Verleger und Journalist Gottfried Solderer hat für salto.bz einen sehr persönlichen Nachruf auf seinen Freund Markus Vallazza geschrieben.
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Foto: Othmar Seehauser
Ich weiß, der Knochenmann rafft alle Menschen hin,
ob demutsvoll ihr Herz ist oder stolz ihr Sinn.
François Villon
 
Jetzt hat er aber sicherlich kalte Füße. Das war mein erster Gedanke, als ich Markus darnieder sah. Eine Blume in der Hand, die er wohl uns noch überreichen wollte. Dann alle zwei Minuten der Summton einer Kühlanlage, wo Markus doch so sehr die Sonne liebte. Stunden lang saß er mit einem seiner geliebten Bücher auf dem Waltherplatz, mit offenem Hemd, kein Sonnenstrahl durfte an seiner Brust vorbeiziehen. Und nun kaltgestellt.
Markus, du hast auch kein Wort mehr zu mir gesagt, obwohl du noch vor wenigen Tagen ganz locker über Vergangenes mit mir geschwätzt hattest. Ich hätte noch einige Fragen gehabt, die werden wir wohl auf später verschieben müssen. Zum Beispiel, warum du mit zweitem Namen Gottfried heißt, aber diese Gattung ist ohnehin am Aussterben. Erst nach einer lautlosen Stunde und trauter Zweisamkeit habe ich verstanden, dass wir in Zukunft andere Kommunikationsformen wählen müssen. Aber wir sind alle beide erfinderisch und werden sie schon finden.
Wie du daliegst auf deinem letzten Bett, ähnelst du immer mehr deinem großen Vorbild Giacometti. Dessen Figuren sind ein Strich in der Landschaft und recht viel mehr bist du auch nicht. Lange habe ich schon in letzter Zeit, von dir hoffentlich unbemerkt, deine elendslangen hundertfach kunstgeladenen Finger betrachtet. Auf dem Totenbett nun gleichen sie Krähenfüßen, allerdings mit Krallen, die nicht loslassen wollen, nicht vom Leben und nicht von deiner Kunst. Dass sie irgendwann nicht mehr so funktionierten, wie du wolltest, hat dir wohl das Genick gebrochen. 
Wie du daliegst auf deinem letzten Bett, ähnelst du immer mehr deinem großen Vorbild Giacometti. Dessen Figuren sind ein Strich in der Landschaft und recht viel mehr bist du auch nicht.
Es war nicht allein dein Hirnschlag vor einigen Jahren, es war die Aussichtslosigkeit, deinen mit Visionen und Ideen vollgestopften Kopf nicht mehr in Kunst verwandeln zu können. Viel zu groß und zu weit ist der Rock, den dir deine Lieben auf dem Totenbett verpasst haben. Aber vielleicht haben sie auch nach dem Schließen deiner Augen noch daran gedacht, dass dir Enge immer schon ein Gräuel war. Was fehlte, war nur dein roter Schal, eigentlich dein dich ständig begleitendes Markenzeichen.
 
 
Es war im Jahre 1991 als du mir in Wien Logie botest. Ich hatte gerade die Edition Raetia gegründet und eines der ersten Bücher herausgebracht. Es waren Aufsätze und Reden deines großen Wiener Freundes Claus Gatterer. Während ich für einen ORF-Auftritt meine Rede vorbereitete, hast du mich porträtiert. Und du hast es vor wenigen Jahren noch ein paar Mal, krankheitsbedingt nahezu unmöglich, versucht. Dass du mir diese Porträts trotzdem anvertraut hast, habe ich sehr geschätzt. Wie übrigens alle Bilder von dir, die ich kaufen durfte oder die du mir und meiner Frau immer wieder mit Widmung geschenkt hast. Als ich letztere zum Rahmen brachte, hörte ich immer dasselbe Urteil: Die Bilder wären auf dem Kunstmarkt ohne Widmung weitaus wertvoller. Ich sage dazu nur Folgendes: Der Kunstmarkt wird diese Geschenke von dir zu meinen Lebzeiten nie sehen.
Ich war vielleicht gerade einmal sechs bis sieben Jahre alt, als ich deine Familie schon kennenlernte. Ich stamme von St. Peter/Lajen, San Pier, wie die Grödner sagen. Ich war als Hilfsträger sehr oft dabei als meine Mutter  deiner Künstlerfamilie Butter und Eier verkaufte. Am Straßenrand standen Eisenskulpturen aus der Schmiedewerkstadt deines Vaters, ich sehe sie heute noch vor mir. Und das Flair, das dein Geburtshaus umgab. Dass eine meiner Schwestern eine Zeit lang Kindermädchen bei deinem nimmermüden Halbbruder Adolf war und meine Mutter deinen Vater in seinen letzten Monaten begleiten durfte, rundet die Familiensaga ab.
Richtig kennengelernt habe ich dich allerdings erst als ich schon Chefredakteur der 1980 gegründeten Wochenzeitung FF wurde. Du warst gerade dabei, eine deiner vielen Ausstellungen in der Bozner Goethegalerie vorzubereiten, ich bat dich zum Interview. Nur zögerlich hast du zugesagt, da du mit dem damaligen noch völlig unkritischen Schmusekurs des Blattes nicht einverstanden warst. Erst als wir uns dann bei einem Spaziergang am Ritten einig waren, dass Südtirols Landschaft für kritische Geister eigentlich viel zu schön sei, öffnetest du dich und wir wurden Freunde. 
Das bisschen Kunstverständnis, das ich über die Jahre rettete, hast ebenfalls du mir beigebracht.
Auch über gemeinsame Bekanntschaften wie beispielsweise mit dem Literaturgenie und Witzbold HC Artmann, dem wir nach einer durchzechten Nacht im Bozner Batzenhäusl einen russischen Schal besorgen sollten. Wie ohnehin das Batzenhäusl mit seinen kunstdurchtränkten Wänden häufig unser gemeinsamer Treffpunkt wurde. Hie und da gingen wir erst im Morgengrauen nach Hause, nachdem uns die legendäre Wirtin Helene noch eine Muspfanne voll Plentenen Ribl zum Vorfrühstück gereicht hatte.
Es war schön und manchmal auch traurig, mit dir zu feiern. Einmal lagen wir in deinem Atelier ausgestreckt auf dem Fußboden um Händels Passion sogar über die dort spürbaren Vibrationen auf uns wirken zu lassen. Ein anderes Mal vergnügten wir uns mit einem minutenlangen Lachkrampf. Ich kann mich an den Grund nicht mehr erinnern, aber wir konnten mit dem Lachen minutenlang nicht mehr aufhören. Kaum sahen wir uns an, ging es wieder los. Die Folge war ein tagelanger Kater der Bauchmuskeln.
Das bisschen Kunstverständnis, das ich über die Jahre rettete, hast ebenfalls du mir beigebracht. Einmal fuhren wir nach Mantua, um in einem Palazzo stundenlang nur ein einziges Bild zu betrachten. Den Focus richteten wir auf jedes einzelne Detail, um im Anschluss daran noch vor dem Palazzo die winzig kleinen Pflastersteine zu zählen. Wer Großes sehen will, muss tief hineinschauen, darf sich nicht ablenken lassen, das war dein Kunstverständnis.
Du selbst hast deine Karriere auch dem großen Meister Oskar Kokoschka zu verdanken. Er war es, der dich nach deinem Studium in Florenz zum Weitermachen ermunterte. Jetzt läuft gerade in Wien eine große Ausstellung von ihm, nur allzu gerne hätte ich sie noch mit dir betrachtet. Dann wären wir wieder im legendären Hawelka gesessen, um Herrn Karl Revue passieren zu lassen. Wien hat dir neben Paris, Berlin, Augsburg und Salzburg viel gegeben und hat dir auch viel zu verdanken. In der Galerie Welz in meiner letztgenannten Studienstadt haben wir gemeinsam deinen Dantezyklus betrachtet, den du über sieben Jahre lang wie besessen gezeichnet hast.
 
 
„In mezzo del cammin di nostra vita…“ befandest du dich, als du wieder einmal verloren warst. Du hast mir dann immer von einem Feuer erzählt, das fast unerträglich in deiner Brust brennen würde. Du hast es mit in die Hölle von Dantes Komödie genommen und dort ausgelöscht bis du schließlich zur Läuterung gelangtest. Nicht immer gelang dir dies so nahtlos. Immer wieder zog es dich in die Tiefe, wie schon aus den Tagebüchern von Claus Gatterer hervorgeht. Und als du dann nach Südtirol zogst, bliebst du auch hier nicht von Depressionen verschont. Mehrmals wolltest du dich verabschieden, wir haben dich aber nicht gehen lassen und du warst immer folgsam. Bis du jetzt die Osterglocken läuten hörtest. Da konnten und wollten wir dich auch nicht mehr halten, denn deine Passion sollte und musste zu Ende gehen. 
Mehrmals wolltest du dich verabschieden, wir haben dich aber nicht gehen lassen und du warst immer folgsam. Bis du jetzt die Osterglocken läuten hörtest.
Jetzt hast du wieder Zeit zum Lesen, neben deiner Kunst die wahre Passion. Kaum mehr als die Volksschule und ein bisschen Mittelschule waren dir vergönnt, wurdest du trotzdem zu dem belesensten Menschen, den ich je kennengelernt habe. Mir hast du immer wieder auch herrliche Bücher geschenkt, meist mit Widmung und einem Kreuzchen versehen, ein Zeichen deiner speziellen Zuneigung. Ich habe Postkarten und Briefe von dir, mit deiner wunderbaren Schrift, mit der du auch deine unzähligen Tagebücher ausgeschmückt hast.
Diese verwahren wohl deinen ganzen Lebensschatz, deine Erfahrungen, Freuden und Leiden. Deine Töchter werden sie hüten, mir selbst wird deren Offenbarung wohl für immer verwehrt bleiben. Und das ist auch gut so. Von einem Eintrag allerdings hast du mir erzählt. Als ich auf der Frankfurter Buchmesse mit meinem Hamburger Akademieprofessor Hellmuth Karasek abgelichtet wurde, hast du dieses Foto in dein Tagebuch geklebt.
 
Ich habe dir einmal aus einer antiquarischen Buchhandlung in Triest eine fünfbändige Casanovaausgabe mitgebracht, ein bisschen von ihm ist an dir wohl hängen geblieben.
Vieles von dir weiß natürlich auch deine letzte Lebensgefährtin Renate, die dich fast bis zum Umfallen gepflegt hat, dir Essen eingelöffelt und dir deine immer schütter werdenden Haare gestreichelt hat. Ein bisschen was wird sie mir wohl noch erzählen bis sie dann wieder in ihre Heimatstadt Graz zurückkehrt. Ich habe dir einmal aus einer antiquarischen Buchhandlung in Triest eine fünfbändige Casanovaausgabe mitgebracht, ein bisschen von ihm ist an dir wohl hängen geblieben. Sei mir jetzt nicht böse, aber schließlich hast du über seine Abenteuer ja auch einen Zyklus gezeichnet. Oswald von Wolkenstein und dessen abenteuerliches Leben war auch einer deiner Lieblinge, seine Gebeine liegen in der Gruft von Neustift. Sein Geist schwirrt aber durchs Universum, in dem jetzt auch du dich tummelst.
Du hast neben zahllosen Gedichten auch einmal ein Theaterstück geschrieben, viel zu lang und zu umständlich, um es auf eine irdische Bühne zu bringen. Jetzt kannst du die Uraufführung im All nachholen und alle deine dir vorausgegangenen Künstlerfreunde zur Premiere laden. Ich kann dabei, vorerst noch, nicht in der ersten Reihe sitzen, ich werde dir aber mit dem Fernglas über die Schulter schauen, mit demselben kritischen Geist, mit dem du auch mein Leben begleitet hast. Du wirst dabei nicht in ein schwarzes Loch fallen, wir werden dich in jener Nähe behalten, mit der du uns ein Leben lang begleitet hast.
Pfiati Markus.
 

Fotos: Othmar Seehauser