Mediterraneo
Auf einem Fresko im Inneren der kleinen Kirche San Carlo in Pergine ist ein Schiff abgebildet, ein Segelschiff auf der Fahrt durch das Mittelmeer. Es hat viele Seeleute an Bord. Doch plötzlich kommt ein heftiger Sturm auf, die Matrosen geraten in Seenot. Sie fürchten um ihr Leben, klammern sich in Todesangst an die Bordplanke des Boots, das von hohen, schäumenden Wellen überspült wird. Eine Katastrophe ist unvermeidbar. Oder vielleicht doch nicht? Mit Gottes Hilfe und der Fürbitte des heiligen Nikolaus legt sich der Sturm, die Wellen beruhigen sich und das Schiff kann seinen Kurs wieder aufnehmen. Die ganze Mannschaft kehrt, erschöpft, aber unversehrt, nach Myra zurück, das damals ein lebendiger türkischer Hafen am Mittelmeer und Sitz eines Bischofs war.
Ein schönes Bild. Eine schöne, tröstliche Erzählung von diesem Wunder, das sich – so will es die Legende – vor 1700 Jahren ereignet hat. Eine klare Message, ein Aufruf zum Glauben.
„Mediterraneo" ist der Titel einer Skulptur von Lois Anvidalfarei, die unter seinen 28 bronzenen „Wanderern" auf Burg Pergine ausgestellt ist. Ein enormer, übergroßer Kopf, das Relikt einer Person, die wer weiß wo gestrandet ist, die von einem wer weiß wo ausgelaufenen Boot gefallen war. Sicher hatte der Kahn an einem Ort an der faszinierenden Küste des Mittelmeers abgelegt – dieses Meers, das seit Jahrhunderten Kulturen, Sprachen und Gefahren verbindet und in den letzten Jahren zu einem unermesslichen, makabren Grab geworden ist.
„Wir haben Tote an Bord. Bitte, helft uns!“, war der verzweifelte Notruf von den Insassen eines Boots in Seenot, der in diesen Tagen empfangen wurde. An diesen hellen Frühlingstagen, die auch die Wiesen an der Burg Pergine mit lieblichen Blümchen zum Leuchten bringen. Diese Wiesen, auf denen „Mediterraneo“ liegt. Eine Metapher der vielen, allzu vielen Ertrunkenen, um unser aller Gewissen aufzurütteln. Denn wir sind für diese Hilferufe taub und für die Ängste der anderen blind geworden. Heute Ist keine Zeit für Wundertäter, die Wellen besänftigen und Leiden lindern. Aber es gibt noch Künstler, die das Flehen dieser Bedrängten hören. Und uns deren Hilferufe ins Gesicht schreien.
Lois Anvidalfarei ist einer von ihnen.
Von den Mauern von Burg Pergine hat man einen schönen Blick auf das Städtchen Pergine, das im Laufe der Jahrhunderte um den Burghügel entstanden ist. Dabei erkennt man neben der gotischen Pfarrkirche die kleine Kirche San Carlo. Mit dem vom heiligen Nikolaus, dem damaligen Bischof von Myra, bewirkten „Wunder der Schiffbrüchigen". Das Fresko wird einem venetischen Künstler des frühen 14. Jahrhunderts zugeschrieben, einem möglichen Giotto-Schüler.
Vom 14. Jahrhundert bis heute, zwischen einem venetischen Maler des Mittelalters und einem zeitgenössischen ladinischen Künstler aus Südtirol, besteht, durch ihr Mitleiden mit den Schwachen und Schutzlosen, eine starke, lebendige und aktuelle Beziehung nicht nur auf künstlerischer Ebene.
Aber hier oben gibt es heute keine Rettung.