Kultur | Salto Afternoon

“Blinder als blind ist der Ängstliche”

Das Stück “Biedermann und die Brandstifter” von Max Frisch besetzt derzeit die Publikumssessel des Bozner Studio-Theaters am Verdiplatz. Samt vieler roter Benzinkanister.
vbb.jpg
Foto: VBB Cordula Treml

Die Zuschauer und Zuschauerinnen haben Platz genommen, im bieder wirkenden Salon auf der Bühne. Alle tragen Maske und haben es sich auf den Sofas, gepolsterten Stühlen, ja sogar in Ohrensesseln, gemütlich gemacht. Man sitzt bequem. Die Schauspieler und Schauspielerinnen werden hingegen die gegenüberliegenden Publikumsplätze in Beschlag nehmen, um die schmalen Gänge und das auf- wie absteigende Sesselgelände für ihre frischen akrobatischen und geistreichen Leistungen zu nutzen.


Nach den Pandemie-Anweisungen von offizieller Stelle zündet das Stück mit dem Ruf des Dienstmädchens Anna (Patrizia Pfeifer) nach ihrem Chef: Herr Biedermann! Es folgt ein erster diensttauglicher Dialog zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeber, dann geht es Schlag auf Schlag in die nächste Runde. Schmitz (Thomas Hochkofler) stürmt im Beinahe-Dress des kasachischen TV-Stars und Kinohelden Borat in den Publikumsraum, nimmt in der letzten Reihe Platz und nähert sich Sessel um Sessel dem eigentlich durch und durch autoritär gesinnten Biedermann (Christoph Kail). Diesem stößt einerseits eine interne Betriebsgeschichte rund um den Bediensteten Knechtling sauer auf, andererseits lässt er sich ohne große Diskussion auf Überraschungsgast Schmitz ein, einem „Ringer, der ein Leben lang gerungen“ hat.

Werden die schicke, weiße Tischdecke, die Servietten, das Tafelsilber beim „letzten Abendmahl“ benötigt? Ja! Nein! Ja! Nein!

Als Köhler-Sohn in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, war Schmitz irgendwann im Waisenhaus gelandet. Später sogar kurz am Theater. Auch ohne Bildung und Benehmen gelingt es ihm beinahe mühelos, sich bei den Biedermanns einzunisten. Vom verängstigten Opportunismus-Pärchen wird ihm sogar ein Dachdomizil zugewiesen. Dort stapeln sich im Lauf der Zeit Benzinkanister um Benzinkanister. Inzwischen hat sich auch der Kellner Eisenring (Marie-Therese Futterknecht) zu Schmitz gesellt, der mit ihm die vielen roten Kanister im Publikumsraum positioniert – zunächst ordentlich, dann – während Biedermann lähmend in seinem Sessel sitzt – immer chaotischer. Bis zum finalen Abendschmaus.
Unscheinbar aber wesentlich für Biedermann sind seine kurzen Begegnungen mit der Polizei und der Knechtling-Witwe (Susanne von Fioreschy-Weinfeld in der Doppelrolle). Beide ermahnen sein Gewissen, als es bereits zu spät ist.

 

1958 erstmals aufgeführt, ist das „Lehrstück ohne Lehre“ über sechs Jahrzehnte später immer noch amüsant und wegen seiner vielschichtigen Interpretierbarkeit eine feine Meisterleistung des Schweizer Autors geblieben; der sich übrigens ab dem Durchbruch zum Schriftsteller und Bühnenautor, von seiner ursprünglichen Berufung zum Architekten lossagte und es vorzog, nicht mehr Gebäude zu entwerfen, sondern sie – als Bühnenautor – zum Einsturz zu bringen. 


Zum Schluss kommt es zum besagten Abendessen, bei welchem Biedermann und seine Frau (Karin Verdorfer) ihren "Freunden" eine Gans servieren. Gerade in diesen fulminanten Momenten und Dialogen wird Biedermanns opportunes Verhalten auf die Spitze getrieben: Werden die schicke, weiße Tischdecke, die Servietten, das Tafelsilber beim „letzten Abendmahl“ benötigt? Ja! Nein! Ja! Nein! Biedermanns Unschlüssigkeit gibt mal diese, mal jene Anweisung an das Dienstmädchen. Sein Opportunisten-Wahnsinn ist nicht mehr zu bremsen.

Biedermann zerstört sich selbst, wie ein gieriger Skorpion, der auf`s Ganze gehend beim erlösenden Nichts anlangt.

Mit den drei besten Tarnungen – Wahrheit, Sentimentalität, Humor – gelingt es den Brandstiftern auf kuriose Weise Biedermann von ihrer Gefährlichkeit zu überzeugen, denn je mehr sie dies tun, desto weniger glaubt dieser ihnen, da in seinem Weltbild dafür kein Platz ist – für das, was nicht sein darf.
Am Ende ist sogar er es, der nicht nur die Zündschnur in seinen Händen gehalten hat, sondern zudem die Streichhölzer für die Explosion überreicht. So zerstört sich Biedermann selbst, wie ein gieriger Skorpion, der auf`s Ganze gehend beim erlösenden Nichts anlangt.


„Blinder als blind ist der Ängstliche“ spricht der passend in die Dramaturgie eingesetzte Mini-Chor bereits gegen Halbzeit des Theaterabends. Just dort, wo die bedrohliche Zuneigung Biedermanns für die umtriebigen Brandstifter in die vorhersehbare Tat zu kippen beginnt. Katja Uffelmann und Erwin Belakowitsch übernehmen die Rolle des Chores mit liebevoll vorgetragenen Song-Passagen. Wenn sie sich in Feuerwehr-Uniform ausgestattet mit „Wer? Wer? Wer?“-Rufen Biedermann ernsthaft annehmen und dabei wie ein gealtertes Gesangsduo in einem freundlich-absurden Albtraum erscheinen, ahnen die Zuschauer, dass sie als Publikumsmasse ähnlich den Bewohnern eines Seniorenheimes vor sich hin rosten, in Erwartung auf das, was die von Max Frisch erdachte Explosion herbeisehnt: Menschlichkeit.