Politik | Verfassungsreform

Eine Lanze für das Ja

Es gibt viele Gründe für das Nein, aber die triftigeren sprechen für das Ja
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Composition of Italian Senate after 2013-2014 recomposition
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Von Exponenten des linken und öko-sozialen Spektrums ist in der Öffentlichkeit durch die Bank ein Nein zur Verfassungsreform zu hören. Sie warnen vor den Gefahren dieser Reform, die in der Tat nicht wenig bedenkliche Punkte enthält und sich als unausgereift und schlecht austariert präsentiert. Wenn man sich aber die Zukunft Italiens vor Augen hält (und die leidige Südtiroler Debatte über die Schutzklausel einmal beiseite lässt), dann zwingen einen die Abschaffung des archaischen Zweikammernsystem und die unglaubliche Signalwirkung, die allein der Wille zur Veränderung nach innen und nach außen ausstrahlen würde, eine Lanze für das Ja zu brechen.

Italien ist weltweit das einzige Land mit einem perfekten Zweikammernsystem. Anders als in anderen Staaten mit Zweikammernsystem entstammen Abgeordnetenkammer und Senat nahezu demselben Wahlkörper und üben die identischen Befugnisse aus. Ein "doppione", der den fähigen Ministerpräsidenten Romano Prodi trotz klarer Mehrheit in der Kammer aufgrund zwei, drei fehlender Stimmen im Senat zweimal zum Rücktritt zwang. Das Vertrauensvotum nur mehr einer Kammer anzuvertrauen, ist nicht nur mit Blick auf solche Erfahrungen angezeigt, sondern auch gute Praxis in den westlichen Demokratien. Dasselbe gilt für die allgemeine Gesetzgebungskompetenz, die in der Regel einer einzigen Kammer des Parlaments übertragen ist, während die zweite Kammer (Nationalrat, Bundesrat, House of Lords, Senat in den USA, etc.) lediglich in ganz bestimmten, in Bundesstaaten großteils mit Interessen der Bundesländer zusammenhängenden Bereichen an der Gesetzgebung beteiligt ist. Bei der Kompetenzzuteilung an den Senat hat die Verfassungsreform ein ziemliches Chaos mit zehn diversen Verfahrensweisen hervorgebracht und den Argwohn vieler Verfassungsrechtler heraufbeschworen. Hier gilt es mit Sicherheit in einem zweiten Moment nachzubessern und für mehr Klarheit zu sorgen. Die Umwandlung mit einhergehender Verkleinerung des Senats sollte jedenfalls für mehr politische Stabilität sorgen und einer Regierung endlich das Überdauern einer Legislaturperiode ermöglichen. Weiters ist es längst überfällig, dass Italiens rund 950 Parlamentarier zumindest annäherend auf ein Niveau vergleichbarer Staaten reduziert werden (die USA haben 535).

Diese Verfassungsreform kann in Kombination mit dem neuen Wahlgesetz autoritären Tendenzen Tür und Tor öffnen, ist ein gängiger Einwand. Diese Wertung kann stimmen oder nicht, aber Renzi hat sich schriftlich zu dessen Abänderung verpflichtet und, falls dies eine Finte sein sollte, liegt das Wahlgesetz bereits vor dem Verfassungsgericht, das - noch nicht von Renzi besetzt - bereit steht, die umstrittene Mehrheitsprämie und die blockierten Listen zu kippen.

Weiters wird ins Feld geführt, die Reform würde die direkte Demokratie schwächen. Natürlich wünschte ich mir eine entschiedene Erleichterung der Bürgerbeteiligung, stattdessen wird u.a. die Unterschriftenanzahl für das Volksbegehren von 50 auf 150 Tausend erhöht. Das schwächt aber relativ wenig ein Instrument, das ohnehin bei Mangel an breitem Rückhalt in der Bevölkerung und im Parlament zu vernachlässigend wenigen Gesetzen geführt hat. Da wiegt die Reduzierung des Quorums für abschaffende Referenden, für welche nicht nur die bisherigen 500, sondern 800 Tausend Unterschriften gesammelt werden können, weit schwerer. Sie berechnet die 50%-Marke nur mehr auf die Anzahl der Wähler, die an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen haben und nimmt der "Kaste" die Möglichkeit, sich mit den Federn der notorischen Nichtwähler zu schmücken. Auch ein inflationärer Einsatz von direktdemokratischen Instrumenten, die meist ins Leere laufen, untergräbt das Vertrauen in die Demokratie.

Neben der Abschaffung der bezahlten Senatoren wird auch der CNEL eliminiert, in dem (neben 70 Angestellten) 65 "nominati" sitzen, die Gehälter auf Parlamentarierniveau kassieren und keinen Gesetzesvorschlag im Zeitraum diverser Jahre hervorgebracht haben. Die Eliminierung der Provinzen aus dem Verfassungstext ist nach deren Abschaffung per Gesetz nur folgerichtig. Womit wir bei einem weiteren heißen Thema, jenem der Zentralisierung, wären. Die Regionen verlieren Kompetenzen an den Zentralstaat, weil sie sich nach der Reform von 2001 als nicht fähig, nicht willig und nicht vertrauenswürdig erwiesen haben, Aufgaben und Gelder angemessen zu handeln. Wenn diese Regionen jetzt kampflos ihre Befugnisse abgeben, steht es mir als mit Sonderautonomie ausgestattetem Bürger nicht zu, ihnen vorzuschreiben, was sie für ihr Wohl zu halten haben. Die Unterscheidung in Regionen mit ausgeglichenem Haushalt, denen größere Spielräume verbleiben, und den weniger disziplinierten, kann durchaus sinnvolle Ansätze im Sinne der Förderung einer neuen Mentalität haben.

Und schließlich bleibt die Frage nach der verfassungsrechtlichen und politischen Alternative zu einem Ja. Wenn das Ja siegt, kann diese unausgegorene Reform einer Überarbeitung unterzogen und die vielen Geburtsfehler dieser zugegeben schlecht geschriebenen Verfassungsreform ausgemerzt werden. Wenn das Nein siegt, bleibt diese Verfassung, über deren Reformbedürftigkeit seit 25 Jahren breiter Konsens herrscht, auf unabsehbare Zeit in Kraft. Es wird wohl niemandem mehr so schnell gelingen, es Renzi gleich zu tun und die Senatoren dazu zu bringen, für ihre eigene Abschaffung zu stimmen. Und wenn das Nein gewinnt, wird es zur x-ten Regierungskrise in Italien kommen und der - ebenfalls zugegebenermaßen unsympathische - Leader der einzigen europa- und eurofreundlichen Partei den Platz räumen. Was nachher kommt, ist offen, verspricht aber wenig Gutes: Grillo, Salvini, Berlusconi, D'Alema - proprio dei bei compagni di merenda!

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Thomas Benedikter Fr., 25.11.2016 - 10:34

Eine "völlig unausgegorene Reform" müsste man korrekterweise an die Kellermeister zurücksenden mit dem Auftrag, das Ganze reifen zu lassen, nachzubessern, mehr Konsens zu suchen. Es geht immerhin nicht um ein Gesetzchen, sondern eine Reform der Verfassung bei 47 Artikeln. Leider bist du auch diesem unfairen Druck der Regierung Renzi erlegen, mit Rücktritt zu drohen, wenn die Reform nicht durchgeht. Niemand könnte Renzi dazu zwingen, er hat dies aus freien Stücken erklärt, um die Wählerschaft praktisch zu erpressen. Doch vor Renzi war ein gar nicht so schlechter Premierminister am Werk, den Renzi - keine Vertrauenskrise im Parlament, sondern PD-interne Intrige - abmontiert hat, und nach ihm wird der PD seriöse Politiker stellen, die das übernehmen. Verfassungsreferenden mit dem Vertrauen für Regierungen zu verknüpfen, ist einfach schlechter, unfairer politischer Stil.
Schade, dass du die Pseudo-Reformen der direkten Demokratie so positiv einschätzst, lieber Martin, denn sie sind nichts als Gaukelei (vgl. meine Beiträge dazu auf BBD). Schon längst ist in Italien klar, dass das Quorum die direkte Demokratie untergräbt (nicht ein inflationärer Einsatz der Referenden die Demokratie). Doch Renzi legt für eine geringe Absenkung des Quorums (50% der Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen entspricht dann etwa 40%) die Latte der Unterschriften auf 800.000. Extrem viele, wenn man weiß, wie schwierig es in Italien ist, beeglaubigte Unterschriften zusammenzubekommen. Auch das "propositve Referendum" in dieser Verfassung ist ein reines Versprechen. Wenn du den Text liest, wirst du merken: ein weiteres Verfassungsgesetz ist erforderlich, um dieses Instrument wirklich einzuführen (mit dem keinesfalls Gesetze einführen, sondern nur dem Gesetzgeber mit einem Anliegen - "indirizzo" - betrauen kann). Das jetzige Parlament wird, nach Einbringung der Ernte, sich hüten, hier echte Zugeständnisse zu machen. Hier wird ein Versprechen in die Verfassung geschrieben, eigentlich ein Witz. Renzi nimmt die Bürger damit auf den Arm.
Deine Schlussfolgerung ist auch ein Irrtum, mal abgesehen von deiner ungerechtfertigten Einschätzung des neuen Senats, was hier zu weit führen würde. Denn wenn das JA gewinnt, wird nichts nachgebessert, dann wird durchregiert mit allen Folgen dieser Reform für Regionalismus und Demokratie. Nur wenn das NEIN gewinnt, erhält das Parlament implizit den Auftrag eine bessere Reform auszuarbeiten, und zwar unter Berücksichtung der vielen Bedenken.

Fr., 25.11.2016 - 10:34 Permalink
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Alfonse Zanardi Fr., 25.11.2016 - 14:18

Guter Beitrag, warum überhaupt ein Referendum abgehalten wird ist angesichts des Affentheaters schon fraglich.
Direkte Demokratie führt sich ad absurdum wenn Fundamental-Opposition, Populisten und verantwortungslose Besserwisser sich zwecks Abschuss des Premiers verbünden.
Was bitte soll nachher kommen?

Fr., 25.11.2016 - 14:18 Permalink
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Martin Daniel So., 27.11.2016 - 00:05

Ich hoffe seit den 90er Jahren auf eine Reform der Verfassung. Und auch ich hatte, was das angeht, meinen Wunschzettel an das Christkind. D'Alema hatte viele gute Ansätze, doch brauchte er Berlusconi und der hat die Reformen seiner Bicamerale mit der Forderung, eine tiefgreifende Justizreform miteinzubeziehen, versenkt. Berlusconis Reform von 2006 war hingegen dermaßen augenscheinlich auf sich selbst zugeschnitten, dass das Volk die klein-erdogan'schen Machtgelüste mit einer 65%-Mehrheit an den Absender zurückschickte. Spezifische Änderungen, die - wie jene von 2001 und 2003 - nicht die zentralen Verfassungsorgane betrafen, konnten durchgebracht werden, aber eine systematische Neuordung gelang nicht und verschwand von der Bildfläche.
Massimo Cacciari sagte selbstanklagend, es handle sich um eine schlechte Reform, aber da er und seine Politikergeneration in den letzten 20 Jahren gescheitert waren, jene Reformen zu liefern, zu denen es einen breiten parteienübergreifenden Konsens gäbe (es geht ganz klar um das perfekte Zweikammernsystem), stünde ihm und seiner Generation bei ihrem Nein nicht mehr das Recht zu, sich über den Stillstand zu beklagen.
Wenn wir Ideallösungen fordern, ist es unrealistisch, dass es jemals irgendeine große Verfassungsreform in Italien geben wird. Jedes Mal wird irgendwer aus irgendwelchen egoistischen Beweggründen mit erpresserischen Methoden die große Systemreform blockieren. Diese ist eine Reform mit einigen schlechten Teilen, andererseits haben gewichtige Wortführer der Gegner (Berlusconi, Bersani) und ihre Leute 3 Mal in jeder Kammer für diese Reform gestimmt, die sie jetzt vehement bekämpfen. Als Sympathisant der direkten Demokratie finde ich im Übrigen, dass diese Fragestellung für die Bürger unzumutbar ist. Wenn sich Verfassungsjuristen befetzen und über ein und denselben Punkt gegensätzliche Bewertungen und Interpretationen liefern, wie soll sich dann ein Vollzeit-Werktätiger in der Metallindustrie ein Bild davon machen?

@ THOMAS: Meine Meinung beruht nicht auf Renzi Rücktritts-Drohung (das ist lediglich ein zusätzliches realpolitisches Argument). Ich kann seinem Stil und vielen Teile seiner Politik wenig abgewinnen. Ausschlaggebend für mich ist die Abschaffung des perfekten Zweikammernsystem mit einhergehender Reduzierung der Parlamentarier (Frage: gibt es überhaupt ein Land auf der Erde, das mehr hat als die 945+x Italiens?). Wenn diese jetzt abgelehnt wird, rechne ich nicht damit, das noch zu erleben.
Ich schätze die Änderungen zur direkter Demokratie nicht weiß Gott wie positiv ein: Ich erwähne das propositive Referendum mit keinem Wort; unterstreiche, dass neben den 500.000 Unterschriften, die für die Einberufung eines Referendums beibehalten werden, zusätzlich die Reduzierung des Quorums bei 800.000 Unterschriften vorgesehen wird. Es hat durchaus schon Fragestellungen gegeben, für welche diese Hürde genommen wurde. (Die Sammlung der Unterschriften ist mit einfachem Gesetz geregelt und kann viel einfacher zum Besseren geändert werden, wenn irgendwer will). Natürlich sind mir eine Abschaffung des Quorums oder niedrige Zustimmungsquoren wie in Bayern etc. lieber, aber das steht nicht zur Debatte. Und wird in Rom wohl sehr lange nicht zur Debatte stehen. Zudem werden zwar die Unterschriften für Volksbegehren von 50.000 auf 150.000 erhöht, aber im Gegenzug die Pflicht für das Parlament eingeführt, über den Text abzustimmen und die Initiative nicht einfach mehr versanden lassen zu können. Das gesamte Direkte-Demokratie-Paket ist m.E. in etwa neutral bis leicht verbessernd zum Ist-Stand.
Was heißt "durchregiert"? Das dürfte wohl das sein, was in Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien oder Österreich das politisches Tagesgeschäft ist. Nur in Italien wurde das Verfassungsgefüge so konzipiert, dass der Wahlsieger nicht regieren und jede noch so kleine Splitterfraktion der Koalition eine Regierungskrise auslösen kann. Bis Berlusconi 2008 die Wahlen gewann, gab es mit dieser Verfassung eine Regierung pro Jahr. Mir kommt vor, in Italien haben viele eine Vorstellung von Demokratie, in der nur diskutiert wird, in der mit Fug und Recht in alle Ewigkeit Obstruktionismus betrieben werden darf und schlussendlich politische Minderheiten jegliches Handeln blockieren können. Ich erinnere nur an die vergeblichen Versuche diverser Regierungen die unhaltbaren Monopol-Privilegien von Apothekern oder Taxifahrern zu reduzieren; diesen winzigen Minoritäten ist es stets gelungen, den politischen Willen der Mehrheiten auszubremsen.
Und ich wiederhole mich: Das Verfassungsgericht wird die Mehrheitsprämie des Italicum aller Voraussicht nach kippen, wenn Renzi es nicht ändert. So wie es gestern die seine Reform der Ö.V. gekippt hat.

So., 27.11.2016 - 00:05 Permalink
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Karl Trojer Mi., 30.11.2016 - 16:50

Die Analysen von Martin Daniel sind aus meiner Sicht objektiv und frei von fundamentalistischen Vollkommenheits-Forderungen. Italien wird, so meine ich, bei ausreichender Wahlbeteiligung mit JA stimmen, da erfahrungsgemäß bei der Mehrzahl der Italiener letztlich der Hausverstand überwiegt..

Mi., 30.11.2016 - 16:50 Permalink