Kultur | salto afternoon

Don’t know much about (colonial) history

Hand aufs Herz: Wie viel wissen Sie von der Kolonialgeschichte Italiens in Libyen? Dass davon wenig ins Ausland gedrungen ist, hat viel mit Zensur zu tun.
Unruly Connections, Alessandra Ferrini: Notizen zum Italienischen Kolonial-Faschismus
Foto: ©ar/ge kunst, Foto: Tiberio Sorvillo
Sich der Geschichte von der Fiktion aus annähern, das ist der Ansatz, den die Künstlerin Alessandra Ferrini in „Unruly Connections“ verfolgt, um in der ar/ge ein Bild von den verübten Gräueltaten der späten 20er Jahre in Libyen zu zeichnen. Das „ikonografische Schweigen“ - ein Begriff der auf den Historiker Alessandro Volterra zurück geht und Bezug nimmt auf eine Direktive des Generals Rodolfo Grazianis nimmt - also das Schweigen der Bilder wird fast hundert Jahre später unterwandert. Dies wird, unter anderem auch mit künstlerischen Mitteln gemacht, vorrangig sind es jedoch drei Romane, die den Kern der Ausstellung bilden. Knud Holmboes „Desert Encounter“, „L’Oasi“ von Leda Rafanelli und Gebreyesus Hailus Kurzroman „La recluta“ erzählen alle drei auf zwei Ebenen, einer textlichen, sowie den Umständen, unter welchen sie ihren Weg in die Ausstellung finden.
Holmboes „Desert Encounter“ verweist als einziges Werk des Autors auf seinen nahen Tod im Jahr des Erscheinens, 1931: Das Buch, welches den Genozid an der muslimischen Bevölkerung anprangerte und mit eigenen Fotographien versehen war, wurde in Italien sofort nach Veröffentlichung verboten. Seine Ermordung im Oktober ’31 bleibt nach wie vor ungeklärt, wenngleich sich der Verdacht hält, sein Tod sei vom italienischen Regime in Auftrag gegeben worden.
 
 
„L’Oasi“ von Leda Rafanelli, erschienen 1929, führte sie im Original lediglich als Übersetzerin, der Autorenname Étienne Gamalier ein Pseudonym, welches der Anarchistin und Feministin einen gewissen Schutz bieten sollte.
Gebreyesus Hailus in tigrinischer Sprache verfasster Kurzroman wird im Rahmen und Laufe der Ausstellung zum ersten mal durch den Historiker Uoldelul Chelati Dirar ins Italienische übersetzt. Der 1927 geschriebene, mündlich weitergegebene aber erst 1950 veröffentlichte Roman ist das Herzstück der Ausstellung und zugleich erster tigrinischer Roman und eines der frühesten Beispiel antikolonialer Literatur: Der Blick der Sympathie von außen wird durch den Blick der Betroffenen von innen erst legitimiert. Wären da nur Holmboe und Rafanelli, die Perspektive wäre wohl doch eine ganz andere.
Während man sich vor Ort in die Texte vertiefen kann, stört eine Audio-Installation mit Auszügen von Holmboe ein wenig: Der Horizont aus heroisch-kitschigen Kolonial-Briefmarken ist es nicht, aber das loopende Audio auf Englisch, welches, gerade wenn man sich in die italienischen Textauszüge einliest für die Konzentration nicht zuträglich ist.
Es stechen auch die Screenshots eines WhatsApp-Verlaufs ins Auge: Es ist die Künstlerin Ferrini selbst, die mit einem anonymen Gesprächspartner schreibt, der von ihr möchte, dass sie eine Dokumentation über Holmboe filmen solle. Der dringende Wunsch nach Anonymität lässt sich kaum abschätzen, ob da wirklich ein Gegner des Libyschen Systems schreibt, oder jemand der sich nach Aufmerksamkeit sehnt.  Originalbilder, welche hinter monochromen Platten aufgehängt sind, schaffen wieder die Distanz. Die Bezugnahme auf Südtirol ist deutlich: Da sind Soldaten, die aus Bozen kommen, dort ein Blackboard auf dem Anmerkungen zum italienischen Faschismus zu finden sind. Dennoch fühlt sich die Ausstellung nicht wie eine historische an, künstlerische Mittel und ein Makro-Fokus rücken, nach fast 100 Jahren, das Geschehen in große Nähe.
 
 

Drei klärende Fragen an den Kurator der Ausstellung, Emanuele Guidi.

Salto.bz: Herr Guidi, wie sah Ihr Aufgabenfeld bei dieser Ausstellung aus, da die Arbeitsweise der Künstlerin bereits die einer Herausgeberin ist?

Emanuele Guidi: Ich habe die Ausstellung als Teil der künstlerischen Leitung von ar/ge kunst betreut, was ich seit einigen Jahren und nun noch bis Dezember mache. Die Auswahl eines oder einer neuen künstlerischen Leiter oder Leiterin läuft derzeit. Ich habe Alessandra Ferrini eingeladen ihre Recherche zu präsentieren und Alessandra ist mit ihrer sehr präzisen Arbeitsweise zu uns gekommen. Ich habe sie begleitet in der Reflexion über den Ausstellungsraum, mir gefällt es dafür den Begriff der Dramaturgie zu verwenden. Ich habe einige Änderungen vorgeschlagen, wie eine derart komplexe Recherche mit viel Text-Material einfacher zu lesen und zu verdauen sein kann. Ich mache ein Beispiel: Die Audio Installation mit dem Schirm welcher sie umgibt. Alessandra hatte an ein anderes Format gedacht, ich habe ihr, den Ort und die Akustik kennend, eine andere Form vorgeschlagen. Meine Tätigkeit war also einer sehr räumliche. Auch habe ich die Übersetzung von Gebreyesus Hailu und die Reflexion darüber, was eine Übersetzung wie diese heute bedeutet, vorangetrieben.

Um auf die Audio-Installation zurück zu kommen: Im Zusammenhang mit Lektüren, auch in anderer Sprache, kann ein Element wie dieses negativ auf die Konzentration wirken. Welches waren die Überlegungen dieses Element der Ausstellung dort zu positionieren wo gelesen wird?

Die Audio-Installation ist eine zweite Ebene in Bezug auf die Texte. Der Ton den man hört ist die Stimme von Alessandra Ferrini auf Englisch, welches seit 20 Jahren die Sprache ihrer Arbeit ist, da sie von London aus arbeitet. Wir sind auch auf einer zweiten Ebene, weil Alessandra Textauszüge aus dem präsentierten Material von Rafanelli, Hailu und Holmboe vorliest, welche in der Ausstellung in italienischer oder tigrinischer Sprache präsent sind. Ihre englische Stimme braucht es um eine konzeptuelle Kontinuität zu erzeugen. Die Romane existieren in Wirklichkeit autonom von einander, aber diese Stimme auf Englisch will sie zusammenbringen. Sie ist auf Englisch, weil es zum einen die Arbeitssprache von Alessandra ist und man zum anderen nicht unbedingt zuhören muss.

Zum Übersetzungsprojekt: Es wurde bereits angedeutet, dass an dessen Ende vielleicht  eine Veröffentlichung in Buchform steht. Gibt es dazu neues?

Das ist noch eine Hoffnung, im Sinne, dass wir im Gespräch mit einem Verlagshaus sind, welche ich nicht näher benennen kann, die sich aber mit solchen Themen auseinander setzt. Wir treiben die Übersetzung für den Zweck dieser Ausstellung voran, falls es dann eine Veröffentlichung gibt, werden wir das kommunizieren, aber es ist etwas, das über die Ausstellung hinausgeht. Wir wollten als Institution etwas beitragen zur Rekonstruktion eines Blickpunkts in der Geschichte und ihn in italienischer Sprache lesbar machen. Wir können mit unseren Finanzen, Kräften und guten Absichten nur bis zu einem gewissen Punkt gehen.

 

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Hartmuth Staffler Mi., 25.05.2022 - 14:19

Wer sich für die italienischen Kolonialverbrechen interessiert, dem ist ein Rundgang durch das Bozner Viertel Gries zum empfehlen, wo praktisch alle Orte der italienischen Kolonialverbrechen ihren Straßennahmen erhalten haben. Man kann natürlich auch die Stele hinter dem Siegesdenkmal bewundern, auf der die italienischen Opfer der verbrecherischen Kolonialkriege gewürdigt werden. In Bruneck ist der Rest des Alpinidenkmales zu bewundern, das an die schrecklichen Verbrechen der Alpini-Division Pusteria in Äthiopien erinnert. In Brixen gibt es am städtischen Friedhof ein Gedenken an den armen Heinrich Sader, der als "Enrico Sader" in das besetzte Libyen geschickt wurde und dort von einem Einheimischen aufgrund von persönlichen Differenzen erdolcht wurde. "Caduto per la più grande Italia" - "Caduto per la Grande Italia" - Gefallen für das große Italien, steht unter der Büste des armen Heinrich Sader - aber niemand stört sich daran, nicht einmal die italienischen Partisanen, die jedes Jahr am Gedenkstein für den zu Lebzeiten von ihnen verfolgten Südtiroler Widerständler Egarter Krokodilstränen vergießen.

Mi., 25.05.2022 - 14:19 Permalink