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Barrieren oder fließende Übergänge?

Ein wissenschaftliche Neuerscheinung erzählt vom Respekt gegenüber den Rändern und vom Mut der Überwindung der einen oder anderen Grenze. In 14 Beiträgen. Eine Rezension.
Brenner
Foto: salto

Seit im Jahr 2015 Flüchtlinge und andere Schutzsuchende sowie Wirtschaftsmigranten, also Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, unkontrolliert die österreichische Grenze überschritten, die meisten von ihnen bestrebt, so bald wie möglich Deutschland zu erreichen, wird auch hierzulande immer wieder über die Notwendigkeit von Grenzen debattiert. Populisten hier wie dort machen sich das menschliche Leid, das auf die sogenannte Flüchtlingskrise zurückgeht (der Begriff Flüchtlingskrise wird interessanterweise von unterschiedlichen ideologischen Positionen in Frage gestellt), zunutze, um neue Grenzen zu errichten oder bestehende zu verschärfen, man blicke etwa in die USA und deren Grenze zu Mexiko, wo zur Schande dieser doch so bewährten Demokratie geschehen konnte, dass Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. In Europa trägt die Pandemie gegenwärtig dazu bei, dass das ungehinderte Passieren nationalstaatliche Grenzen nicht mehr selbstverständlich ist und somit diese wieder mehr ins Bewusstsein rücken. Aber es sind nicht nur nationale Grenzen, die neu verhandelt werden, häufiger noch geht es um die Grenzen im Kopf, die auf alten Glaubenssätzen von Abwehr und berechtigter Absicherung beruhen. 

Wäre ein Leben ohne Grenzen ein besseres Leben? Wie vermeidet es eine Gesellschaft, dass der Rand stets nur von der Mitte aus definiert wird? Wie wirken Ränder auf Grenzen und die sogenannte Mitte?

Letztlich sind das jedoch alles nur Schlagwörter, die ein Phänomen einleiten wollen, ihm aber nicht wirklich gerecht werden. Wenn es um äußere und innere Grenzen geht, sind die Verhältnisse vielschichtiger als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Einer zu einfachen Betrachtung komplexer Vorgänge versucht nun ein neuer Sammelband mit dem Titel „Grenzen und Ränder“, unterstützt von der Österreichischen Kulturvereinigung, ganz entschieden entgegenzuwirken. Es liegt auf der Hand, dass dabei die nötige Konzentration der Leserinnen und Lesern vorausgesetzt wird, so dass das Buch am besten nicht in einem Zug, sondern Abschnitt für Abschnitt gelesen und Beitrag für Beitrag verdaut werden sollte. Gelesen werden sollte es aber unbedingt!
Unterschiedlichste Perspektiven sind hier zusammengetragen, eindimensionale Vermessungen nicht zugelassen. Das fängt schon damit an, dass den Grenzen auch die „Ränder“ zur Seite gestellt werden, jene Gebiete, die abseits der Zentren und oft entlang faktischer nationaler Grenzen fruchtbare Biotope des Denkens, des gesellschaftlichen Experimentierens und naturgemäß auch des zurückgenommenen, kleinteiligeren Wirtschaftens darstellen. Während die Grenze im Sinne von lat. finis, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, Barriere, Trennung und Abgrenzung meinen, stellen die Ränder den Übergang, das Fließende und Verbindende dar. Partikularinteressen haben dort nicht in dem Maße das Sagen wie in den Zentren. Übergänge finden und Verbindungen herstellen kann nur, wer über einen erweiterten Blick verfügt. 


Ränder haben somit auch die Funktion, immer dort Ordnungen im Sinne von Schutz zu strukturieren, wo Grenzen fallen, man denke etwa an den Eisernen Vorhang, an dessen Stelle, freilich nur in Andeutung, das „Grüne Band“, eine Weltnaturerbe-Stätte gesetzt werden soll: Es handelt sich um ein Projekt für nachhaltige Regionalentwicklung jener 24 europäischen Länder, die nach wie vor durch Grenzen voneinander getrennt sind. Das „Grüne Band“ (Beitrag von Brigitte K. Macaria) zieht sich vom Norden Skandinaviens bis nach Griechenland, und der Blick darauf ist entscheidend: Ränder sind nicht als klar definierbar zu erkennen, sondern eher als überlagernde benachbarte Bereiche zu sehen, so die Herausgeber, als Erinnerungsräume auch, nur so kommt ihnen die Qualität eines Biotops, eines relativen Freiraums zu. 
Solche Biotope bzw. Freiräume brauchen wir, um Gegenwart und Zukunft zu gestalten, das ist eine der zentralen Botschaften dieses vielschichtigen, interdisziplinär zusammengestellten Buches. Es führt vor, wie herkömmliches Denken überwunden werden kann ohne dabei das Alte einfach über Bord zu werfen. Der Mut für Neues entwickelt sich in dieser Sicht aus dem Respekt für das Gegebene und Bewährte. 

Das Buch „Grenzen und Ränder“ lotet jene Hindernisse aus, die nie ganz beseitigt, aber in ihrer historischen Funktion verstanden und integriert werden können.

Die Herausgeber Maria und Michael Dippelreiter, sie ausgebildet in Pädagogik/Psychologie/Philosophie, er Historiker mit Schwerpunkt österreichische und regionale Zeitgeschichte, haben im Rahmen der Österreichischen Kulturvereinigung vierzehn Forscherinnen und Forscher aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zum 25. Wiener Kulturkongress eingeladen. Dieses Treffen der Wissenschaften wurde vergangenen Herbst durch einen coronabedingten Lockdown vereitelt. Dem bedauerlichen Faktum zum Trotz wurde umgehend an der Publikation der schriftlich eingelangten Beiträge gearbeitet: Die Palette reicht von sozialwissenschaftlichen und historischen Themen bis hin zu wirtschaftswissenschaftlichen und mehr politischen Schwerpunkten und sparen auch Umwelt, Kultur, Sprache, Psychologie oder Ethik nicht aus. Das bewusst breit angelegte Spektrum ermöglicht es Leserinnen und Lesern das Thema aus immer wieder neuem Blickwinkel zu reflektieren. Ein weiterer Lektüregewinn sind die zahlreichen Informationen auf der Sachebene, die dieses Buch enthält, denn neben einigen mehr philosophischen Beiträgen und der Auslotung des sehr spannenden Begriffsspektrums (Beiträge von Teresa Indjein, Alfred Pritz und Wilhelm Berger) wird vielfach auf konkrete Verhältnisse, auf ganz bestimmte Regionen, soziale Gruppen oder Ethnien fokussiert. Jeweils tiefgreifende Einblicke werden hier geboten, jedem Beitrag ist eine Literaturliste angefügt, die bei besonderem Interesse das weitere Studium nahe legt. Paulus Adelsgruber skizziert am Beispiel der Republik Moldau, was eine „Grenzgesellschaft“ charakterisiert. Roland Girtler fokussiert mit großem Respekt auf oftmals gering geschätzte Randkulturen und deren Rebellionspotential, auf Vagabunden, Ganoven, Dirnen, Wilderer und Landler. Andreas Weigl führt die Leserinnen und Leser in die mittelalterliche Stadt, außen von einer abwehrenden Mauer umgeben, innen wegen der Pestseuche von „Häusersperren“ gekennzeichnet. Nikolaus Reisinger betrachtet spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Städte und analysiert deren Möglichkeiten und Grenzen. Claudia Simscha lotet anhand des Phänomens Burnout die Grenzen der Leistungsgesellschaft oder anders gesagt: schlechter Arbeitsstrukturen aus. Welchen Vorurteilen und damit welchen Barrieren in Bildung und Chancen sind behinderte Menschen ausgesetzt und wie überraschend intelligent und begabt können sich solcherart ausgegrenzte Personen erweisen – dazu schreiben mit viel Empathie Rupert Corazza und Julia Honcik. Wichtig auch das Thema Armut und Reichtum am Beispiel Österreich, das landläufigen Fehleinschätzungen durch die Dokumentation von Zahlen und Fakten entgegenwirkt (Clemens Wallner und in der Verschriftlichung Maria Dippelreiter). Franz Salm-Reifferscheidt schließlich beleuchtet die Lebensweise der Roma und bietet Orientierung zur Frage, wie eine Integration mit Respekt aussehen könnte.
Wäre ein Leben ohne Grenzen ein besseres Leben? Wie vermeidet es eine Gesellschaft, dass der Rand stets nur von der Mitte aus definiert wird? Wie wirken Ränder auf Grenzen und die sogenannte Mitte? Was ändert sich, wenn wir erkennen, dass grenzenlose Möglichkeiten nicht nur utopisch, sondern auch gefährlich sind? Was aber unterscheidet nun die Ränder von den Grenzen genau? Wo braucht es Schutz? Wie begegnen wir Menschen symbolischen Grenzen und wie den unvermeidlich biologischen? Fragen wie diese können letztlich nicht definitiv beantwortet werden, doch es ist gut sie anzunähern und noch mehr: in ihrer tiefen Dimension zu erkunden und zu begreifen. Es sind Fragen, die in unserer Gegenwart mehr denn je Bedeutung haben. Das Buch „Grenzen und Ränder“ lotet jene Hindernisse aus, die nie ganz beseitigt, aber in ihrer historischen Funktion verstanden und integriert werden können. Es erzählt aber auch von der Möglichkeit der Überschreitung von anderen, fälschlicherweise für unüberwindbar gehaltenen Hindernissen. Es erzählt vom Respekt gegenüber den Rändern und vom Mut der Überwindung der einen oder anderen Grenze.